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DER MYTHOS VON DER »SOZIALISTISCHEN PLANUNG« IN RUSSLAND


Content:

Der Mythos von der »sozialistischen Planung« in Russland
Was ist Sozialismus?
Der sozialistische Plan
Tabelle 1 – Hauptindikatoren des 10. Fünfjahresplans
Wie sieht die russische Planung aus?
Tabelle 2 – Hauptziele des 10. Planes
Tabelle 3 – Entwicklung des 8., 9. und 10. Planes
Tabelle 4 – Verwirklichte Produktion im Vergleich zu den Planzielen
Tabelle 5 – Ergebnisse des 8. Planes
Tabelle 6 – Voraussagen Chruschtschows und Realisationen
Die Zersplitterung der Produktion und die kapitalistische Anarchie
Tabelle 7 – Durchschnittliche Struktur der russischen Industrieunternehmen 1973
Die »Restrukturierung« der russischen Industrie
Tabelle 8 – Wachstumsraten der russischen Industrie
Tabelle 9 – Anzahl der Arbeiter und Produktivität in der Industrie
Notes
Source


Anlässlich des 10. Fünfjahresplans:

Der Mythos von der »sozialistischen Planung« in Russland

Wenn es auch heute leicht ist festzustellen, dass 30 Jahre »Wohlstand« und ungehemmte Akkumulation den westlichen Kapitalismus nur wieder von neuem in den höllischen Krisenzyklus geführt haben, so sind doch die Wechselfälle des Kapitalismus in der östlichen und russischen Version noch durch den Mythos von der Abwesenheit der Krise im Osten, von der »sozialistischen Planung« und der sicheren Entwicklung verschleiert.

Das jämmerliche Schauspiel der Misere der russischen Landwirtschaft – einer Misere, die weder dem »Kommunismus«, wie es die westlichen Bourgeois glauben machen wollen, noch den »klimatischen Bedingungen«, wie es ihre russischen Kollegen weismachen wollen, sondern dem kapitalistischen Rückstand der Kolchoslandwirtschaft geschuldet ist – zeigt sehr gut, dass die sowjetische Wirtschaft von der Krise nicht verschont wird. Es ist sogar der amerikanische Kapitalismus, dessen Landwirtschaft selbst in dem Moment in Wohlstand schwelgt, wo die Industrie voll von der Krise betroffen ist, der Russland vor dem Hunger retten musste, während es angeblich in der reinen sozialistischen Gesellschaft lebt und im Begriff ist, »die materiellen Grundlagen für den Kommunismus zu schaffen«! Aber ein Mythos bleibt lebendig: der Mythos von der »sozialistischen Planung« der Industrie, von den hohen Wachstumsraten, die man mit Hilfe der Planung verwirklichen könne, und von der Gleichung, die die Grundlage der stalinistischen und nachstalinistischen Propaganda bildet: Sozialismus gleich Planung und beschleunigtes Wachstum. Die Mehrzahl jener, die heute den Betrug des sozialen Friedens und des westlichen »Wohlstands« einsehen, gehen nur in eine andere bürgerliche Falle: sie fordern nicht das Ende dieser bestialischen Epoche ungehemmter Akkumulation, sondern deren »Planung«, um… ein noch viel höheres Tempo der Akkumulation zu erreichen!

Deshalb ist es, selbst bevor man die Wirklichkeit der sogenannten »Planung« der russischen Industrie untersucht, unerlässlich, an eine elementare marxistische Wahrheit zu erinnern, die unter den Trümmern der stalinistischen Konterrevolution begraben wurde: der Sozialismus ist nicht durch masslose Wachstumsraten gekennzeichnet, er bemisst sich nicht an Ergebnissen kapitalistischer Wirtschaft, er ist kein Ultrakapitalismus!

Was ist Sozialismus?

Eine wirklich sozialistische Wirtschaft hat nichts zu tun mit der Produktion für die Produktion, mit dem »Übertreffen« der Pläne, mit dem ökonomischen Wettbewerb mit den Konkurrenten (welchem Konkurrenten?). Anstatt diese Ziele einer historisch überholten Epoche zu verfolgen, wird die sozialistische Produktionsweise danach streben, nicht nur für die Bedürfnisse der Menschen zu produzieren, sondern auch das Aufblühen dieser Menschen zu ermöglichen. Die sozialistische Produktionsweise wird danach streben, die Arbeitsanstrengungen zu erleichtern und alle vom Kapitalismus geerbten Makel zu vernichten (besonders die Arbeitsteilung), die die menschliche Arbeit an das Zuchthaus der Lohnarbeit im Dienste der Klassengesellschaft gefesselt haben. Das heisst, dass der Sozialismus nicht mit Hilfe stachanowscher Slogans und beschleunigter Akkumulation »aufgebaut« wird. Er wird im Gegenteil durch die endgültige Zerstörung – ausgeführt durch die Diktatur des Proletariats – der ökonomischen Gesetze und der sozialen Verhältnisse des Kapitalismus und also ihrer materiellen Grundlage, der kapitalistischen Produktionsverhältnisse, entstehen.

Der Sozialismus ist also gekennzeichnet durch das Verschwinden der ökonomischen Zellenform von Handel und Kapital, der Kategorie, mit der Marx die Darstellung seiner Theorie von der kapitalistischen Produktionsweise beginnt: des Wertes, Synonym für die private Aneignung des Produktes des Produktionsprozesses:
»Sobald die Gesellschaft sich in den Besitz der Produktionsmittel setzt und sie in unmittelbarer Vergesellschaftung zur Produktion verwendet, wird die Arbeit eines jeden, wie verschieden auch ihr spezifisch nützlicher Charakter sei, von vorneherein und direkt gesellschaftliche Arbeit. Die in einem Produkt steckende Menge gesellschaftlicher Arbeit braucht dann nicht erst auf einem Umweg festgestellt zu werden; die tägliche Erfahrung zeigt direkt an, wieviel davon im Durchschnitt nötig ist. Die Gesellschaft kann einfach berechnen, wieviel Arbeitsstunden in einer Dampfmaschine, einem Hektoliter Weizen der letzten Ernte, in hundert Quadratmeter Tuch von bestimmter Qualität stecken. Es kann ihr also nicht einfallen, die in den Produkten niedergelegten Arbeitsquanta, die sie alsdann direkt und absolut kennt, noch fernerhin in einem nur relativen, schwankenden, unzulänglichen, früher als Notbehelf unvermeidlichen Mass, in einem dritten Produkt auszudrücken und nicht in ihrem natürlichen, adäquaten, absoluten Mass, der Zeit. Ebensowenig wie es der Chemie einfallen würde, die Atomgewichte auch dann auf dem Umweg des Wasserstoffatoms relativ auszudrücken, sobald sie imstande wäre, sie absolut, in ihrem adäquaten Mass auszudrücken, nämlich in wirklichem Gewicht, in Billiontel oder Quadrilliontel Gramm. Die Gesellschaft schreibt also unter obigen Voraussetzungen den Produkten auch keine Werte zu«. (Engels, »Anti-Dühring«, MEW, Band 20; Einzelausgabe Dietz-Verlag, Seite 288)

Der Sozialismus kennt also die Marktkategorien nicht, die über die russische Wirtschaft herrschen. Er kennt nicht den Wert, weil es keine privaten Produkte, also keinen Austausch zwischen privaten Produzenten gibt. Die Produzenten brauchen den Tauschwert ihrer Produkte nicht zu kennen. Der Sozialismus kennt also weder den Markt, doch die Ware und noch weniger jene besondere Ware Geld. Er kennt weder Kauf noch Verkauf. Er kennt also nicht den Kauf/Verkauf der Ware Arbeitskraft, die Lohnarbeit, die für den Marxismus von der ersten Phase der kommunistischen Gesellschaft, dem Sozialismus, an aufgehoben ist. In dieser ersten Phase, die nach einem Ausdruck von Marx
»aus der kapitalistischen hervorgeht«, (…) »erhält [der individuelle Produzent] von der Gesellschaft einen Schein, dass er soundsoviel Arbeit geliefert (nach Abzug seiner Arbeit für die gemeinschaftlichen Fonds), und zieht mit diesem Schein aus dem gesellschaftlichen Vorrat von Konsumtionsmitteln soviel heraus, als gleich viel Arbeit kostet. Dasselbe Quantum Arbeit, dass er der Gesellschaft in einer Form gegeben hat, erhält er in der anderen zurück.« (Marx, »Kritik des Gothaer Programms«, MEW, Band 19, Seite 20).

Die Tatsache, dass die russische Wirtschaft alle Markt- und Kapitalkategorien kennt, die Tatsache, dass die russischen Arbeiter der Sklaverei der Lohnarbeit unterworfen sind, genügt, die russische Wirtschaft als kapitalistische zu kennzeichnen. Wir haben in unseren Parteiarbeiten (siehe Anmerkung 19) umfassend gezeigt, dass sie niemals aufhörte, kapitalistisch zu sein, und das Lenin selbst dies offen zugab (was die Oktoberrevolution und die Macht, die aus ihr hervorging, nicht daran hinderte, wahrhaft kommunistisch zu sein). Um ihre wahre Natur zu verschleiern, hat die stalinistische Konterrevolution die unsinnige Theorie erfunden, dass der Sozialismus mit den Marktkategorien vereinbar sei, dass er durch dieselben Kategorien wie der Kapitalismus gekennzeichnet sei, aber… mit einem anderen Inhalt! Als ob die Kategorien nicht gerade durch ihren Inhalt bestimmt werden; als ob dieser Inhalt nicht so unwiderruflich der Inhalt der kapitalistischen Kategorien wäre, dass sich dieselben Begriffe aufzwingen, um ihn zu benennen! Dieses konterrevolutionäre Argument hat übrigens schon Dühring benutzt und Engels hat es unverblümt zurückgewiesen!

»Die kapitalistische Produktionsform abschaffen wollen durch Herstellung des ›wahren Werts‹, heisst daher den Katholizismus abschaffen wollen durch die Herstellung des ›wahren‹ Papstes oder eine Gesellschaft, in der die Produzenten endlich einmal ihr Produkt beherrschen, herstellen durch konsequente Durchführung einer ökonomischen Kategorie, die der umfassendste Ausdruck der Knechtung der Produzenten durch ihr eigenes Produkt ist.« (Engels, »Anti-Dühring«, MEW, Band 20, Dietz-Einzelausgabe, Seite 289)

Die Verfälschung des Stalinismus war noch schlimmer: Sie hat den »sozialistischen« Wert eingeführt, was nicht nur die Unterdrückung des Produzenten, sondern auch die Vernichtung des Marxismus bedeutet.

Der sozialistische Plan

Aus dem Gesagten geht hervor, dass der Plan in der sozialistischen Gesellschaft sich nicht – wie der russische Plan – mit Wert, noch weniger mit Geld oder Rentabilität von Investitionen beschäftigt! Er befasst sich nur mit Gebrauchswerten, mit der Nützlichkeit der Produkte und mit der notwendigen Zeit, sie herzustellen:
»Allerdings wird auch dann die Gesellschaft wissen müssen, wieviel Arbeit jeder Gebrauchsgegenstand zu seiner Herstellung bedarf. Sie wird den Produktionsplan einzurichten haben nach den Produktionsmitteln, wozu besonders auch die Arbeitskräfte gehören. Die Nutzeffekte der verschiedenen Gebrauchsgegenstände, abgewogen untereinander und gegenüber den zu ihrer Herstellung nötigen Arbeitsmengen, werden den Plan schliesslich bestimmen. Die Leute machen alles sehr einfach ab ohne Dazwischenkunft des vielberühmten ›Werts‹.« (Engels, »Anti-Dühring«, Einzelausgabe Dietz-Verlag, Seite 288).

Der Sozialismus ist folglich nicht nur unvereinbar mit dem Geld, sondern auch mit der dummen kapitalistischen Erfindung, dass es die gesamte Wachstumsrate der Produktion sei, die in Russland wie im Westen die lebensnotwendigen Dinge und die Rüstung, die nützlichen Konsumtionsgüter und die sozial am wenigsten ins Gewicht fallenden Luxusgüter mit demselben Massstab erfasst. Selbst wenn sie sich nicht direkt in Geld ausdrückt, setzt die Wachstumsrate in der Tat den Wert und das Geld voraus, weil das einzige Mittel, um zwei Gesamtproduktionen (die tausend verschiedene Produkte, von der Brotscheibe bis zu Werkzeugmaschinen umfassen) zu vergleichen, das vergleichen ihrer Werte ist, und diese können sich nur in Geld ausdrücken. Ohne den Wert, die einzige universelle Masseinheit der verschiedenen Gebrauchswerte, ohne das Geld, die einzige universelle Masseinheit des Wertes, gibt es kein Mass, keinen möglichen Vergleich, und also keine Wachstumsrate der Produktion! Das einzige, was die sozialistische Gesellschaft insgesamt wird messen können, ist die Anzahl der Arbeitsstunden, die von der Menschheit zur Produktion ihrer Lebensbedingungen aufgewandt werden muss. Aber diese Anzahl stellt sich dar als ihre Abnahmerate, als die Erleichterung der produktiven Anstrengung der Menschheit, die man vielleicht von einem aufs andere Jahr aus Spass messen könnte – oder der Sozialismus hätte keinen Sinn! Aber welchen Sinn, welches Interesse könnte für eine sozialistische Gesellschaft darin bestehen, die gesamte Produktion von Gütern aller Arten des einen oder anderen Jahres miteinander zu vergleichen? Ihre Produktion ist nur – wie Engels es ausdrückt – von der Nützlichkeit der verschiedenen Dinge und der Quantität der zu ihrer Produktion notwendigen Arbeit geleitet: die einzige Wachstumsrate, die materiell zum Gegenstand einer Messung genommen werden könnte, würde sich ausschliesslich auf die tatsächliche Produktion jedes Gebrauchswertes beziehen. Aber welchen Sinn hätte das? Wenn der Bedarf der Menschen an Fahrrädern sich auf 50 Millionen im Jahre n und 54 Millionen im Jahre n + 1 beläuft, so muss der Plan diese Produktion organisieren: aber welchen Sinn hätte es, sich einer Wachstumsrate von 8 % in Bezug auf die Produktion von Fahrrädern zu rühmen? Welchen Sinn hätte es, diese Rate zu übertreffen, wenn das nicht den Bedürfnissen der Menschheit entspräche? Welchen Sinn hätte es, immer mehr Fahrräder produzieren zu wollen, wenn man daraus keinen Profit schlagen kann, wenn es keine Märkte gibt, die man den anderen Konkurrenten – die nicht mehr existieren – abjagen kann, wenn es keinen Mehrwert gibt, den man den anderen Kapitalisten streitig machen könnte? Wenn man feststellt, dass der Bedarf der Menschheit an Privatfahrzeugen abnehmen muss, so muss der Plan die Reduktion der Produktion organisieren: aber welchen Sinn hätte es sich über eine negative Wachstumsrate zu beklagen? Welchen Sinn hätte es, sich dieser Entwicklung entgegenzustellen und künstlich neue Bedürfnisse wachzurufen, um für die unabhängigen Unternehmen (die verschwunden sind) finanzielle Verluste und Konkurse zu verhindern, die es nicht mehr gibt?

Neben dem Warenfetisch, dem Geldfetisch und allen Ableitungen ist die Wachstumsrate nur einer der Fetische der Religion »Produktion für die Produktion«, die den Kapitalismus – und nur ihn! – bestimmt. Der Plan der sozialistischen Gesellschaft kennt weder Waren noch Geld noch Wachstumsraten.

Und der russische Plan? Die nachfolgende Tabelle 1 (veröffentlicht in der »Prawda«) fast die »Hauptindikatoren« des 10. Fünfjahresplans (1976–1980) zusammen, die von Kossygin auf dem 25. Kongress der KPdSU angekündigt wurden. Welche Götter rufen diese »Hauptindikatoren« an? Den Gott des Wertes, den Gott des Rubels und den Gott der Wertschöpfung – diese Fetische, die alle kapitalistischen Staaten der ganzen Welt verehren. Der russische »Plan« wird durch Waren, Geld und Wachstumsrate bestimmt. Wir brauchen nicht fortzufahren um festzustellen: der russische »Plan« ist von A bis Z kapitalistisch, er enthält nicht ein Gramm Sozialismus.

Tabelle 1 – Hauptindikatoren des 10. Fünfjahresplans
 
  1975 1980
(Projektion)
Wachstum
(in Milliarden Rubel)
1976–1980 in %
im Verhältnis zu 1974
nationales Einkommen
(Preise von 1973)
362 449–462 87–100 24–28
davon:
Konsumtionsfond
266 337–344 71–78 27–29
Akkumulationsfond 96 112–118 16–22 17–23
industrielle Produktion (Preise vom 1. Juli 1967) 523 710–729 187–206 35–39
davon: Gruppe a
(Produktionsgüter)
380 524–540 144–160 38–42
Gruppe b
(Konsumtionsgüter)
143 186–189 43–46 30–32
landwirtschaftliche Produktion (jährlicher Durchschnitt der fünf Jahre, Preise von 1965) 91 104–106 13–15 14–17

Quelle: Rede Kossygins auf dem 25. Kongress der KPdSU, 1. März 1976, »Prawda« vom 2. März 1976.

 

Wie sieht die russische Planung aus?

Nach dieser unerlässlichen Rückbesinnung auf marxistische Wahrheiten wenden wir uns nun dem Mythos der Planung zu. Angesichts der Anarchie und der Pleite der russischen Landwirtschaft braucht man sich nicht weiter damit aufzuhalten zu beweisen, dass es nicht die geringste Planung in der landwirtschaftlichen Produktion gibt, dass sie den Gesetzen des Marktes vollständig ausgeliefert ist, welche der Staat mehr schlecht als recht zu beeinflussen versucht (er versucht es in allen westlichen kapitalistischen Ländern durch Festsetzung der Preise für die Hauptprodukte, Subventionen, Hortung der Produkte, Kreditgebung etc.). Wir begeben uns also auf das Gebiet der industriellen Produktion. Der 10. Fünfjahresplan (1976–1980), der kürzlich auf dem 25. Kongress der KPdSU angenommen wurde, sieht für 1980 eine industrielle Produktion im Werte von 720 Milliarden Rubel vor, was eine Steigerung von 37 % im Verhältnis zu 1975 bedeutet. Genau wie zum Beispiel der französische Plan setzt der russische mengenmässige Ziele für die Hauptproduktionsbereiche. Die wesentlichen haben wir in Tabelle 2 aufgeführt.

Tabelle 2 – Hauptziele des 10. Planes
 
Produktionsbereich 1975 produziert 1980 Ziel Wachstum in %
Stahl
(Millionen Tonnen)
141 165 + 17
Kohle
(Millionen Tonnen)
701 800 +14
Erdöl
(Millionen Tonnen)
491 630 +28
Gas
(Milliarden Kubikmeter)
289 418 +44
Elektrizität
(Milliarden Kilowattstunden)
1038 1360 +31
Düngemittel
(Millionen Tonnen)
90 143 +59
Traktoren
(in 100)
550 590 +7
Kraftfahrzeuge
(in 1000)
1964 2150 +9
Zement
(Millionen Tonnen)
122 145 +19
Quellen: Angaben für 1975: »Ekonomitcheskaya Gazeta« Nr. 6, Februar 1976; Ziele für 1980: »Prawda«, 2. März 1976, EG Nr. 22, März 1976

 

Die Existenz dieser »Ziele«, die in Reden und in der offiziellen Presse selbstgefällig kommentiert werden, macht einen guten Teil des Mythos von der russischen Planung aus. Aber in Wirklichkeit planen diese Ziele überhaupt nichts, denn sie sind im allgemeinen nur die Projektion von in der Vergangenheit festgestellten Tendenzen. Der sogenannte Planer hat keinen Einfluss auf die Dynamik der Produktion: anstatt Herr über die Wirtschaft zu sein, beobachtet er sie nur mehr schlecht als recht und versucht vorherzusehen, in welche Richtung sie sich entwickelt. Er setzt nicht die Produktion fest, sondern… den Index im Bezug auf vorherige Tendenzen. Dies beweist die Entwicklung des 8., 9. und 10. Fünfjahresplans, was die absoluten Hauptproduktionsziele betrifft. Diese Entwicklung ist in der Tabelle 3 zusammengefasst: für jedes Produkt werden die geplante Wachstumsrate aus dem 8. Plan (1966–1975), die tatsächlich realisierte Rate, die geplante Wachstumsrate aus dem 9. Plan (1971–1975), die tatsächlich verwirklichte Rate und schliesslich die geplante Wachstumsrate aus dem 10. Plan (1976–1980) nebeneinandergestellt.

Tabelle 3 – Entwicklung des 8., 9. und 10. Planes (Wachstum in %)
 
  geplant 1966–70 verwirklicht 1966–70 geplant 1971–75 verwirklicht 1971–76 geplant 1976–80
Stahl +39 +27 +26 +21 +17
Kohle +16 +8 +11 +12 +14
Erdöl +45 +45 +39 +40 +28
Gas +73 +54 +55 +41 +44
Elektrizität +66 +46 +42 +40 +31
Düngemittel +108 +77 +63 +63 +59
Traktoren +73 +29 +25 +20 +7
Kraftfahrzeuge +132 +48 +125 +114 +9
Zement +41 +31 +31 +28 +19
Quellen: Quellen von Tabelle 2 sowie: »Prawda« vom 10. April 1966 und 7. April 1971 (für die Planungen) und »Narodnoe Khoziajstvo SSSR« (für die Realisation).

 

Studieren wir diese Tabellen Zeile für Zeile: für die meisten Produktionszweige können wir eine Reihe von abnehmenden Zahlen feststellen: für Stahl zum Beispiel »setzt« der 8. Plan ein Wachstum Ziel von plus 39 Prozent in fünf Jahren; dieses Ziel wird nicht erreicht (nur plus 27 Prozent realisiert). Der nächste Plan setzt wohlweislich ein neues Ziel fest, dass niedriger als die Realisation des vorherigen Plans liegt (plus 26 Prozent). Selbst dieses neue Ziel wird nicht erreicht (nur plus 21 Prozent realisiert). Der folgende Plan legt erneut ein neues Ziel fest, dass niedriger als die Realisation des vorherigen ist. Dies gilt für Stahl, Elektrizität und Traktoren. Für Petroleum, Düngemittel und Zement scheint das Planziel erreicht zu sein, aber die Tendenz bleibt die gleiche: in sechs von neun Fällen »plant« der Plan überhaupt nichts, er registriert und überträgt nur die Tendenz des abnehmenden industriellen Wachstums. In drei von neun Fällen (Kohle, Gas, Kraftfahrzeuge) ist die Reihe – bei einer unverkennbar allgemeinen Abnahme – eigenwillig und scheint der Ausdruck eines effektiven Staatswillens zu sein. Aber um welche Produkte handelt es sich? Um Kohle, deren Produktion man anzukurbeln versucht, weil deren Preis weltweit stark gestiegen ist und weil die Ausfuhr von Kohle Devisen einbringen kann ohne neue technische Anstrengungen (im Gegensatz zu Erdöl), um Gas, wofür wichtige Lieferverträge mit den USA und Deutschland abgeschlossen wurden, um Kraftfahrzeuge, wofür die Fabriken von westlichen kapitalistischen Staaten importiert, installiert und schlüsselfertig übergeben wurden. Kurz, wenn die russische Wirtschaft »geplant« wird, dann… vom Weltmarkt!

Tabelle 4 – Verwirklichte Produktion im Vergleich zu den Planzielen (in %)
 
  V. Plan
1951–55
VI. Plan
1956–60
VII. Plan
1959–65
VIII. Plan
1966–70
IX. Plan
1971–75
Stahl +3 -4 +3 -8 -3
Kohle +5 -14 -5 -7 ==
Erdöl == + 3 +3 == ==
Gas -7 +18 -14 -15 -9
Elektrizität +4 -9 == -12 ==
Düngemittel -7 -29 -11 -14 ==
Traktoren +25 -26 - -25 -4
Kraftfahrzeuge +2 -19 -13 -36 -4
Zement == -18 -7 -7 -2
Quellen: Berechnung nach den Daten aus: »Prawda«, 20. August 1952, 15. Januar 1956, 8. Februar 1959 und Quellen der vorherigen Tabellen. Das Zeichen == bedeutet, dass der Plan zu ca. +/- 1 % verwirklicht wurde.

 

Wenn der russische Plan in den meisten Fällen nur die Tendenz der ihrer eigenen Dynamik unterworfenen Produktion registriert und überträgt, kann ausserdem die Voraussage dieser Tendenz kaum besser als in den westlichen kapitalistischen Ländern funktionieren. Um sich davon zu überzeugen, genügt es, die Resultate der fünf letzten Pläne zu studieren, die in der Tabelle 4 zusammengefasst sind. Die Planziel für die neun wichtigsten Produktionszweige werden bei den fünf nebeneinander gestellten Plänen nur acht Mal verwirklicht (+/- 1 %). Neunmal werden sie übertroffen – aber Übererfüllung des Planes bedeutet verstärkte Akkumulation, Stachanowismus, intensive Ausbeutung der Arbeiterklasse, das völlige Gegenteil von Sozialismus! Schliesslich werden die Planziele… 27 mal nicht erreicht, wobei der Rückstand bis zu 36 % beträgt (514 000 Kraftfahrzeuge weniger als geplant!). Und diese Zahlen führen überdies nur die wichtigsten Produktionsbereiche auf: man stelle sich vor, wie es unter diesen Bedingungen für die anderen Produkte aussehen muss, für die die Kombination von Engpässen zur Verstärkung der Desorganisation und des Rückstandes bedeuten kann! Das beweist, was die »Planung« bedeutet: die russische Wirtschaft wird vollständig von der Anarchie der kapitalistischen Warenproduktion beherrscht.

Das aufmerksame Studium der offiziellen Angaben offenbart ausserdem, dass die Statistiker nicht zögern – genau wie ihre westlichen Kollegen –, die Daten zu manipulieren, um diese Anarchie zu verschleiern. Der jüngste offenkundigste Fall betraf den 8. Fünfjahresplan (1966–70).

Tabelle 5 – Ergebnisse des 8. Planes
 
  Ziel für 1970 verwirklicht 1970 Rückstand absolut Rückstand in %
Stahl (Millionen Tonnen) 126,5 116 -10,5 -8
Kohle (Millionen Tonnen) 670 624 -46 -7
Erdöl (Millionen Tonnen) 350 349 -1 ==
Gas (Milliarden Kubikmeter) 233 198 -35 -15
Elektrizität (Milliarden Kilowattstunden) 840 741 -99 -12
Düngemittel (Millionen Tonnen) 64 55 -9 -14
Traktoren (1000) 612 458 -154 -25
Kraftfahrzeuge (in 1000) 1430 916 -514 -36
Zement (Millionen Tonnen) 102 95 -7 -7
Quellen: siehe Tabelle 3

 

Das mildeste, was man sagen kann, ist, dass die Resultate dieses Planes, deren wichtigste in der Tabelle 5 zusammengefasst sind, kläglich sind: gegenüber den Zielen ein Minus von 10,5 Millionen Tonnen Stahl, 46 Millionen Tonnen Kohle, 35 Milliarden Kubikmeter Gas, 99 Milliarden Kilowattstunden Elektrizität, 9 Millionen Tonnen Düngemittel, 154 000 Traktoren, 514 000 Kraftfahrzeuge, 7 Millionen Tonnen Zement. Nun, durch ein Wunder, wie es nur im Sozialismus »made in Moskau« geschehen kann, geben die russischen Führer zur gleichen Zeit, wo alle wesentlichen Ziele bei beträchtlichem Minus nicht erreicht wurden, bekannt, dass in dieser selben Periode das Wachstum der industriellen Produktion den Plan übertroffen hat, es ja 50 % in fünf Jahren statt der geplanten 48,5 Prozent erreicht hätte[1]. Dieses Kunststück mag verblüffen, aber es steht nur in der Kontinuität der stalinistischen Periode. Die Tatsache selbst, dass der 9. Plan (1971–1975) bei eindeutig weniger empfindlichem Rückstand (dank der bescheidenen Ziele) ein leichtes Minus gegenüber den Wachstumszielen der industriellen Produktion (43 % statt der geplanten 44 %)[2] verzeichnet hat, bedeutet ein stillschweigendes Eingeständnis der Fälschung. Es ist eben leichter, Raten zu planen, als die kapitalistische Anarchie zu planen!

Wenn wir von den Fünfjahresplänen, das heisst von den mittelfristigen Plänen, zu Zielen über 10 oder 20 Jahre übergehen, wird die Lächerlichkeit der Voraussagen und der russischen Planung noch jämmerlicher. Die Tabelle 6 fasst das Schicksal der von Chrustschow 1961 für die Jahre 1970 und 1980 gemachten beiden berühmten Voraussagen zusammen. Seit 1965 war es offensichtlich, dass die für 1970 gesetzten Ziele nicht erreicht werden würden, und der 8. Fünfjahresplan hat »die Linie berichtigt« und die Ziele merklich herabgesetzt (vgl. Tabelle 5), was dennoch klägliche Resultate nicht verhindert hat. Insgesamt bewegt sich das Minus im Vergleich zu den Zielen Chruschtschows zwischen 10 und 68 %. Und mehr als die Hälfte der Ziele, die 1971 verwirklicht werden sollen, waren 1975, 5 Jahre später immer noch nicht erfüllt. Mit den offiziellen Zielen von 1980 ist das Minus noch gewachsen: bis auf eine Ausnahme liegen die Ziele des 10. Fünfjahresplanes im Vergleich zu denen Chruschtschows um 10 bis 71 % niedriger (so wird für die Produktion von Elektrizität 1980 nicht einmal die Hälfte erwartet von dem, was Chrustschow veranschlagte!). Oh Wunder der russischen Planung!

Tabelle 6 – Voraussagen Chruschtschows und Realisationen
 
  Voraussage für 1970 verwirklicht 1970 Rückstand in % Voraussage für 1980 Planziel für 1980 Differenz in %
Stahl 145 116 -20 250 165 -34
Kohle 693 624 -10 1190 800 -33
Erdöl 390 349 -10 700 630 -10
Gas 317 198 -37 700 418 -40
Elektrizität 59 741 -22 2850 1360 -52
Düngemittel 77 55 -28 130 143 +10
Kunststoffe 5300 1673 -68 20 000 5680 -71
Zement 122 95 -22 234 145 -38
Quellen: Rede Chruschtschows auf dem 22. Kongress der KPdSU, 18. Oktober 1961, »Prawda« vom 19. Oktober 1961 (für die Voraussagen für 1970 und 1980) und Quellen der vorherigen Tabellen. Diese Voraussagen enthalten nicht die Traktoren und Kraftfahrzeuge. Kunststoffe in 1000 Tonnen.

 

Die Zersplitterung der Produktion und die kapitalistische Anarchie

Wie sind diese bitteren Misserfolge der sogenannten »Planer« zu erklären? Die Antwort kommt für Marxisten ohne Zögern: durch die kapitalistische Anarchie der Warenproduktion, die einer Ökonomie entspricht, in der die Unternehmen – welches auch immer die juristische Eigentumsform ist – allen Gesetzen des Kapitals unterworfen und durch den Markt aneinander gebunden sind. Aber hat nicht Engels selbst behauptet, dass sogar in der kapitalistischen Warenwirtschaft die Abwesenheit eines Plans in gewissem Masse durch eine geplante Produktion ersetzt werden kann[3]? Warum ist das dann nicht der Fall in Russland? Weil in Russland genau die Bedingungen fehlen, die es ausdrücklich für das beginnende Auftreten einer solchen Planung angibt: die Konzentration und die Monopole.

Tabelle 7 – Durchschnittliche Struktur der russischen Industrieunternehmen 1973
 
Anzahl der Arbeiter Anzahl der Unternehmen Prozentsatz der Unternehmen Anteil an der Gesamtproduktion in %
weniger als 100 16 500 35 % 4,2 %
100 – 500 20 000 42,3 % 19,9 %
500 – 1000 5300 11,3 % 14,4 %
1000 – 2000 3960 8,4 % 25,9 %
3000 – 10 000 1180 2,5 % 24 %
mehr als 10 000 140 0,3 % 11,6 %
Quelle: Angaben aus »Narodnoe Khoziajstvo SSSR«, 1973. Die Statistik bezieht sich nur auf ungefähr 47 200 Fabriken; die Produktion von Elektrizität wird in der offiziellen russischen Quelle ausgeklammert.

 

In einer Wirtschaft, wo die Produktion unter zehntausenden von autonomen Unternehmen aufgeteilt ist, wovon jedes als ein Zentrum kapitalistischer Akkumulation bei eigener Rechnung und finanzieller Autonomie arbeitet, (egal, ob der juristische »Eigentümer« der Staat, das Volk oder Gottvater ist) kann die Produktion nur durch den Markt reguliert werden, nicht durch einen zentralen Plan. Am 1. Januar 1974 zählte die russische Industrie 48 578 autonome Staatsunternehmen[4].

Es muss noch gesagt werden, dass diese Zahl weder die Baubranche noch die offiziell bestehenden Handwerksbetriebe und vor allem nicht die tatsächlich existierenden Kleinunternehmen betrifft, die unvermeidlich auf der Grundlage des Marktes und der Lohnarbeit entstehen, und deren Existenz indirekt von der sowjetischen Presse zugegeben wird: kleine Autowerkstätten, Reparaturwerkstätten aller Art, Installationsbetriebe etc.. Die Verteilung der staatlichen Industrieunternehmen nach Grössenordnung (in Bezug auf die Zahl der Arbeiter) gibt die Tabelle 7 an. Trotz der Unzulänglichkeit der Statistik findet man in der Struktur der russischen Industrie leicht ein Charakteristikum aller kapitalistischen Industriestrukturen wieder: die Existenz einer grossen Anzahl von kleinen und mittleren Unternehmen (die auf der Basis des Marktes entstehen und sich nach und nach entwickeln), überragt von einer eindeutig kleineren Anzahl Grossunternehmen und einer Handvoll riesiger Unternehmen. Aber der Teil der gesamten industriellen Produktion, der durch die grössten Unternehmen gesichert wird, ist in Russland (wo die Unternehmen allein durch die Grösse ihrer Belegschaft »riesig« sind) noch viel kleiner als im Westen; die Produktion verteilt sich stärker auf die weniger grossen Betriebe. Mit anderen Worten, die russische Industrie ist viel weniger konzentriert als die der westlichen kapitalistischen Staaten – das ist das »Grossartige« an einer Wirtschaft, die sich angeblich auf dem Weg zum Sozialismus befindet! Zwei Daten genügen, um die Schwäche dieser Konzentration zu illustrieren: nach Tabelle 7 wurden 1973 61,5 % der russischen industriellen Produktion von 5300 Grossunternehmen geleistet (Summe der drei untersten Reihen der Tabelle). In den USA wurde im selben Jahr ein etwas grösserer Teil der Industrieproduktion (65 %) von nur 500 Unternehmen erbracht. Eine andere Tabelle der russischen Jahresstatistik zeigt uns (immer für 1973), das 31,1 % der industriellen Produktion von 1,4 % der Unternehmen (= 660) erbracht wurden. In den USA wurde der gleiche Prozentsatz der Produktion (31 %) von 50 Unternehmen erbracht![5] Die relative Schwäche der Konzentration der russischen Industrie springt ins Auge. Die Struktur der amerikanischen Industrie eignet sich viel besser als die der russischen für die Planung!

Die »Restrukturierung« der russischen Industrie

Diese Zersplitterung beunruhigt die russischen »Manager«, nicht weil sie Planung verhindert, sondern weil sie die Konstituierung einer wirklich entwickelten kapitalistischen Industrie mit wirklich konkurrenzfähigen Unternehmen behindert, die eines Tages mit denen der anderen kapitalistischen Länder rivalisieren könnten. Einer der Wortführer dieser Manager, der Akademiker Aganbegian, erklärte kürzlich, dass
»es nur Sinn hat, den Unternehmen mehr Autonomie zu geben, wenn Unternehmen existieren, die diese Bezeichnung verdienen. Die sowjetischen Unternehmen sind klein und schwach (…) es existieren zum Grossteil Fabriken, die durchschnittlich 600 Arbeiter beschäftigen. Sie müssen konzentriert werden: von heute 49 000 auf etwa 5000«[6].

Unter dieser Zielsetzung hat der Staat eine »Restrukturierung« der russischen Industrie unternommen, die mit der Reform von 1973 die Schaffung von »Industrieverbänden« allgemein durchsetzen soll, an der seit mehreren Jahren experimentiert wurde. Das offizielle Ziel dieser Reform ist es,
»die Hauptproduktionsbereiche einer gegebenen Branche mehr zu konzentrieren (…), um eine merkliche Steigerung der Arbeitsproduktivität, die Erhöhung der Qualität, die Senkung der Produktionskosten und die Entwicklung anderer ökonomischer Faktoren zu sichern«[7].

Die horizontale Konzentration oder die vertikale Integration werden also verwirklicht durch ganz bestimmte Operationen – unter welcher juristischen Fiktion auch immer –, nämlich durch Fusionen und Absorbierungen von Unternehmen wie sie in den westlichen Ländern gang und gäbe sind, mit denselben Zielen: vor allem den Zielen der Profiterhöhung (»die Rentabilität der Produktion steigern«) und der Möglichkeit, die Konkurrenzfähigkeit auf dem Weltmarkt auf Zeit zu sichern
(»den Start neuer Produktionen zu sichern, die geeignet sind, aufgrund ihrer technischen und ökonomischen Massstäbe mit den besten sowjetischen und ausländischen ihrer Art zu konkurrieren und sie sogar zu überholen«)[8].
Es ist nicht schwer, die gleichen Auswirkungen für die Arbeiterklasse, besonders im Bezug auf Entlassungen, vorherzusehen. 1974 gab es über 1500 industrielle Verbände mit mehr als 6000 vormals selbständigen Unternehmen und Produktionseinheiten[9], und gemäss der Rede Kossygins auf dem 25. Kongress belief sich die Zahl der Verbände Anfang 1976 auf 2300.

Gleichzeitig versucht dieser Reform, die Unternehmen von den letzten zentralen Planungsversuchen zu befreien, die sich in einer schwerfälligen und kostspieligen bürokratischen Bevormundung ausdrücken und die (ohne irgendetwas zu »planen«), nur das Ergebnis haben, ihre »Managements« zu behindern:
»Die Ministerien und Verwaltungsbehörden (…) werden in der Industrie die Vielzahl der Stufen in der sektoriellen Verwaltung reduzieren müssen (…), damit die Mehrzahl der wirtschaftlichen Fragen direkt im Unternehmen, im Kombinat oder im Industrieverband geregelt werden«[10].

Tabelle 8 – Wachstumsraten der russischen Industrie
 
Zeitraum Plan Wachstumsrate
(jährlicher Durchschnitt)
1922–1928 vor den Plänen 23 %
1929–1932 1. Plan 19,3 %
1933–1937 2. Plan 17,1 %
1938–1940 3. Plan (3 Jahre) 13,2 %
1941–1945 Krieg -
1946–1950 4. Plan 13,5 %
1951–1955 5. Plan 13 %
1956–1961 6. Plan 10,4 %
1961–1965 7. Plan (7-Jahres-Plan 1959–1965) 8,6 %
1966–1970 9. Plan 7,4 %
1976–1980 10. Plan (Voranschlag) 6,5 %
Quellen: Berechnungen nach den Daten aus »Narodnoe Khoziajstvo SSSR«, verschiedene Jahre, und Quellen von Tabelle 2.

 

Erinnern wir uns daran, dass sie russischen Statistiker selbst gezwungen waren, die Angaben für die Periode vor 1940 zu berichtigen (und zwar niedriger anzugeben), die im Sinne der stalinistischen Propaganda gefälscht worden waren. So gab Stalin in seinem Bericht auf dem 17. Kongress der russischen KP am 26. Januar 1934 triumphierend an, dass der Index der industriellen Produktion von 100 im Jahre 1913 auf 391,9 im Jahre 1933 gestiegen wäre (Josef Stalin, »Die Fragen des Leninismus«, Paris, Seite 136). Auf dem folgenden Kongress, am 10. März 1939, gab der »Vater der Völker« (immer bei einem Index von 100 für 1913) für das Jahr 1933 einen Index von 380,5 an (also eine geringe Korrektur) und einen Index von 908,8 für das Jahr 1938. Aber die im offiziellen russischen Jahrbuch (»Narodnoe Khoziajstvo SSSR«) veröffentlichten Zahlen offenbarten, dass die von Stalin als für die Gesamtheit der industriellen Produktion geltenden präsentierten Indizes tatsächlich nur die Grossindustrie repräsentierten, die schneller akkumuliert: für die gesamte Industrie galten folgende Indizes (1913=100): 281 für 1933 und 657 für 1938. Stalins Angaben waren also mehr als ein Drittel überhöht.

Diese neuen Angaben mussten ihrerseits ab 1961 berichtigt werden, weil sie bis dahin »vergessen« hatten, die Produktion der von der russischen Armee 1939 besetzten und endgültig 1945 erworbenen Territorien einzubeziehen (diese Territorien entsprechen etwa dem heutigen Republiken Estland, Lettland, Litauen und Moldawien): der Index (Basis: 1913 = 100) wurde für das Jahr 1940 von 852 (alte Angabe) auf 769 (neue Angabe) gesenkt. Diese neuen Angaben sind zur Zeit im offiziellen Jahrbuch in Kraft; sie geben für 1974 einen Index von 12 200 an, der sich 1975, auf der Grundlage der in der russischen Presse veröffentlichten Zahlen, auf 13 100 erhöhen sollte (»Ekonomitcheskaya Gazeta«, Nr. 6, Februar 1976). Aber das Jahrbuch legt jetzt eine bemerkenswerte verschämte Zurückhaltung bezüglich der Indizes der industriellen Vorkriegsproduktion an den Tag: es werden keine Angaben für den ganzen Zeitraum von 1913 bis 1940 gemacht!

Für eine ausführliche Untersuchung aller Fünfjahrespläne, ihre Ergebnisse, Fälschungen und Berichtigungen der Indizes, sowie für die Untersuchung dieser Pläne je nach Wirtschaftszweig für die Phasen und Kurven der Wirtschaftsentwicklung usw. siehe die Reihe »Manea all’appuntamento dell’80 la ›superpianificata‹ industria russa« in: »Il Programma Comunista«, Nr. 1 und Nr. 2, Januar 1976 und »L’industria russa nel ciclo dell’accumulazione postbellica«, ebenda, Nr. 5, 6,7, März/April 1976.

Konzentration der Unternehmen und Verminderung der bürokratischen Hindernisse bis hin zu einer »normalen« kapitalistischen Verwaltung[11] sind sicher zwei notwendige Bedingungen, obgleich sie allein nicht ausreichend sind für die Modernisierung eines Kapitalismus, der sich gegenüber seinen westlichen Kollegen noch im Rückstand befindet. Die Restrukturierung der industriellen Unternehmen ist in der Tat Ausdruck einer fundamentalen Notwendigkeit des russischen Kapitalismus: es geht um die Erreichung einer grösseren Produktivität und somit einer verschärften Ausbeutung der Arbeiterklasse, einmal um die abnehmende Tendenz des Wirtschaftswachstums zu bekämpfen und um Unternehmen zu schaffen, die eines Tages im internationalen Rahmen konkurrenzfähig sein können. Wir haben diese Abnahme des Wachstums bestimmter Hauptproduktionsbereiche bereits gezeigt (siehe Tabelle 3). Die Zahlen von Tabelle 8 veranschaulichen diese Tatsache in ihrer ganzen historischen Dimension: in einem Vierteljahrhundert ist die Wachstumsrate um die Hälfte geschrumpft, und ihre Abnahme setzt sich ständig fort.

Diese Abnahme hat vollkommen die Voraussage bestätigt, die in unseren Parteiarbeiten vor 20 Jahren[12] gemacht wurden, als wir – um die Lüge der stalinistischen These zu entlarven, die in den hohen Wachstumsraten jener Epoche den Beweis für den angeblichen russischen »Sozialismus« sah – bewiesen, dass dieses rasche Wachstum für alle jungen kapitalistischen Länder charakteristisch ist, und dass die Abnahme des Wachstums ein unvermeidliches historisches Gesetz des alternden Kapitalismus ist. Der russische Kapitalismus hat dieses Gesetz nicht umgestossen. Folglich war es normal, dass die russische Industrie (ausgehend von einem sehr niedrigen Entwicklungsstand und dazu durch die Zerstörungen des Bürgerkriegs geschwächt) eine steigende Wachstumsbewegung erfuhr, die noch beschleunigt wurde (wie in den meisten entstehenden kapitalistischen Ländern – siehe z. B. Japan) durch den starken Antrieb von seiten des Staates und seiner Rolle als Zentralisator des Kapitals. Die Periode der Akkumulation unter Stalin war jene der Bildung eines inneren Marktes, des Übergangs von einem sozialen Gefüge unter vorkapitalistischer Vorherrschaft, in dem die Arbeiterklasse nur einen ganz kleinen Teil der Bevölkerung darstellte (10 %, gegenüber 76 % Bauern im Jahre 1913), zu einem vollständigen Kapitalismus, eine Periode der extensiven Akkumulation zugunsten des Aufbaus einer Industrie, entsprechend allen Bedürfnissen des inneren Marktes. Die Gesamtzahl der Industriearbeiter stieg von 3 900 000 (1913) auf 12 200 000 (1950) und 1975 auf mehr als 27 Millionen, das heisst sie stieg um das 7 fache im Verhältnis zu der Periode vor der Revolution. Die Anzahl der Industrieunternehmen mit mehr als 100 Arbeitern stieg von 2805 im Jahre 1911 (1 645 000 beschäftigte Arbeiter) auf 11 591 im Jahr 1933 (4 500 000 beschäftigte Arbeiter) und auf mehr als 26 000 im Jahre 1968 (fast 19 Millionen beschäftigte Arbeiter)[13], das heisst die Anzahl hat sich praktisch verzehnfacht im Verhältnis zur Periode vor der Revolution, ebenso die Anzahl der in diesen Fabriken beschäftigten Arbeiter. Diese Zahlen offenbaren das Knospentreiben eines jungen und aufblühenden Kapitalismus, der unaufhörlich neue Unternehmen hervorbringt und extensiv auf der Basis des absoluten Mehrwerts akkumuliert, in dem Masse wie er die Reservearmee vom russischen Land in die Zuchthäuser der Industrie schickt. Diese extensive Akkumulation wird in der Nachkriegsperiode[14] fortgesetzt. Von 1950–1970 hat sich die Zahl der Industriearbeiter mehr als verdoppelt (zum Vergleich: in den USA hat sich im gleichen Zeitraum die Zahl der Industriearbeiter um etwas mehr als 1 Viertel erhöht). Aber das Tempo der Akkumulation verlangsamt sich nach und nach, während gleichzeitig das Wachstum der Arbeiterzahl merklich nachlässt. Die ländliche Bevölkerung Russlands hat seit der Revolution stark abgenommen, aber sie macht noch 1975 etwa 25 Prozent der aktiven Bevölkerung aus – dies ist noch ein sehr hoher Prozentsatz (um einen Vergleich zu geben: dieses Verhältnis herrschte in Frankreich in den 50er Jahren und in den USA um 1925), der auf die Rückständigkeit der gesamten russischen Wirtschaft und somit auch der Industrie, sowie auf dem wahren Hemmschuh, die Rückständigkeit der Landwirtschaft, hinweist.

Diese starke ländliche Bevölkerung bleibt durch den Rückstand der Landwirtschaft und die rückständige Struktur der Kolchose an das Land gefesselt. Daher beginnt der Zustrom der Arbeitskräfte in die Industrie zu versiegen: die Zahlen der Tabelle 9 zeigen, dass der Bestand an Industriearbeitern, der während der fünfziger Jahre jährlich um vier bis fünf Prozent wuchs, sich während des 10. Planes um weniger als ein Prozent pro Jahr erhöhen wird.

Weil der russische Kapitalismus noch nicht in der Lage ist, eine Verbesserung dieser rückständigen Struktur der Landwirtschaft in Angriff zu nehmen, muss er – wie es die bürgerlichen Ökonomen ausdrücken – die »verborgenen Reserven der Produktivität« suchen, die in seiner Industrie vorhanden sind. Mit anderen Worten, der russische Kapitalismus muss von einer extensiven zur intensiven Akkumulation übergehen, er muss vor allem nach der Produktivitätssteigerung der bereits vorhandenen Produktionsanlagen trachten, er muss den Arbeiter durch die Maschine ersetzen und ganz allgemein den Produktionsprozess durch Steigerung der Arbeitsproduktivität und -intensität »rationalisieren« – mit einem Wort: der russische Kapitalismus muss versuchen, relativen Mehrwert zu produzieren. Wozu dienen nun diese Massnahmen der Konzentration und Restrukturierung der Industrie, von denen wir sprachen, die »Reorganisationsversuche« mit Entlassungen wie jene von Schtschekino und die unaufhörlichen Appelle der russischen Führung und der Gewerkschaften zur Produktivität, zur Arbeitsdisziplin etc.?

Während eine sozialistische Gesellschaft die Steigerung der Produktivität nutzen würde, um die Produktionsanstrengungen der Menschen zu erleichtern, muss in Russland im Gegenteil die Intensivierung der Arbeit dazu beitragen, die Produktivität zugunsten eines grösseren Profites der Unternehmen und des grösseren Wohls der »nationalen Wirtschaft« zu erhöhen. Die Aufforderung zu grösserer Ausbeutung ist ein wahres Leitmotiv, das in jedem Plan auftaucht:
»Der Plan sieht eine Beschleunigung des Wachstums der Arbeitsproduktivität vor, dank einer umfassenden Einführung wissenschaftlicher und technischer Errungenschaften in die Produktion, dank einer grösseren Spezialisierung der Produktion und der wissenschaftlichen Organisation der Arbeit, dank der Erhöhung der Qualifikation und dank des verstärkten wirtschaftlichen Anreizes (…). Die Mechanisierung der handwerklichen Arbeit, die Einhaltung der Produktionszeiten, die Erhöhung der Arbeitsdisziplin, die Abschaffung der toten Zeiten der Arbeiter stellen wichtige Quellen latenter Reserven für die nationale Wirtschaft dar« (Kossygin auf dem 23. Kongress).

»Die Leitung der Produktion erhöhen, die Herstellungskosten senken und die Arbeitsproduktivität steigern – das ist der Weg, den wir gehen müssen, um die Gewinne zu erhöhen (…). In den Unternehmen, die zum neuen System übergegangen sind, ist es zur Regel geworden, am Ende des Jahres als materiellen Anreiz eine Prämie zu zahlen, die sich am Dienstalter, an der Disziplin und an der Qualität der Arbeit bemisst. Die Erfahrung hat gezeigt, dass diese Form des Anreizes dazu beiträgt, die Arbeitsproduktivität zu erhöhen, die Fluktuation der Arbeitskräfte zu vermindern und die Arbeitsdisziplin zu stärken« (Kossygin auf dem 24. Kongress).

»Wohlgemerkt, man muss der Erhöhung der Arbeitsproduktivität eine besondere Aufmerksamkeit zukommen lassen (…). In den bestehenden Unternehmen muss die Produktion erhöht werden, ohne die Zahl der Arbeitskräfte zu erhöhen, man kann sie sogar reduzieren. Aber es ist nicht weniger wichtig, die Organisation der Arbeit nachdrücklich zu verbessern, den Verlust von Arbeitszeit zu vermeiden und die Produktionsdisziplin zu erhöhen« (Kossygin auf dem 25. Kongress).

»Im Sinne des Gesagten sind besonders solche Mängel wie der Verlust von Arbeitszeit und die ›toten Zeiten‹, die Unregelmässigkeit des Arbeitstempos, der Mangel an Arbeitsdisziplin und der Mangel an Technologie, die starke Fluktuation des Personals in den Betrieben unerträglich« (Breschnew auf dem 25. Kongress)[15].

Wie wir gezeigt haben, zielt die industrielle Restrukturierung gleichzeitig darauf ab, die Erfolgsbedingungen Russlands auf dem Weltmarkt zu verbessern. Aber das setzt voraus, dass Russland wenigstens teilweise seinen technologischen Rückstand gegenüber dem entwickelten westlichen Kapitalismus überwindet. Daher die grosse Einfuhr von Anlagen (meist »schlüsselfertig«), die zusammen mit der Einfuhr von Getreide, schwer auf der russischen Handelsbilanz lastet (in den ersten 11 Monaten von 1975 betrug das Defizit[16] nach offiziellen Angaben 1,8 Milliarden Rubel) und grosse Kredite des westlichen Kapitals notwendig macht. Das ist der Preis – und er bedeutet vor allem zusätzliche Opfer der russischen Arbeiterklasse – dafür, dass die Industrie konkurrenzfähige Unternehmen bilden und ihre Ausfuhr erhöhen kann:

Tabelle 9 – Anzahl der Arbeiter und Produktivität in der Industrie
 
  5. Plan
1951–55
6. Plan
1956–60
7. Plan
1961–65
8. Plan
1966–70
9. Plan
1971–75
10. Plan
1976
Arbeiteranzahl am Anfang der Periode (in Millionen) 12,2 15,2 18,9 22,5 25,6 27,3
Veränderung während des Zeitraums (in %) + 24,3 + 24,3 + 19,5 + 13,5 + 6,5 + 3,9
Produktivität der Arbeiter (in %) +48 +37 +26 +32 +34 +32
Industrielle Produktion (in %) +85 +64 +51 +50 +43 +37
Quellen: »Narodnoe Khoziajstvo SSSR« und Quellen von Tabelle 2

 

»Eine unserer wichtigsten Aufgaben ist es, unsere ausländischen Wirtschaftsbeziehungen ertragreicher zu machen. Um diese Aufgabe zu erfüllen, haben wir die Absicht, das Ausfuhrpotential unseres Landes systematisch zu erhöhen, sowohl was die traditionellen Waren als auch die neuen Artikel betrifft (…). Die Ministerien und Abteilungen müssen (…) systematisch Massnahmen ergreifen, um die Produktion zu erhöhen, sowie um die Qualität und die Konkurrenzfähigkeit der Exportartikel zu verbessern. Der Aussenhandel wird zu einer wichtigen Branche der nationalen Wirtschaft, und somit stellt sich auch die Frage, in bestimmten Fällen auf den Export spezialisierte Unternehmen zu organisieren, um die spezifischen Bedürfnisse des Exportmarktes erfüllen zu können« (Kossygin auf dem 25. Kongress)[17].

Die Bedeutung dieses Programms für die Arbeiterklasse ist nur zu klar: die berühmte Konkurrenzfähigkeit der Waren bedeutet nichts anderes als der ökonomische Krieg zwischen rivalisierenden Kapitalismen: hinter den Waren stehen die Proletarier aller Länder, die in den Konkurrenzkampf »ihrer« Kapitale hineingezogen werden. Diese Kapitale wollen nicht die »besonderen Bedürfnisse« eines Weltmarktes »befriedigen«, der mit Waren überschwemmt ist, sondern sie wollen ihm soviel Mehrwert wie möglich entziehen, indem sie ihren Marktanteil durch die Vertreibung von Konkurrenten vergrössern. Je blutiger dieser Krieg wird (und die Beteiligung Russlands kann ihm nur verschärfen), desto schärfer entladen sich die eisernen Gesetze des Kapitals auf die Arbeiterklasse: sie bedeuten sowohl im Osten wie im Westen »Rationalisierung« und Entlassungen, Jagd auf die »toten Zeiten« und auf die »unterbeschäftigten« Arbeiter, Entfachung der Konkurrenz unter den Arbeitern durch Prämien und unterschiedliche Löhne, Erhöhung der Arbeitsintensität und Abstumpfung der Proletarier, mit einem Wort: verschärfte Ausbeutung der Arbeiterklasse. Die Konsequenzen dieses so typisch kapitalistischen Programms enden damit nicht. Die zunehmende Integration Russlands in den Weltmarkt bedeutet für die stärksten der westlichen kapitalistischen Länder in allernächster Zeit zusätzliche Kapital- und Absatzmärkte. Aber der russischen Industrie bei der Modernisierung zu helfen, heisst, einem zukünftigen Konkurrenten beim schmieden seiner Waffen zu helfen. Die uneingeschränkte Teilnahme Russlands am Weltmarkt bedeudet auf die Dauer neuen Zufluss von Waren auf Märkten, die schon in fester Hand sind, und kann also nur dazu beitragen, die weltweiten Krisen des Kapitals zu verschärfen. Je stärker die Hauptzweige der russischen Industrie auf dem Weltmarkt auftreten, um so mehr wird die Industrie in ihrer Gesamtheit vom Aussenhandel abhängig, umso leichter werden die Weltkrisen des Kapitals die russische Industrie mit sich reissen.

Deshalb ist unsere Schlussfolgerung seit 20 Jahren dieselbe[18]:
»Ist der eiserne Vorhang erst einmal durch den Spitzenschleier des Wettbewerbs ersetzt, so wird die universelle Krise die junge russische Industrie zutiefst treffen. Siehe da, wozu die Vereinigung der Märkte und die freie Blutzirkulation im Körper des Monsters Kapitalismus dient! Mit dieser Vereinigung vereinigt sich aber auch die Revolution, deren Stunde nach der Krise des Zweiten Weltkrieges vor dem dritten Konflikt sehr wohl schlagen kann«[19].

Notes:
[prev.] [content] [end]

  1. Rede von Kossygin auf dem 24. Kongress der KPdSU, »Prawda«, 07. 04. 1971. Ausserdem geht die Zahl von 50 % tatsächlich aus den offiziellen jährlichen russischen Angaben hervor (»Narodnoe Khoziajstvo SSSR«). [⤒]

  2. Rede Breschnews auf dem 25. Kongress der KPdSU, »Prawda«, 25. 02. 1976. [⤒]

  3. siehe »Anti-Dühring«, dritter Teil, Kapitel 2 (MEW, Band 20, Seite 248). Die Frage ist keineswegs akademisch, den die Diktatur des Proletariats wird selbst mit der Aufgabe konfrontiert werden, die Wirtschaft in einem Rahmen zu planen, der zunächst vom Markt ausgeht, um zur Zerstörung der Warenwirtschaft überzugehen. [⤒]

  4. »Narodnoe Khoziajstvo SSSR«, 1973. Wenn man die Zahl von 300 000 abhängigen Zweigunternehmen und -fabriken (»SSSR v tsihfra«, 1974) hinzuzählt, so kommt man auf eine Zahl von rund 350 000 Produktionseinheiten. [⤒]

  5. Diese materiellen Hintergründe müssen sich selbstverständlich in den Tendenzen der ökonomischen Politik der Staaten und ihrer Ideologen widerspiegeln. Während für Russland nach der ersten Akkumulation der frühstalinistischen Ära und nach dem Wiederaufbau bis Anfang der fünfziger Jahre Gott und die Welt nach einer Einschränkung der staatlichen Planung (es wäre richtiger zu sagen, nach einer Lockerung des staatlichen Eingriffs bei der Aufteilung der Durchschnittsprofitrate zugunsten bestimmter Wirtschaftsbranchen und Unternehmen) schreit, läuft die Sache in Amerika umgekehrt. Hier mussten die Anhänger der »freien Marktwirtschaft« nicht nur feststellen, dass die grossen Unternehmen ein »Planungssystem« darstellen, dass in Symbiose mit dem Staat dem »überlebenden Marktsystem« gegenübersteht, sondern dass dieses »Planungssystem« (die Gesamtheit der Grossunternehmen) die kapitalistische Anarchie nicht aufhebt, sondern verschärft, was wiederum zu einer Ausdehnung und Zentralisierung der Planung, zu ihrer Verlegung in Staatshände führen muss. In einem Artikel anlässlich des ominösen Bicentennial schreibt die »Süddeutsche Zeitung«:
    »Ausser einigen konservativen Dogmatikern in der Republikanischen Partei zweifelt kaum ein Experte daran, dass die USA einen Weg aus der Ungleichheit durchgeplanter privatwirtschaftlicher Machtkomplexe und krisenanfälliger Planungslosigkeit in der Gesamtwirtschaft finden müssen«.
    Nachdem sie daran erinnert, dass nicht nur Professoren wie Heilbronner und andere, sondern auch Gewerkschaftsführer wie Woodcock und dessen Kontrahent Henry Ford Anhänger der »nationalen Wirtschaftsplanung« sind, zitiert die »Süddeutsche Zeitung« einen der Päpste der amerikanischen Ökonomen Wassily Leontief:
    »Sie (die nationale Wirtschaftsplanung) werde kommen, nicht wenn Radikale sie wollen, sondern den Geschäftsleuten nach ihr rufen. Und Sie würden es tun, denn ohne mehr Planung sei es schwer zu glauben, dass der Kapitalismus das 20. Jahrhundert überdauern kann« (»Süddeutsche Zeitung«, 5.7.76).
    Wenn es einerseits klar ist, dass die Planung die »Ungleichheit« und die Krisenhaftigkeit nicht abschaffen wird, ist es ebenso klar, dass die russischen »Geschäftsleute« aufgrund des Entwicklungsstandes ihrer Volkswirtschaft noch weit davon entfernt sind, nach der »nationalen Wirtschaftsplanung« zu rufen.
    Amerikanische Daten: »Fortune«, Mai 1974. Die Vergleiche beziehen sich auf die Prozentsätze bezüglich der industriellen Produktion und abstrahieren also von deren absoluter Grösse. Wenn man den Wert der amerikanischen Industrieproduktion von 1973 grob auf das Doppelte des Werts der russischen Industrieproduktion schätzt, so kommt man zu der Schlussfolgerung, dass die 50 grössten US-Industrieunternehmen ebensoviel wie die 5300 grössten russischen produzierten! Dieser Vergleich, der sich nur auf die Grössenordnung bezieht – sagt gleichzeitig doch viel über den quantitativen und qualitativen Graben aus, der die beiden Volkswirtschaften voneinander trennt, sowie über die Mühe, die Russland die vollständige Integration in den Weltmarkt kosten wird! Um dem Leser eine bessere Vorstellung zu geben, fügen wir hinzu: in Frankreich wurden 1970 63 % der Industrieproduktion von rund 1300 Unternehmen erbracht (»Économie et statistique«, Nr. 53, Februar 1974), in Deutschland wurden 1972 63 % der industriellen Produktion von 1677 Unternehmen produziert (»Statistisches Jahrbuch für die Bundesrepublik Deutschland«, 1975). [⤒]

  6. »L’Expansion«, Oktober 1975. [⤒]

  7. Resolution des ZK der KPdSU und des Ministerrates, »Prawda«, 3. April 1973, (Hervorhebungen von uns). [⤒]

  8. Resolution des ZK der KPdSU und des Ministerrates, »Prawda«, 3. April 1973. [⤒]

  9. »SSSR v tsihfra«, 1974. [⤒]

  10. Resolution des ZK der KPdSU und des Ministerrates, »Prawda«, 3. April 1973. [⤒]

  11. Wenn wir von »bürokratischen Hindernissen« sprechen, stellen wir damit keine Theorie nach Art der Trotzkisten auf, sondern wir stellen eine Tatsache fest. Die Hindernisse für die »freie« Tätigkeit der Unternehmen existieren in verschiedenen Graden in allen kapitalistischen Ländern: es genügt, einen französischen Unternehmer über all die Beschränkungen und Schikanen klagen zu hören, denen er durch Steuern, soziale Sicherheit, Kontrollen aller Art, Belieferung, die Preise der Produkte, die er herstellt etc. von seiten der Verwaltung eines Staates ausgesetzt ist, der doch der Staat seiner Klasse ist. Die Disziplinierung wird – in gewissem Masse, versteht sich – den individuellen Kapitalisten nur auferlegt, um den Interessen des kollektiven Kapitalisten besser entsprechen zu können: die Bürokratie hat keine Eigendynamik (sondern ist im Gegenteil von ungeheurer Trägheit). [⤒]

  12. siehe vor allem: »Dialogato coi morti« (»Zwiesprache mit den Toten«). [⤒]

  13. Daten aus: »SSSR i zarubeznye strany pobedy velikoi oktiabrskoi revolutsii«, Moskau 1970. Wir zitieren diese Zahlen, weil sie zeitlich-statistisch zusammenhängen. Die Angaben des offiziellen russischen Jahrbuchs (»Narodnoe Khoziajstvo SSSR«) lassen keinen Zusammenhang in der Entwicklung der Gesamtzahl der Industrieunternehmen erkennen. Wir betonen jedoch, dass das Jahrbuch von 1955 für das Jahr 1954 die astronomische Zahl (vor allem für eine »sozialistisch« etikettierte Wirtschaft) von 212 000 staatlichen Industrieunternehmen angab, zu denen 114 000 Werkstätten und andere Handwerksgenossenschaften, 28 000 Industriebetriebe der Konsumgenossenschaften und etwa 400 000 Kolchoseunternehmen und Kolchosebetriebe (Schmieden, Mühlen etc.) hinzuzuzählen waren. [⤒]

  14. Zur Illustration folgende Erklärung Chruschtschows auf dem 21. Kongress:
    »Man muss während des Siebenjahresplans mehr als 140 grosse Chemiewerke aufbauen oder fertigstellen und dabei mehr als 130 umstrukturieren« (»Prawda«, 8. Februar 1959).
    Lassen wir die Prahlerei einmal beiseite, was zeigt dann diese Erklärung?
    1. dass diese Unternehmen nicht zu »gross« sind wie Chrustschow meint, denn es hat keinen Sinn, in sieben Jahren 140 »grosse« Chemiewerke (wie man sie im Westen versteht) aufbauen zu wollen;
    2. dass das verfolgte Ziel eher die Schaffung einer chemischen Industrie ist. [⤒]

  15. »Prawda« vom 10. April 1966, 7. April 1971, 2. März 1976, 25. Februar 1976 (Hervorhebungen von uns). Ermahnungen dieser Art gibt es in der Tat zu Hunderten. Ein letzter Auszug aus der Rede Kossygins auf dem 25. Kongress soll eine Vorstellung vom Niveau des »sozialistischen Humanismus« geben, dessen sich der Autor rühmt:
    »Die Rolle der sozialen Faktoren für die Entwicklung der Produktion und die Erhöhung ihres Ertrages wird im Laufe des neuen Fünfjahresplans stark wachsen. Das Qualifikationsniveau der Kader, eine schöpferische Arbeitsatmosphäre und ein sozialpsychologisches Klima im Kollektiv, die Sorge um die Lebensbedingungen der Arbeiter, die Schaffung kultureller und sportlicher Einrichtungen in den Fabriken sind Elemente, die einerseits das Leben des Menschen interessanter, inhaltsreicher machen, und die sich andererseits günstig auf die Resultate der Produktion auswirken« (»Prawda«, 2. März 1976, Hervorhebungen durch uns).
    Im falschen russischen »Sozialismus« wie im Westen spürt das Kapital für die Arbeiter die gleiche Sorge wie für jene Milchkühe, die man mit sanfter Musik berieselt, damit sie mehr produzieren! [⤒]

  16. »Financial Times«, 10. März 1976. [⤒]

  17. »Prawda«, 1. März 1976. [⤒]

  18. siehe »Dialogato coi morti« (»Zwiesprache mit den Toten«). [⤒]

  19. Weitere Parteiveröffentlichungen über Russland, die russische Revolution, die Konterrevolution in Russland und die russische Wirtschaft von 1917 bis heute sind einerseits die Artikelserie »Revolution und Konterrevolution in Russland« mit den beiden Artikeln »Warum Russland nicht sozialistisch ist« und »Der Marxismus und Russland« in knapp zusammengefasster Form untersuchen diese Artikel im Kampf gegen alle Varianten des Opportunismus die Frage, welche Produktionsweise in Russland herrscht und welche historische Entwicklung zur Festigung dieser Produktionsweise – des Kapitalismus – und ihres entsprechenden Überbaus in Russland führte. Sie erklären, wie es möglich gewesen ist, dass der kommunistische Sieg vom Oktober 1917 nicht zum Sozialismus, sondern zu einer kapitalistischen Grossmacht führte.
    In zwei zusammenhängenden Texten wird die marxistische Theorie der »doppelten Revolution«, des Ineinandergreifens von bürgerlicher und proletarischer Revolution im Rahmen der Weltrevolution dargelegt; eine Perspektive, die sich mit der Errichtung der proletarischen Diktatur im rückständigen Russland verwirklichte und durch die Ausbreitung der Revolution auf die kapitalistisch entwickelten Länder auch in Russland zum Sozialismus geführt hätte. Die Artikel untersuchen die unmittelbaren ökonomischen Aufgaben der russischen Revolution, die Isolierung und Niederlage des russischen Proletariats und die Konterrevolution, die die proletarische Diktatur und die bolschewistische Partei vernichtete.
    Sie zeigen, welches die Merkmale des Kapitalismus und im Gegensatz dazu die des Sozialismus sind; sie untersuchen die Verhältnisse zwischen Staatskapitalismus und Kleinproduktion und weisen auf den sogar vom kapitalistischen Standpunkt äusserst rückständigen Charakter der russischen Landwirtschaft hin, um sich schliesslich in Grundzügen mit dem bis jetzt erreichten, allgemeinen Stand der kapitalistischen Entwicklung in Russland zu befassen.
    Sozialistisch waren und bleiben im Lichte der revolutionären Geschichte die Oktoberrevolution und die konsequent marxistische, granitene Perspektive Lenins, was dadurch nicht beeinträchtigt wird, dass der dialektische Weg bis zum Sieg des Sozialismus in der kapitalistischen Welt nicht durchlaufen werden konnte. Nicht dadurch geht eine historische Sache verloren, dass sie auf einen nachfolgenden »Termin« (und wenn er Jahrzehnte entfernt ist) verschoben wurde. Die Konterrevolution (deren Lehren man ziehen muss, und diesen nächsten »Termin« vorzubereiten) hat den Marxismus nicht widerlegt, sondern vollständig bestätigt.
    Desweiteren erschien »Bilanz einer Revolution«, mit den drei Teilen »Die grossen Lehren des Oktober 1917«, »Die falschen Lehren der Konterrevolution in Russland«, und »Die russische Wirtschaft von Oktober bis heute«. Auf Italienisch erschien »Struttura economica e sociale della Russia d’oggi«, das grundlegende Werk, welches zwischen 1955 und 1957 in unserem italienischen Organ »Il Programma Comunista« erschienen ist und mittlerweile in Buchform vorliegt, ebenso eine vollständige Übersetzung ins Spanische und auszugsweise ins Französische.
    Auf Italienisch erschienen auch die beiden Artikel »Dialogato con Stalin« und »Dialogato coi morti«, »Zwiesprache mit Stalin« ist eine Kritik des 19. Kongresses der russischen KP und der Theorien Stalins, wie sie in »Ökonomische Probleme des Sozialismus in der UdSSR« von ihm entwickelt wurden; »Zwiesprache mit den Toten« ist eine Kritik des 20. Kongresses der russischen KP. [⤒]


Source: »Kommunistisches Programm«, Nr.11, Juli 1976

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