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BILANZ EINER REVOLUTION (I)


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Bilanz einer Revolution
Die grossen Lehren der Oktoberrevolution
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Bilanz einer Revolution

Die grossen Lehren der Oktoberrevolution

Mit der Lehre von Marx geschieht jetzt dasselbe, was in der Geschichte wiederholt mit den Lehren revolutionärer Denker und Führer der unterdrückten Klassen in ihrem Befreiungskampf geschah. Die grossen Revolutionäre wurden zu Lebzeiten von den unterdrückenden Klassen ständig verfolgt, die ihrer Lehre mit wildestem Ingrimm und wütendstem Hass begegneten, mit zügellosen Lügen und Verleumdungen gegen sie zu Felde zogen. Nach ihrem Tode versucht man, sie in harmlose Götzen zu verwandeln, sie sozusagen heiligzusprechen, man gesteht ihrem Namen einen gewissen Ruhm zu zur ›Tröstung‹ und Betörung der unterdrückten Klassen, wobei man ihre revolutionäre Lehre des Inhalts beraubt, ihr die revolutionäre Spitze abbricht, sie vulgarisiert.

Lenin, »Staat und Revolution«[1]

Dem Autor dieser Zeilen – sie stehen am Anfang von Lenins Schrift »Staat und Revolution« – musste der Gedanke fernliegen, dass er damit auch sein eigenes »Schicksal«, ja das »Schicksal« der Revolution vorwegnahm, mit der sich sein »Name« sehr bald unauflöslich verbinden sollte. Im Bewusstsein am Vorabend einer weltweiten Neugestaltung der Gesellschaft zu sein, unterbrach der Autor die Niederschrift seines Buches. Das letzte Kapitel der Wiederherstellung der marxistischen Staats- und Revolutionstheorie war die »Kritik der Waffen«[2]: der bewaffnete Aufstand, die revolutionäre Machteroberung, die Zerschlagung des bürgerlichen Staates, die Errichtung der Diktatur des Proletariats. Dass diese Ereignisse keineswegs »russische Angelegenheiten« waren, dass sie vielmehr den Beginn der proletarische Weltrevolution darstellten, verstand die internationale Bourgeoisie nur allzu gut. Sie begegnete der kommunistischen Diktatur in Russland mit »wildestem Ingrimm und wütendstem Hass«; mit militärischer Intervention und politischem Gegenangriff und ebenso mit »zügellosen Lügen und Verleumdungen« zog sie gegen sie zu Felde. Und wo auch der Einsatz all dieser Waffen nicht reichte, um einen Übergriff der Flammen der Oktoberrevolution auf die Festungen des kapitalistischen Westens zu verhindern, da entfesselte das Lakaienheer des Opportunismus seinen Angriff hinter dem Sperrfeuer des Kapital.

Jahrzehnte sind seitdem vergangen. Die Bourgeoisie aller Länder hat ihre Schrecken von damals vergessen. Für sie ist die Oktoberrevolution in die Geschichte eingegangen, ist ein Museumsstück, hat keine revolutionäre Spitze mehr. Der Weg zur Gedenkfeier ist frei.

Erben und Nachfolger der erbittertsten Feinde der Bolschewiki können ungestraft ihr Loblied singen; Erben und Nachfolger jenes Stalinismus, der seine Laufbahn so kennzeichnend mit der Einbalsamierung von Lenins Leichnam und mit der Heiligsprechung seines Namens als Pendant für die Entstellung seiner Lehre begann, können den Oktober nach Wunsch feiern. Für sie ist die Oktoberrevolution keineswegs ein Brennpunkt des internationalen proletarischen Klassenkampfes, sondern ein nationaler Feiertag. Die Lehre der Revolution ist für sie keineswegs mehr eine Klassenlehre, sondern eine Art Katechismus für die Karrieristen eines Vaterlandes unter vielen anderen. Für sie hatte die Oktoberrevolution ausschliesslich russische Ursprünge, und ihre geschichtlichen Resultate sind ebenso russisch. Für die professionellen Verfälscher, deren steriles Hirn Jahrzehnt für Jahrzehnt »Thesen zum x-ten Jahrestag der Oktoberrevolution« fabriziert, war diese Revolution ein Ausnahmefall, ein einmaliges und unwiederholbares historisches Ereignis. Und ist sie einmal von ihren Wurzeln abgeschnitten – die in dem weltweiten Antagonismus zwischen Bourgeoisie und Proletariat lagen –, so kann der Archivar vom Dienst mit der Miene eines »Fachmanns« sehr wohl erklären, die Oktoberrevolution habe »den Verlauf der Weltgeschichte tief beeinflusst«: Es geht nicht mehr darum, aus dieser Geschichte zu lernen, die Lehren der Revolution zu ziehen, um sie anwenden und wiederholen zu können; es geht nur um »Tröstung und Betörung« des Proletariats: die Oktoberrevolution ist nicht mehr »das Beispiel, der erste Schritt in einer Reihe von Revolutionen« (Lenin, 1918), sie ist nicht mehr »die Generalprobe der proletarischen Weltrevolution (Lenin, 1919). O nein. Jedes Land hat seinen nationalen Weg zum Sozialismus, einen Weg, der von den »nationalen Traditionen« und vom »Charakter seines Volkes« diktiert wird, kurzum einen Weg, der über den Klassen steht. Und in der Tat: wenn die Geschichte über den Klassen steht, wenn sie nicht mehr Geschichte von Klassenkämpfen ist, wenn der moderne Klassenkampf nicht der Klassenkampf einer Klasse ist, die kein Vaterland hat, dann ist der Oktober tot, tot und begraben.

Doch dem ist nicht so; nicht in diesem Geiste haben die Marxisten die Oktoberrevolution vorbereitet und zum Siege geführt, nicht in diesem Geiste blicken sie auf die Siege und Niederlagen ihrer Klasse zurück. Der Marxismus ist eine Anleitung zum Handeln. Doch ist er es nur, weil er eine allgemeine und vollständige Auffassung von der Emanzipationsbewegung des Proletariats geliefert hat. In den grossen Umwälzungsperioden, in denen die Klassen zu den Waffen greifen, um sich eine gnadenlose Schlacht zu liefern, findet er die Bestätigung seiner eigenen Vorhersagen, holt er aus den Tatsachen selbst die Kraft, die die Konturen dieser Vorhersagen noch schärfer abzeichnet.

Mögen sich alle einbilden, der Oktober sei tot, oder sie hätten ihn selbst begraben.
»Nur bei einer Ordnung der Dinge, wo es keine Klassen und keinen Klassengegensatz gibt, werden die gesellschaftlichen Evolutionen aufhören, politische Revolutionen zu sein. Bis dahin wird am Vorabend jeder allgemeinen Neugestaltung der Gesellschaft das letzte Wort der sozialen Wissenschaft stets lauten: ›Kampf oder Tod; blutiger Krieg oder das Nichts. So ist die Frage unerbitterlich gestellt‹.«[3]
Im Sinne dieser Zeilen von Marx aus dem Jahre 1847 brach Lenin 1917 die Niederschrift von »Staat und Revolution« ab. Ebenso in ihrem Sinne greift das Proletariat nach der Niederlage zur Waffe der Kritik, besinnt sich auf die Lehren des Oktobers.

• • •

In den ersten Kapiteln seiner Schrift »Der ›linke Radikalismus‹, die Kinderkrankheit im Kommunismus«[4] weist Lenin die Kommunisten aller Länder auf die Grundzüge der Oktoberrevolution hin, die »internationale Geltung« haben, die sich »mit historischer Unvermeidlichkeit im internationalen Massstab«[5] wiederholen werden. Zu diesen Grundbedingungen des Erfolgs gehörte die Tatsache, dass der Bolschewismus auf der festen Grundlage einer Theorie entstanden war, deren Richtigkeit »durch die internationalen Erfahrungen des ganzen 19. Jahrhunderts« bewiesen worden war und in den »Erfahrungen mit den Irrungen und Wirrungen, mit den Fehlern und Enttäuschungen des revolutionären Denkens in Russland«[6] selbst eine zusätzliche Bestätigung gefunden hatte. Nicht in Russland suchten und fanden die Bolschewiki diese Theorie, sondern ausserhalb der nationalen Grenzen. Wie Marx und Engels – auch sie zum »Emigrantenleben« gezwungen – im Laufe der grossen Kämpfe von 1848 und während der Jahre vor der Pariser Kommune, so erblickten auch die Bolschewiki in den Schwankungen aller Varianten des bürgerlichen und kleinbürgerlichen Sozialismus eine Bestätigung ihrer eigenen, proletarischen Theorie. Sie liessen sich ihren Weg weder von den Tiefen der slawischen Seele diktieren, wie die Panslawisten, noch vom nationalen Modell des »Mir«[7], wie die Volkstümler; sie nährten sich nicht von den »spezifischen Eigenarten« eines Landes, das man heute »unterentwickelt« nennen würde, sondern – wenn man uns den Ausdruck erlaubt – von den »spezifischen Eigenarten« der fortgeschrittensten kapitalistischen Länder. Sie stellten sich die programmatische Aufgabe (»Was tun?«[8]), diesen aus dem kapitalistischen Westen geholten Marxismus in die russische Arbeiterklasse einzuführen. Statt »Neuheiten« auszuhecken, übernahmen sie die Ergebnisse eines halben Jahrhunderts von Klassenkämpfen und deren theoretischen Ausdruck, den Marxismus. In diesen Ergebnissen war ihr eigener Weg vorgezeichnet. Ihre Grösse, ihr Stolz als Militante, die immer davon abgesehen haben, für sich oder für »ihre« Arbeiterklasse besondere Verdienste zu beanspruchen[9], liegt darin, von diesem Weg, den man bereits 1903 als »dogmatisch« bezeichnete, nicht abgewichen zu sein.

Die Frage nach der revolutionären oder konterrevolutionären Rolle Russlands (beide Aspekte gehören dialektisch zusammen) hat der Marxismus immer, seit dem »Kommunistischen Manifest« im internationalen Massstab betrachtet. Unter dem drohenden Schatten des zaristischen Russlands, »Hort der Reaktion«, »Reservearme der europäischen Konterrevolution«, hatten sich 1848 die revolutionären Aussichten zerschlagen. Es handelte sich damals nicht mehr um ein fernes, exotisches Land, sondern um einen Faktor, der wie Metternichs Österreich eine wesentliche Rolle in der europäischen Politik spielte: Ohne seine Niederlage wäre kein Sieg der europäische Revolution möglich. Ab 1860 änderte sich die marxistische Perspektive im Hinblick auf Russland. Der Massstab blieb nach wie vor europäisch (also weltweit, wenn man vom Radius der kapitalistischen Produktionsweise ausgeht), aber in Russland selbst zeichnete sich jetzt eine Revolution ab. Ihr fiel die Aufgabe zu, die letzte bis dahin intakte Burg der europäischen Reaktion zu stürzen. Schon dadurch würde diese Revolution für ganz Europa eine riesige Bedeutung erlangen. Die Perspektive der internationalen Revolution erweiterte sich:
»Wird die russische Revolution das Signal einer proletarischen Revolution im Westen, so dass beide einander ergänzen, so kann das jetzige russische Gemeineigentum am Boden« – eine wenn auch stark untergrabene Form des uralten Gemeinbesitzes – »zum Ausgangspunkt einer kommunistischen Entwicklung dienen«.[10]
In den neunziger Jahren ist diese Möglichkeit allerdings verschwunden: Russland ist in den Wirbelsturm des Kapitalismus hineingerissen worden und »muss alle verhängnisvollen Wechselfälle des kapitalistischen Systems durchmachen«. Die antifeudale und antizaristische Revolution, die auf der Tagesordnung steht, wird jedoch nicht nur die Bauern
»aus der Isolierung ihrer Dörfer, die ihren ›Mir‹, ihre ›Welt‹ bilden, herausreissen und auf die grosse Bühne führen, wo sie die Aussenwelt und damit sich selbst« kennenlernen werden, »sondern sie wird auch der Arbeiterbewegung des Westens einen neuen Anstoss und neue bessere Kampfbedingungen geben und damit den Sieg des modernen industriellen Proletariats beschleunigen, ohne den das heutige Russland weder aus der Gemeinde noch aus dem Kapitalismus heraus zu einer sozialistischen Umgestaltung kommen kann«[11].

Der Bolschewismus entsteht und behauptet sich auf dem Boden dieser internationalen Tradition des Marxismus. Liegt in diesen Sätzen von Engels nicht bereits der genaue Umriss der ganzen bolschewistischen Perspektive von 1905 und 1917, sowie im übrigen auch der Rahmen einer möglichen Konterrevolution, die sich ab 1926 sehr wohl ereignen sollte?

Für uns liegt hier die erste Lehre der Oktoberrevolution, ihres Himmelsturms wie umgekehrt ihres tragischen Sturzes: in dieser bruchlosen Kontinuität, welche die Partei bereits zwanzig Jahre vor der Revolution mit den geschichtlichen Kämpfen des Proletariats der voll entwickelten kapitalistischen Länder und mit der allgemeinen Theorie und dem Programm dieser Kämpfe herstellte. Ohne diese ununterbrochene Bindung ist kein Sieg der Arbeiterklasse möglich. Uns so wie die Bolschewiki die Kämpfe von 1917, 1848, 1871 und 1905 mit einem einzigen Blick einfingen, so müssen wir heute die zukünftige Wiederaufnahme des proletarischen Klassenkampfes in der Perspektive der grossen Etappen der vergangenen Kämpfe im internationalen Massstab betrachten, sie mit der Theorie, die jene Kämpfe ankündigte und aus ihnen Nahrung schöpfte, erhellen.

Die folgenreiche Verbindung der russischen Arbeiterbewegung mit dem Marxismus geht also auf jene frühen Jahre zurück, in denen Engels einerseits die Prognose einer unvermeidlichen Phase kapitalistischer Entwicklung in Russland stellte, andererseits aber der Arbeiterklasse des riesigen Reiches und ihrer marxistischen Partei eine grandiose Perspektive eröffnete: Gewiss sollte die kommende Revolution eine antifeudale sein. Sie musste an erster Stelle ein charakteristisches Ziel der bürgerlichen Revolution verwirklichen, nämlich den vorkapitalistischen Grossgrundbesitz zerschlagen. Doch würde sie sich auf die Höhe einer proletarischen Revolution erheben können: die Voraussetzung dazu wäre ihre Verbindung mit der revolutionären Bewegung des sozialistischen Proletariats im Westen.

1894 entstand Engels letzte Schrift zur sozialen Entwicklung Russlands; im selben Jahr schrieb Lenin seine Polemik gegen Michailowski. Von da an bis 1905 lässt sich Lenins Kampf in einem Wort zusammenfassen: die leidenschaftliche Verteidigung des Marxismus als unteilbarem Ganzen; gegen die Perspektive der Volkstümler, die sich wirren Träumen einer »sozialistischen« Bauernrevolution auf der Grundlage des »Mir« hingaben; gegen den Revisionismus der Ökonomisten; gegen den eklektischen Pragmatismus der Spontaneisten. Lenin betont die grundlegende Rolle der Theorie, des Programms, kurzum der Partei. Er unterstreicht die Notwendigkeit ihrer Einführung in die proletarische Klasse[12]. Er verwirft mit allem Nachdruck jegliche »Freiheit der Kritik« gegenüber Theorie und Programm und wiederholt unaufhörlich, diese seien als Ganzes, als Block, ohne Auslassungen oder Entstellungen anzunehmen. Und gerade hier liegt ein fester Bestandteil jener Kontinuität, die wir als eine grundlegende Voraussetzung und als erste Lehre der Oktoberrevolution betrachten.

Der »unerhört barbarische und reaktionäre Zarismus«[13], diese »spezifische Eigenart Russlands«, zwang die revolutionäre Avantgarde zum Verlassen der geographischen und geistigen Grenzen des Landes (Lenin formte sich politisch in der Schule des exilierten Plechanow, der ganze Bolschewismus in der Schule des exilierten Lenin), zur Herstellung einer engen Bindung zu den theoretischen wie praktischen Kämpfen der europäischen sozialistischen Bewegung. Doch auch das »Geheimnis« für die hartnäckige Verteidigung des Marxismus durch die Bolschewiki, für die Ausprägung der bolschewistischen Partei auf dieser »granitnen« (Lenin) internationalen Grundlage lag ebenfalls in einer Erscheinung internationaler Natur. So schrieb Lenin in seiner Schrift »Der ›linke Radikalismus‹, die Kinderkrankheit im Kommunismus«:
»In keinem andere Land war in einem so kurzen Zeitraum ein solcher Reichtum an Formen, Schattierungen und Methoden des Kampfes aller Klassen der modernen Gesellschaft konzentriert gewesen…«[14]. Und diese Dynamik wurde durch einen strikt internationalen Faktor bestimmt: Sie war eine Folge der Einführung des Kapitalismus in ein rückständiges Land, der Aufpfropfung eines vollreifen Kapitalismus auf eine geschichtlich zurückgebliebene ökonomische und soziale Struktur. Als Meister der Dialektik suchten Lenin und Trotzki gerade hier den Schlüssel für die bevorstehende russische Revolution. Trotzki macht sich über die scholastischen Kriterien und die Pedanterie lustig; er zeigt, dass gerade die weltweite Entwicklung Russland aus seiner Rückständigkeit und asiatischen Barbarei herausgerissen hat. Und Lenin erklärt,
»dass die erste Rolle, die das Proletariat Russlands in der Arbeiterbewegung der ganzen Welt spielt, sich nicht aus der wirtschaftlichen Entwicklung des Landes erklärt. Ganz im Gegenteil…«[15]
Gerade weil diese »asiatische« und »barbarische« Gesellschaftsstruktur in den Strudel des modernsten Kapitalismus hineingerissen wurde, wurden ihre Fundamente zutiefst erschüttert, Etappen übersprungen, geschichtliche Fristen verkürzt; gerade deshalb haben die bürgerlichen und halbbürgerlichen Klassen in einem so kurzen geschichtlichen Zeitraum all ihre Möglichkeiten eines direkten Eingriffs ins soziale Geschehen, einer Führung und Kontrolle des sozialen und politischen Kampfes verbraucht; gerade deshalb wurde ein eben entstandenes Proletariat seinen geschichtlichen Aufgaben sofort gegenübergestellt. Und dem »letzten Wort« in Sachen Kapitalismus konnte dieses Proletariat in der Tat nur mit dem »letzten Wort« in Sachen revolutionärer Theorie antworten – der zaristische Absolutismus konnte nur ein Übriges tun, um dieses Proletariat auf den Weg zu dieser Theorie zu stossen. Auch seine junge Avantgarde musste daher schon sehr früh den Beweis für eine ausserordentliche Reife erbringen[16], was soviel bedeutet, wie dass sie verstand, dass es ausserhalb des Marxismus keine Rettung gibt.

Die marxistische Bewegung in Russland fand also ihren Weg vorgezeichnet. Sie wusste daher von Anbeginn, dass sie eine doppelte Aufgabe zu erfüllen hatte, und bereits acht Jahre vor der Revolution von 1905 formulierte sie diese Aufgabe:
»Die praktische Tätigkeit der Sozialdemokratie ist bekanntlich darauf gerichtet, den Klassenkampf des Proletariats zu leiten und diesen Kampf in seinen beiden Formen zu organisieren: den sozialistischen (Kampf gegen die Kapitalistenklasse, mit dem Ziel, die Klassengesellschaft zu vernichten und eine sozialistische Gesellschaft zu errichten) und den demokratischen (Kampf gegen den Absolutismus, mit dem Ziel, in Russland die politische Freiheit zu erringen und die politische und soziale Ordnung Russlands zu demokratisieren).«[17].
Und wie ist diese Aufgabe zu erfüllen?
»Die Sozialdemokraten unterstützen die fortschrittlichen Gesellschaftsklassen gegen die reaktionären, die Bourgeoisie gegen die Vertreter des privilegierten und ständischen Grundbesitzes und gegen die Beamtenschaft, die Grossbourgeoisie gegen die reaktionären Gelüste des Kleinbürgertums«[18].
Diese Solidarität wird aber zwangsläufig einen
»zeitweiligen und bedingten Charakter« haben, nicht nur wegen der »klassenbedingten Sonderstellung des Proletariats…, das morgen schon Gegner seiner Bundesgenossen von heute sein kann«[19],
sondern auch weil das Proletariat
»seiner Klassenlage nach… allein… die Demokratisierung der politischen und gesellschaftlichen Ordnung zu Ende zu führen vermag, denn durch eine solche Demokratisierung würde diese Ordnung in die Hände der Arbeiter kommen«[20].
(Was soviel heisst, wie dass das Proletariat die Macht sowohl den Händen der Grossbourgeoisie als auch denjenigen der Kleinbourgeoisie entreissen wird.) Getreu dem »Kommunistischen Manifest«[21], der »Ansprache der Zentralbehörde an den Bund«[22], der Marx’schen Bilanz der »Klassenkämpfe in Frankreich«[23] und in Deutschland erblickt die marxistische Bewegung in Russland im Proletariat den wirklichen Hauptakteur der bevorstehenden Revolution, obwohl diese ihrem sozialen Inhalt nach den demokratischen und damit bürgerlichen Horizont noch nicht sprengen wird.

Aber es handelt sich doch um eine bürgerliche Revolution, sagten die menschewistischen Spiesser[24] vor und nach 1905: Initiative und Führung müssen deshalb der Bourgeoisie überlassen werden (einige, folgerten sogar, man müsse Hand in Hand mit der Bourgeoisie die Macht… auf parlamentarischem Weg erobern!) Die idealistischen Volkstümler, deren höchstes Ziel die Vernichtung des gutsherrlichen Grundbesitzes war, erklärten ihrerseits, dass die Initiative und Führung der Bauernschaft zukommen sollte. Ganz anders die Bolschewiki. Bis 1917 und über 1917 hinaus beharrten sie auf der Position, dass die ökonomisch und sozial bürgerliche Revolution nur unter der Bedingung »zu Ende« (Lenin) geführt werden könnte, dass die Arbeiterklasse die Führung übernimmt: Die Arbeiterklasse muss sich in die Lage versetzen, diese Riesenaufgabe zu erfüllen; sie muss das Bewusstsein erlangen, dass die Kleinbourgeoisie, bzw. die Bauernschaft die Revolution niemals bis zur äussersten Grenze führen, sondern im Gegenteil den Rückzug erschrocken und verzweifelt antreten werden. Doch gerade durch die radikale, proletarische Führung der bürgerlichen Revolution würde sich die proletarische Perspektive eröffnen: In Verbindung mit dem revolutionären Kampf des Proletariats der fortgeschrittenen kapitalistischen Länder, mit der unabdingbaren Hilfe dieses Proletariats, den sozialen und ökonomischen Zyklus seiner eigenen Revolution zu beginnen.

Die Parameter der bolschewistischen Perspektive werden bis zur Oktoberrevolution unverändert bleiben. Was sich verändern wird, und zwar vor allem unter dem Druck internationaler Faktoren, ist das relative Gewicht der verschiedenen Klassen, das Wechselverhältnis zwischen ihnen. In einer vom Standpunkt der Produktivkräfte höchst »entwickelten« Welt legen die rückständigen Länder fünfzig Jahre in fünf Jahren zurück; die historischen Phasen drängen sich zusammen, gehen sturzweise ineinander über; Fristen verkürzen sich in Hast, und im selben Eiltempo bilden sich die Fronten des Klassenkriegs, lösen sich wieder auf, bilden sich bald wieder aufs Neue. Bereits 1850 hatten Marx und Engels in der »Ansprache an den Bund«[25] eine Reihe von Brüchen im Laufe der Klassenkämpfe in Deutschland vorausgesehen: Bruch zwischen revolutionärer Bourgeoisie einerseits und Kleinbourgeoisie und Proletariat als Verbündeten andererseits; unmittelbar darauf ein neuer Bruch: bewaffneter Kampf der Arbeiter gegen alle besitzenden Klassen; und – unter der Voraussetzung einer proletarischen Erhebung in Frankreich (im Westen würden wir bezüglich Russland sagen) – würde die Bewegung in die ausschliesslich vom Proletariat geführte, sozialistische Revolution hinauswachsen können. Aber sowohl für Marx als auch für Lenin im Jahre 1897 waren die geschichtlichen Etappen noch relativ lang. So schrieb Marx 1850, dass
»die deutschen Arbeiter nicht zur Herrschaft und Durchführung ihrer Klasseninteressen kommen können, ohne einen längeren revolutionären Entwicklungsgang durchzumachen«.[26]
Fünfzig Jahre später, in Russland, war das Tempo der Geschichte unvergleichlich schneller. Bereits 1905 hat die russische Bourgeoisie ihre ganze revolutionäre Munition verpulvert und sich in einen offenen Verbündeten des Grossgrundbesitzes und des Zarismus verwandelt. Von allen bürgerlichen und kleinbürgerlichen Klassen der demokratischen Front bleibt allein die Bauernschaft als möglicher Verbündeter zurück. Weitere zwölf Jahre später führt der internationale Kapitalismus, bzw. das reifste Produkt der internationalen kapitalistischen Entwicklung – der imperialistische Weltkrieg – den restlosen Bruch zwischen den Klassen im rückständigen Russland herbei. Das Proletariat zieht die arme Bauernschaft hinter sich her und übernimmt die Macht. Das Proletariat führt die Revolution allein.

Auch das bleibt eine universelle Lehre des Oktober, selbst wenn sie in ihrem spezifischen Inhalt nur in den geohistorischen Gebieten der Erde anwendbar ist, wo die Aufgaben einer national-revolutionären Umwälzung noch zu bewältigen sind. Nur der blinde Menschewismus der Stalinisten konnte Mitte der zwanziger Jahre per Dekret verfügen, dass der Brand der nationaldemokratischen Revolution in China sich in säuberlich voneinander abgeschlossenen Etappen zu entwickeln habe: jede Etappe müsse ihre »eigene« Führungskraft haben, jede sei restlos »abzuschliessen«, bevor man zur nächsten übergehen könne usw. Im Klartext bedeutete diese mechanistische Auffassung, dass das Proletariat sich zunächst hinter den nationalen Klassen zu scharen hätte, um dort still abzuwarten, bis die »Experten« in revolutionärer Strategie ihre Stunde für gekommen hielten. Das tragische Resultat dieser Politik, die jede Seite und jede Zeile von Lenin mit Füssen trat, war, dass man post festum feststellen konnte, dass die Stunde endgültig und unwiederbringlich vorüber war! Der Sieg in Russland 1917, wie die vernichtende Niederlage in China 1927 zeigen beide sehr deutlich, dass die Wahrheit das genaue Gegenteil von dieser Auffassung ist[27].

Und die Aussichten nach dem Siege? Es ist wichtig, sich mit ihnen zu beschäftigen, um die Probleme, die nach dem Oktobersieg auftraten, genau zu verstehen. In seiner Schrift »Zwei Taktiken der Sozialdemokratie in der demokratischen Revolution« (1905) schreibt Lenin:
»Und ein solcher Sieg [der entscheidende Sieg über den Zarismus] wird eben eine Diktatur sein, d. h. er wird sich unvermeidlich auf militärische Gewalt, auf die Bewaffnung der Massen, auf den Aufstand stützen müssen, nicht aber auf diese oder jene, auf 'legalem', 'friedlichem' Wege geschaffenen Einrichtungen. Das kann nur eine Diktatur sein, denn die Verwirklichung der für das Proletariat und die Bauernschaft unverzüglich und unabweislich notwendigen Umgestaltungen wird den erbitterten Widerstand sowohl der Gutsbesitzer als auch der Grossbourgeoisie und des Zarismus hervorrufen. Ohne Diktatur ist es unmöglich, diesen Widerstand zu brechen, die konterrevolutionären Anschläge abzuwehren. Doch selbstverständlich wird es keine sozialistische, sondern eine demokratische Diktatur sein. Sie wird (ohne eine ganze Reihe Zwischenstufen der revolutionären Entwicklung) nicht imstande sein, die Grundlagen der Kapitalismus anzutasten. Sie wird im besten Fall imstande sein, eine radikale Neuverteilung des Grundeigentums zugunsten der Bauernschaft vorzunehmen, einen konsequenten und vollen Demokratismus bis zur Errichtung der Republik durchzuführen, alle asiatischen Wesenszüge und Knechtschaftsverhältnisse im Leben nicht nur des Dorfes, sondern auch der Fabrik auszumerzen, für eine ernsthafte Verbesserung der Lage der Arbeiter, für die Hebung ihrer Lebenshaltung den Grund zu legen und schliesslich, last but not least, den revolutionären Brand nach Europa zu tragen. Ein solcher Sieg wird aus unserer bürgerlichen Revolution noch keineswegs eine sozialistische machen; die demokratische Umwälzung wird über den Rahmen der bürgerlichen gesellschaftlich-ökonomischen Verhältnisse nicht unmittelbar hinausgehen; aber nichtsdestoweniger wird die Bedeutung eines solchen Sieges für die künftige Entwicklung sowohl Russlands als auch der ganzen Welt gigantisch sein«.[28]

Und an anderer Stelle: »Wir werden alle Kräfte aufbieten, damit dieser Sieg nicht vor allem von den Herren Grossbourgeois ausgenutzt wird…Wir werden alle Kräfte aufbieten, damit dieser Sieg der Arbeiter und Bauern zu Ende geführt wird, bis zur restlosen Vernichtung all der verhassten Einrichtungen der Selbstherrschaft, der Monarchie, der Bürokratie, des Militarismus und der Leibeigenschaft. Nur ein solcher Sieg wird dem Proletariat wirkliche Waffen in die Hand geben – und dann werden wir Europa in Brand setzen, um aus der russischen demokratischen Revolution einen Prolog der europäischen sozialistischen Umwälzung zu machen.«[29] »… und das sozialistische Proletariat Europas [wird] uns, nachdem es das Joch der Bourgeoisie abgeschüttelt hat, seinerseits helfen, die sozialistische Umwälzung zu vollbringen.« Engels letzte Worte in »Soziales aus Russland«[30] erkennt man hier unverändert wieder!

Diese »Diktatur zu zweit«, diese »Demokratische Diktatur des Proletariats und der Bauernschaft«[31] wird – wie Lenin unaufhörlich wiederholt – eine ununterbrochene Folge von Kämpfen gegen die Vergangenheit und für die Zukunft darstellen. Es gibt in dieser Auffassung kein Quentchen jener idyllischen Koexistenz, jener »gottgewollten Harmonie« (Trotzki), als welche die »roten Professoren« der stalinistischen Akademien die »guten Beziehungen« zwischen Proletariat und Bauernschaft verklärten. Die guten Beziehungen zwischen Proletariat und Bauernschaft bedeuteten für die Bolschewiki die Vorstufe der revolutionären sozialistischen Umgestaltung der Gesellschaft. Dazu Lenin:
»Die Zeit wird kommen, da der Kampf gegen die russische Selbstherrschaft zu Ende und die Epoche der demokratischen Revolution für Russland vorbei sein wird; dann wird es lächerlich anmuten, vom ›einheitlichen Willen‹ des Proletariats und der Bauernschaft, von der demokratischen Diktatur usw. auch nur zu sprechen. Dann werden wir unmittelbar an die sozialistische Diktatur des Proletariats denken…« (»Zwei Taktiken…«, S. 76). »Das Proletariat muss die demokratische Umwälzung zu Ende führen, indem es die Masse der Bauernschaft an sich heranzieht, um den Widerstand der Selbstherrschaft mit Gewalt zu brechen und die schwankende Haltung der Bourgeoisie zu paralysieren.« (ebd. S.90). »Die Bauernschaft wird als grundbesitzende Klasse in diesen Kampf dieselbe verräterische, schwankende Rolle spielen wie die Bourgeoisie sie jetzt im Kampf für die Demokratie spielt.« (ebd. S. 127).
Im Bewusstsein, dass der Kleinbesitzer nach dem vollständigen Sieg der demokratischen Revolution sich zwangsläufig gegen das Proletariat wenden wird, richten die Bolschewiki ihren Blick nochmals auf die europäische Revolution: die demokratische Republik in Russland wird keine anderen Reserven haben als das sozialistische Proletariat des Westens, erklärt Lenin. Mehr noch: er betrachtet die sozialistische Revolution in Europa als einzige Garantie gegen eine Entartung der bürgerlich-demokratischen Revolution selbst (gegen einen »Thermidor« und eine Restauration):
»Eine vollständige Garantie gegen eine Restauration in Russland (nach einer siegreichen Revolution in Russland [es ging um die Frage einer »Garantie« nach dem Sieg der bürgerlich-demokratischen Revolution in Russland!]) kann einzig und allein die sozialistische Umwälzung im Westen sein. Eine andere Garantie gibt es nicht und kann es nicht geben.«[32]

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Auf die Gefahr hin, dass das revolutionäre »Epos« selbst zu kurz kommt, mussten wir uns bei der Vorgeschichte der Oktoberrevolution aufhalten, mussten wir zeigen, dass die Marxisten bereits Jahrzehnte vor der Revolution die Entwicklung und all ihre Etappen vorhergesehen hatten. Im Gegensatz zu den Ergebnissen opportunistischer Interpretationskünste war die Oktoberrevolution keine für sich dastehende »Episode«, keine »Überraschung« der Geschichte, keine noch so geniale wie unwiederholbare »Erfindung« des Individuums Lenin, sondern ein Sieg, der über Jahre hinweg im Laufe eines ununterbrochenen theoretischen und praktischen Kampfes und als Bestandteil einer weltweiten revolutionären Strategie von einer Partei, die sich einer invarianten Theorie verpflichtet hatte, vorbereitet wurde. Und hier liegt ein theoretischer Leitsatz und einen grundlegende praktische Lehre.

Kennzeichnend für diese Vorbereitung war die immer stringentere Behauptung und praktische Bestätigung wesentlicher Prinzipien: entscheidende Rolle der Klassenpartei; führende und dann herrschende Rolle des Proletariats; Notwendigkeit einer gegenseitigen Ergänzung der Revolution in Russland und Europa; unvermeidlicher Übergang von der Bündnispolitik mit der Bauernschaft (in der »bis zu Ende« geführten bürgerlichen Revolution) zum Kampf für den Sozialismus (der nur gemeinsam mit dem siegreichen Proletariat der fortgeschrittenen kapitalistischen Länder abgeschlossen werden könnte). Aus diesem »Prolog« der Revolution geht zudem eindeutig hervor, dass die Bolschewiki als Internationalisten und Verfechter des marxistischen Determinismus von vornherein jedwede Möglichkeit ausgeschlossen haben, ohne die Unterstützung einer kommunistischen Weltrevolution den »Sozialismus« in Russland »aufzubauen«.

Mit dem Ausbruch des ersten imperialistischen Weltkriegs rückte diese tausendmal verkündete, internationale Perspektive in den Bereich des Greifbaren. Ohne zu zögern erklärten die Bolschewiki, die »höchste Phase« des Kapitalismus habe begonnen. Für die gesamte, vom ersten Weltgemetzel eröffnete Epoche lautet die Alternative in allen Ländern: »Entweder imperialistischer Krieg oder Revolution«. Alle Rechtfertigungen, um die Arbeiterklasse von ihrer geschichtlichen Aufgabe abzubringen, bzw. für eine Kriegsbeteiligung zu gewinnen, werden schonungslos gebrandmarkt. Die »Vaterlandsverteidigung« ist unter keinem Vorwand zu dulden: das Proletariat hat keine »Zivilisation«, keine »Demokratie«, kein »Vaterland« zu retten oder zu schützen, und zwar um so weniger, als die imperialistischen Mächte keineswegs zur Verteidigung dieser »Werte« in den Krieg getreten sind, sondern um die Welt unter sich aufzuteilen, Märkte zu erobern, die anderen Völker noch grausamer zu unterdrücken.

Es gibt nichts zu retten oder zu verteidigen, das Proletariat muss angreifen und zerstören. Es soll den Frieden nicht erflehen, sondern den revolutionären Defätismus praktizieren, sich mit seinen Klassengenossen über den Kriegsgräbern verbrüdern, sein »Vaterland« sabotieren, »den imperialistischen Krieg in einen Bürgerkrieg verwandeln«. Sowohl die offenen Befürworter des Krieges, als auch alle Gegner der einzigen proletarischen Antwort auf den Krieg – nämlich der Revolution – sind mit derselben Entschlossenheit zu bekämpfen.

Diese Losungen kennen keine Staatsgrenzen. Sie gelten für das Proletariat in Frankreich wie in Deutschland, in England wie in Russland. Ja, selbst in Russland. Die internationale Entwicklung hat dieses Land an alle anderen Bourgeoisien der Welt und an deren Schicksal gekettet; es schwimmt mit ihnen auf derselben Blutwelle. Es ist zwar nicht entwickelt genug, um voll kapitalistisch zu sein, aber gewichtig genug, um imperialistisch auftreten zu müssen: und das gilt nicht nur für den mit den westlichen Demokratien verbündeten Zarismus, sondern auch für die bürgerliche Demokratie, die diesen Zarismus nach der Februarrevolution ablöste und womöglich ein noch grösseres Interesse an dem militärischen Sieg der Entente hatte

Die Bolschewiki verkünden also eine einzige und unmittelbare Perspektive im Weltmassstab: Die Revolution steht auf der Tagesordnung; in Russland wird sie – mindestens zu Anfang – eine »bis zu Ende geführte demokratische Revolution«, in Europa eine sozialistische sein. Lenin:
»In allen fortgeschrittenen Ländern stellt der Krieg die Losung der sozialistischen Revolution auf die Tagesordnung; diese Losung wird um so dringlicher, je schwerer die Lasten sind, die der Krieg dem Proletariat aufbürdet, und je aktiver dessen Rolle bei der Neuschaffung Europas, nach den Schrecken der modernen ›patriotischen‹ Barbarei und angesichts der gigantischen technischen Errungenschaften des Grosskapitalismus, werden muss«[33].
Doch ist das Instrument der Revolution, die sozialistische Internationale[34], zusammengebrochen: ihre Parteien stürzten in den Sozialchauvinismus oder Sozialpatriotismus und ihr versöhnlerisches »Zentrum« ist so reaktionär, ja reaktionärer als die »Rechten«. Immer dringlicher rückt die Notwendigkeit einer neuen Internationale in den Vordergrund.

Begleitet vom Hall und Widerhall dieser Erklärungen entsteht die Oktoberrevolution. Sie eröffnet einen neuen, unumkehrbaren und weltweiten Zyklus von Revolutionen unter Führung derer, die noch »Sozialdemokraten« genannt werden, doch sehr bald sich dieses »schmutzigen Hemdes« entledigen werden, um zu ihrem wissenschaftlichen, ursprünglichen Namen zurückzukehren: Kommunisten.

Die Oktoberrevolution – eine Ausnahme? Eine regelwidrige Erscheinung auf dem Weg der friedlichen Machteroberung? Die Heldentat eines einzigen Proletariats, dessen besondere Kampfbedingungen die »Ausnahme« rechtfertigen würden? Nein! Die Bestätigung der allgemeinen Regel, der Sieg von unabänderlichen und universellen, im Voraus klar festgelegten Richtlinien. Nicht zuletzt der russische Oktober entkräftet voll und ganz die absurde Legende von den »friedlichen« und »nationalen« Wegen zum Sozialismus. Wo sonst, wenn nicht gerade in Russland, wo nach allen Beteiligten die vergleichsweise »leichtesten« Bedingungen für die Machteroberung gegeben waren, hätte diese sich friedlich abspielen können. Doch selbst hier kannte die Geschichte keine anderer Methode als die bewaffnete Revolution, die eiserne Diktatur des Proletariats (das die Bauernschaft führte), die Zerstörung der demokratischen Spielregeln und Institutionen, den Internationalismus. Und nun will man uns erzählen, dass derselbe Lenin, der in Zimmerwald und Kienthal, in »Der Imperialismus als höchstes Stadium des Kapitalismus« und in den unzähligen Schriften der Kriegszeit (»Gegen den Strom«)[35] immer wieder mit seiner ganzen Überzeugungskraft auf die lebenswichtige und dringende geschichtliche Aufgabe – »den imperialistischen Krieg in Bürgerkrieg zu verwandeln« – zurückkam; derselbe Lenin, der unermüdlich an der Gründung einer auf den oben geschilderten Prinzipien beruhenden, neuen Internationale arbeitete; derselbe Lenin, der die Revolutionen im Osten und im Westen in einem einzigen Zusammenhang, als lauter Bestandteile einer einzigen Weltrevolution betrachtete und dem Proletariat überall, der proletarischen Partei in allen Ländern – welches das unmittelbare, von den objektiven Bedingungen diktierte ökonomische Programm auch jeweils sein müsste – den Weg der revolutionären Machteroberung zeigte – und nun will man uns erzählen, dass dieser selbe Lenin der Urheber der »friedlichen und nationalen Wege zum Sozialismus« gewesen sei, der Erfinder der Theorie der »friedlichen Koexistenz«: Den Autor der Schrift »Das Militärprogramm der proletarischen Revolution«[36] versucht man in einen Apostel der Friedensmärsche und in einen respektvollen Vertreter nationaler und demokratischer »Werte« zu verwandeln.

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Wir können hier nicht die Geschichte der wenigen Monate zwischen der Rückkehr Lenins nach Russland im April 1917 und dem Oktobersieg im einzelnen verfolgen (mit ihr befassen sich im Übrigen unzählige Texte und Versammlungen unserer Partei). Doch müssen die grossen Linien hervorgehoben werden, sei es, weil sie sich über die Ereignisse hinaus fortsetzen, sei es, weil man die allgemeine Tragweite der daraus folgenden Lehren unterstreichen muss.

Die wichtigsten Etappen sind allgemein bekannt: Von den »Aprilthesen«[37] bis zur Parteikonferenz im selben Monat; vom 1. Gesamtrussischen Kongress der Sowjets zu den Julikämpfen; vom 6. illegalen Parteitag im Juli zu dem Kampf gegen Kornilow im August; die intensive Bewaffnung der Partei, gerichtet zugleich auf die Wiederherstellung der marxistischen Theorie (siehe »Staat und Revolution«, Lenin, Werke, Bd. 25) und auf die Bekämpfung der Widerstände gegen den Aufstand, die sich selbst im Zentralkomitee manifestierten; vom Aufstand über den Boykott des Kerenskischen Vorparlaments zur Machteroberung und zur Bildung des Rates der Volkskommissare; von den ersten grossen Dekreten zur Auflösung der Konstituierenden Versammlung; vom Brester Frieden zur Liquidierung der letzten Bündnisreste mit den Linken Sozialrevolutionären; Beginn des Bürgerkriegs auf allen Fronten. Wenige Monate, die eine jahrzehntelange Phase der Weltgeschichte abschliessen; wenige Monate, die ihrerseits mit voller Kraft die kommenden Jahrzehnte mitprägen werden. Wo liegen die Lehren der proletarischen und kommunistischen Oktoberrevolution?

Im unmittelbaren ökonomischen Programm der Revolution, in ihren autoritären Eingriffen in die Sphäre der Produktion und des Austausches? Nein. In einer Reihe von Schriften, die vor und nach dem Aufstand veröffentlicht wurden und in dem berühmten »Referat über die Naturalsteuer«[38] von 1921 gipfeln, betont Lenin ununterbrochen im Namen der Bolschewiki, dass diese Wirtschaftsmassnahmen dazu bestimmt waren, das Land aus einem Zustand der ökonomischen Zerrüttung herauszuholen, bzw. das rückständige Russland unter Kontrolle des Proletariats auf den Weg des voll entwickelten Kapitalismus zu bringen. Genauer ausgedrückt, es ging darum, die Grundlagen des Sozialismus zu errichten, was nur durch einen harten Kampf gegen die kleinbürgerliche Zwergproduktion in Stadt und Land möglich war, wobei der Ausgang dieses Kampfes von der Ausweitung der proletarischen Revolution auf die kapitalistisch entwickelten Länder abhing. Dieses Programm verschleierte keine der Schwierigkeiten, die es zu überwinden galt; es machte keine Zugeständnisse an demagogische Euphoriestimmungen, d. h., es versprach keine Sachen zu verwirklichen, die innerhalb des isolierten Russlands unrealisierbar waren; schliesslich stand dieses Programm voll und ganz auf dem Boden der marxistischen Tradition: es genügt, einen kurzen Blick auf das »Kommunistische Manifest«[39] von 1848 oder die »Ansprache der Zentralbehörde an den Bund«[40] von 1850 zu werfen, um sich davon zu überzeugen. Im übrigen gibt es kein Argument, das die Annahme rechtfertigen könnte, ein anderes Programm wäre möglich oder überhaupt vertretbar, bzw. das beschlossene Programm »viel zu bescheiden« gewesen, wie einige von der revolutionären Begeisterung überwältigte Militanten damals geglaubt hatten. Nicht im unmittelbaren Wirtschaftsprogramm können wir also das proletarische und kommunistische Kennzeichen des Oktober finden, jenen Funken, der das internationale Proletariat in den brodelnden Jahren der ersten Nachkriegszeit in Brand steckte, denn an und für sich zeigte dieses Programm nicht den allgemeinen Weg der proletarischen Emanzipation. Wir werden im letzten Abschnitt dieser Arbeit sehr ausführlich auf diesen Punkt zurückkommen, doch ist es zum besseren Verständnis angebracht, auch hier auf dies Frage einzugehen. Das erste Ziel des unmittelbaren Wirtschaftsprogramms war die Festigung der proletarischen Macht, solange man auf die Revolution in Europa (mindestens in Europa) warten musste. Diese Revolution würde ihrerseits Russland aus seiner Rückständigkeit herausreissen; mit den Produktivkräften und technischen Mitteln, die sie durch ihren Sieg dem entwickelten Kapitalismus entreissen würde, stünden Russland die massiven Ressourcen zur Verfügung, die erforderlich waren, um den gordischen Knoten zu zerschlagen. In dieser Perspektive sollten die getroffenen oder zu treffenden Massnahmen erlauben, in Russland die besten Voraussetzungen für den Bestand der proletarischen Macht und für den späteren Übergang zur sozialistischen Umgestaltung zu schaffen. Die Nationalisierung des Bodens war die Voraussetzung, um die Landwirtschaft auf den Weg entwickelterer Formen der gesellschaftlichen Arbeit zu bringen. Die Industrie (und ihr Finanz- und Handelsapparat) sollte zunächst kontrolliert und zur Konzentration gezwungen werden, um schliesslich vom Staat geleitet zu werden. Dieser würde sie somit als eine Waffe – eine eher politische als ökonomische Waffe – anwenden können, sei es, um die Entwicklung der Landwirtschaft zu beschleunigen, sei es – im Falle einer weiteren Verzögerung der Revolution im Ausland –, um sich auf den unausbleiblichen Zusammenstoss mit der Bauernschaft vorbereiten zu können. Entscheidend war, dass dieses unmittelbare und lokale ökonomische Programm dem politischen Programm der proletarischen Revolution untergeordnet war, ja nur im Lichte dieses politischen Programms überhaupt zu verstehen ist: weltweite Diktatur der kommunistischen Partei! Der Träger dieser organischen Bindung war die internationale Partei selbst, als Führer des internationalen revolutionären Kampfes. Und wenn wir weiter vorgreifen dürfen: Erst nachdem er diese lebenswichtige Bindung zerrissen und deren Träger mit den Mitteln der staatlichen Repression physisch liquidiert hatte, konnte der Stalinismus nicht nur einen »ökonomischen Kapitalismus«, sondern auch einen »politischen Kapitalismus« entwickeln. Er machte aus dem Oktoberrussland eine grosse Nation, aus den kommunistischen Parteien die Wachhunde der Demokratie und der bestehenden Ordnung, führte sie in den zweiten imperialistischen Weltkrieg, um die Grundlagen des Kapitalismus schlechthin zu verteidigen. Aus diesem politischen Bruch und aus der Ausbeutung der von der Oktoberrevolution mühsam eroberten ökonomischen Grundlagen wuchs die Sowjetunion der friedlichen Koexistenz entgegen. Nur dieser Sieg der Konterrevolution erlaubte es der internationalen Bourgeoisie den Oktober zu feiern, ihn so gründlich zu sterilisieren, dass er in den Kulturpalästen Platz nehmen konnte, um in dieses über den Klassen schwebende »gemeinsame Gut«, für das die Bourgeoisie die Geschichte hält, einzugehen.

Doch wird der wirkliche Oktober, viel eher als mancher glauben möchte, wieder mit seiner ganzen Sprengkraft aus diesem Nichts emporsteigen, mit dieser Sprengkraft, die man vor den Augen der Arbeiterklasse so versteckt, dass diese heute keine andere Zukunft vor sich sieht, als die endlose Agonie der dekadenten bürgerlichen Gesellschaft. Aus einem treuen Gesamtbild der Revolution – zu dem auch die Wirtschaftsmassnahmen der Jahre 1917–21, in den richtigen geschichtlichen Rahmen gestellt, gehören – zeigt sich die exemplarische Bedeutung der Oktoberrevolution jedoch sehr klar und in ihrer vollen Kraft.

Von den »Aprilthesen« bis zur Gründung der Internationale zeigt die von der bolschewistischen Partei behauptete politische Linie keinen einzigen Riss. In ihrem erbitterten Kampf entledigt sie sich aller Züge, die an eine jegliche Verbindung zwischen Demokratie und Sozialismus hätten glauben lassen können:
»Das Wort Demokratie, angewandt auf die kommunistische Partei, ist nicht nur wissenschaftlich unrichtig. Es ist jetzt, nach dem März 1917, eine Scheuklappe, die man dem revolutionären Volk anlegt und die es daran hindert, frei, kühn, nach eigenem Ermessen das Neue aufzubauen: die Sowjets der Arbeiter-, Bauern und aller anderen Deputierten, als einzige Macht ›im Staate‹, als Vorboten des ›Absterbens‹ jedes Staates«[41].
Die Partei (und mit ihr die Internationale, deren Gründung durch die Bolschewiki Lenin bereits hier fordert) werden kommunistisch sein und basta.

Die Februarrevolution hatte die Macht aus den blutigen Händen des Zarismus in die Hände der Bourgeoisie gelegt und unter der Ägide der provisorischen Regierung eine parlamentarische Republik ins Leben gerufen. Diese hatte nichts Eiligeres zu tun, als den imperialistischen Krieg fortzusetzen. Doch hatte die Februarrevolution gleichzeitig eine Macht ins Leben gerufen,
»die sich nicht auf das Gesetz stützt, sondern auf die unmittelbare Gewalt der bewaffneten Bevölkerungsmassen…«[42]:
die Sowjets der Arbeiter und Soldatendeputierten. Zwei Staatsgewalten können jedoch nicht in einem Staate bestehen. Warum haben die Umstände in Russland sie miteinander verflochten? Warum trat der Petrograder Sowjet, der die ganze Staatsmacht an sich reissen konnte, diese der Bourgeoisie und ihrer provisorischen Regierung freiwillig ab?
»Die riesige kleinbürgerliche Woge hat alles überflutet« – antwortet Lenin –, »sie hat das klassenbewusste Proletariat nicht durch ihre zahlenmässige Stärke, sondern auch ideologisch überwältigt, das heisst, sie hat sehr breite Arbeiterkreise mit kleinbürgerlichen politischen Ansichten angesteckt, ergriffen.« (ebd. S. 46)
(Diese Epidemie, fügen wir hinzu, machte selbst vor einem Teil der bolschewistischen Partei nicht halt). Die Machteroberung durch die Proletarier und armen Bauern wird nur möglich sein, wenn man
»der süsslichen Limonade revolutionär-demokratischer Phrasen Essig und Galle« (ebd. S. 47)
beimischt; sie wird nur möglich sein, durch die
»Befreiung des Proletariats von dem ›allgemeinen‹ kleinbürgerlichen Taumel« (ebd.)[43].
Solange diese Bremse nicht abgeschüttelt wird, solange können die rebellierenden Massen nicht weitergehen: der Feind kann das Proletariat und die armen Bauern zurückhalten und die Waffe der direkten bürgerlichen Repression für den entscheidenden Schlag in Reserve halten.

Es handelt sich dabei keineswegs um eine rein russische Erfahrung, keineswegs um eine »nationale« Erscheinung. Dank der Erfahrung eines Dreivierteljahrhunderts proletarischer Kämpfe, dank der von Marx und Engels gezogenen Bilanz der Klassenkämpfe in Frankreich und Deutschland, konnte die bolschewistische Partei am Vorabend der Oktoberrevolution behaupten:
»Die Erfahrungen der bürgerlichen und gutsherrlichen Regierungen der ganzen Welt haben zwei Methoden der Niederhaltung des Volks gezeitigt. Die erste ist die der Gewalt. Nikolaus Romanow I., auch Nikolaus der Knüppelheld genannt, und Nikolaus II., der Blutige, haben dem russischen Volke, was diese, die Henkermethode betrifft, das Höchstmass an Möglichem und Unmöglichem gezeigt. Aber es gibt noch eine andere Methode, eine Methode, die durch eine Reihe grosser Revolutionen und revolutionärer Massenbewegungen ›klug gewordene‹ englische und französische Bourgeoisie« (die Meister und Vorbilder der Demokratie) »zur höchsten Vollkommenheit gebracht hat. Es ist das die Methode des Betrugs, der Schmeichelei, der Phrase, der millionenfachen Versprechungen, der lumpigen Bettelgaben, der Zugeständnisse im Unwichtigen, der Erhaltung des Wichtigen.« (ebd. S. 48)

Diese Lehre gilt uneingeschränkt auch für alle späteren Revolutionen. Und um die Bourgeoisie in ihren beiden »Methoden der Niederhaltung des Volkes« zu besiegen, muss die proletarische Revolution den Träger des Betrugs in den Reihen des Proletariats, die Bettelinstanz, die kleinbürgerliche Ideologie (ob diese nun in der Kleinproduktion oder in der Existenz einer Arbeiteraristokratie begründet liegt) zerstören:
»Die Führer des Kleinbürgertums müssen« (es handelt sich dabei um eine materielle, durch Klassenverhältnisse bestimmte Tatsache) »das Volk lehren, der Bourgeoisie zu vertrauen. Die Proletarier müssen das Volk lehren, ihr zu misstrauen.« (ebd. S49)
Das war die erste Lehre, worauf die Kommunistische Internationale beruhen wird. Sie richtet sich heute voll und ganz gegen die »Feierveranstalter« die Totengräber des Kommunismus. Die Revolution schuf einen Graben zwischen den Klassen, spaltete die Gesellschaft in zwei Klassenlager, trennte das Proletariat von allen anderen Klassen. Erst auf dieser Grundlage konnte das Proletariat die armen Bauern an sich reissen und führen. Gerade diese radikale Klassenspaltung zeigt ihren proletarischen und kommunistische Charakter: allen anderen Parteien, alle diese Parteien, die auf der süssliche Limonade der demokratischen Phrasen schwammen, wurden liquidiert. Deshalb konnten die Bolschewiki 1918 ausrufen: »Unsere Revolution begann als Weltrevolution«; deshalb können wir es heute wiederholen.

Die »Aprilthesen« – ein Kurswechsel der bolschewistischen Partei? Nein! Sie waren die energische Reaktion auf die Preisgabe des Programms seitens der »Versöhnler« innerhalb der Partei selbst[44]. Denn, was war die neue demokratische Regierung, wenn nicht, wie Lenin behauptete,
»eine Regierung der Fortsetzung des imperialistischen Krieges« (ebd. S. 42)?
Nur durch den Sturz der Herrschaft des Kapitals kann man aus dem Krieg »herausspringen« (Lenin). Dafür muss man den Defätismus in die Armee hineintragen, die Solidarisierung der Soldaten an den Fronten fördern, den imperialistischen Krieg in Bürgerkrieg verwandeln:
»Denn die Frage des Krieges kann, objektiv gesehen, nur revolutionär gestellt werden.« (ebd. S.65)
Aber soll man nicht das Vaterland revolutionär verteidigen? Nein. Erst die Diktatur des Proletariats, die mit dem imperialistischen Krieg gebrochen haben wird, wird man revolutionär verteidigen können. Lenin:
»Der bedeutendste und prägnanteste Ausdruck der kleinbürgerlichen Woge, die ›fast alles‹ überflutet hat, ist unzweifelhaft die revolutionäre Vaterlandsverteidigung. Gerade sie ist der schlimmste Feind der weiteren Entwicklung und des Erfolgs der russischen Revolution.« (ebd. S 49)

Beteiligung an der »Vaterlandsverteidigung« unter dem Vorwand, die demokratischen Errungenschaften der Februarrevolution seien bedroht; kleinbürgerliche Träume von einer Verständigung zwischen den kriegführenden Regierungen; Aufrufe an den »guten Willen«; »Kundtun des Friedenswillens der Völker«; Forderung nach Abrüstung – gegen diese ganze Propaganda der
»Internationalisten in Worten, Helfershelfer des Sozialchauvinismus in der Tat« (ebd. S. 50, 51, 66),
gegen dieses ganze Reich der »Phrasendrescherei«, der »leeren, naiven, frommen Wünsche von Kleinbürgern« entfesselte sich die bolschewistische Kritik. Lenin zufolge stellen die Sozialchauvinisten und ihre »zentristischen« Helfershelfer eine materielle, objektive Erscheinung dar: Sie verteidigen direkt oder indirekt die Herrschaft der Bourgeoisie. Und wenn die russische Revolution den ersten Schritt bereits getan hat, so muss sie jetzt den zweiten tun:
»Erst der zweite Schritt kann seine Beendigung [des Krieges] sicherstellen, nämlich der Übergang der Staatsmacht an das Proletariat.« (ebd. S. 52)
Und hier wird wieder klar, dass die Oktoberrevolution das erste Kapitel der proletarischen Weltrevolution war:
»Das wird der Anfang des ›Durchbruchs der Front‹, der Front der Interessen des Kapitals im Weltmassstab sein, und erst nachdem das Proletariat diese Front durchbrochen hat, kann es die Menschheit von den Schrecken des Krieges erlösen, ihr das Glück eines dauerhaften Friedens sichern.« (ebd. S.52)
Für den Pazifismus gibt es im Programm der Oktoberrevolution keinen Platz: Krieg dem Krieg bedeutet hier, alle Mittel des revolutionären Defätismus bis zur bewaffneten Machtergreifung des Proletariats in Gang zu setzen; erst dann, erst wenn die Front der Interessen des Kapitals im Weltmassstab zerstört ist, kann Frieden herrschen.

Der Kampf der Bolschewiki gegen die »Vorwände« welche die kleinbürgerliche Ideologie auf den Plan ruft, um das Proletariat an die Karre des imperialistischen Massakers zu ketten, wird zwischen Februar und Oktober dauernd an Dimension gewinnen. Die Partei entfaltet eine gigantische, ununterbrochene Anstrengung, um das Proletariat davon zu überzeugen, dass man die Macht ergreifen muss, und sei es nur, um dem schrecklichen Blutopfer des Weltkrieges ein Ende zu setzen. Und mit dem Blick auf jene Lösung im Weltmassstab, wird die bolschewistische Partei nach der Machteroberung den unerhört schweren und erniedrigenden Friedensvertrag von Brest-Litowsk, ihren »Tilsiter Frieden«, mit dem deutschen Imperialismus im März 1918 unterzeichnen – nicht aus Pazifismus, sondern im Namen der internationalen proletarischen Revolution. Wäre die Revolution in Europa auf der Welle des Oktobersieges sofort ausgebrochen, dann hätten sich die Bolschewiki mit diesem Problem nicht einmal befassen müssen. Da sie aber dazu gezwungen waren, nahmen sie den »schändlichen Frieden« hin in der Gewissheit, dass trotz der härtesten Bedienungen der Rückzug aus dem imperialistischen Krieg nicht nur die proletarische Diktatur in Russland festigen, sondern auch den Defätismus in den Reihen der sich auf den europäischen Schlachtfeldern nach wie vor bekämpfenden imperialistischen Armeen fördern würde. Aber die Bolschewiki nahmen die Friedensbedingungen auch im Interesse einer ernsthaften Vorbereitung des revolutionären Krieges an. Sie wussten durchaus, dass ein solcher Krieg notwendig sein würde, sei es als Verteidigungskrieg (um einen vorhersehbaren Angriff der ausländischen Bourgeoisien zurückzuschlagen), sei es als Angriffskrieg (um die imperialistische Umzingelung zu durchbrechen und einer im Westen ausgebrochenen Revolution zu Hilfe zu eilen). Nach dem Oktober wie vor dem Oktober findet man keinen Tropfen Pazifismus im Programm der Revolution. In seinem »Referat über Krieg und Frieden« vom 7. März 1918 erklärt Lenin:
»Unsere Losung muss allein sein: das Kriegswesen wirksam erlernen…«[45];
er wendet sich an die ungeduldigen Genossen, die sofort an die Front des revolutionären Weltkriegs ziehen wollen:
»Nehmt die Atempause wahr, nachdem ihr sie bekommen habt, und sei es für eine Stunde, um Kontakt mit dem fernen Hinterland zu unterhalten, um dort neue Armeen aufzustellen.« (ebd.)
Und er wird in »Die proletarische Revolution und der Renegat Kautsky«[46] eine prägnante dialektische Zusammenfassung der Beziehungen von Revolution und Armee liefern: jede grosse Revolution hat zunächst die Armee zersetzt, hat die alte Armee nach dem Sieg zerstört, entlassen, um dann eine neue Armee aufzubauen. Der Spiesser mit seiner Ehrfurcht vor den »nationalen Grenzen« wird hier sofort einwenden: Es handelte sich doch um den »inneren« Bürgerkrieg. Doch für Lenin und alle Marxisten sind Revolution und Bürgerkrieg »internationale Erscheinungen«. Sie können zu »Feuerpausen« gezwungen werden; sie erkennen aber keine nationalen Grenzen an und dulden keine prinzipielle Selbsteinschränkung. Aber auf der Höhe dieser Erkenntnis stehen nur die Revolutionäre – und die konterrevolutionäre Bourgeoisie, die in ihrer ganzen Praxis davon ausgeht.

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Die Frage der Revolution ist von der Staatsfrage untrennbar. Die Reformisten hatten die marxistische Lehre vom Staat entstellt und »vergessen«. Die Bolschewiki haben sie vollkommen wiederhergestellt; damit haben sie die gewaltige Bedeutung der Oktoberrevolution gewissermassen vorweggenommen. Die heutigen Revisionisten, Totengräber des Bolschewismus, Veranstalter von Jahresfeiern, hatten es nicht so leicht, diese Tatsache aus dem Gedächtnis des Proletariats gänzlich zu verdrängen. Umso mehr konzentrieren sie ihre Bemühungen auf die Entstellung der grundlegenden marxistische Texte und auf die Verschüttung der überzeugendsten Lehre des revolutionären Kampfes.

Die Bolschewiki schlugen denselben geschichtlichen Weg wie die Pariser Kommune ein, den Weg, den Marx und Engels ihr Leben lang vertreten hatten. Nicht umsonst forderte Lenin in den »Aprilthesen« die Änderung des Parteiprogramms nicht zuletzt bezüglich der »Stellung zum Staat und unsere Forderung eines ›Kommunestaates‹«[47]. Die Partei wurde theoretisch ausgerüstet, um auf die Sowjets einen entscheidenden Einfluss gewinnen zu können, bzw. damit diese Sowjets ihrerseits das Joch der Phrasendrescherei und der Verquickung mit der bürgerlichen Regierung abschütteln können. Die Partei musste die marxistische Staatstheorie in die Sowjets hineintragen, die Sowjets die Plattform der Partei übernehmen. Dann würden sie ausrufen können: »Keinerlei Unterstützung der Provisorischen Regierung« (ebd. S. 4); dann würden sie ausrufen können: »Keine parlamentarische Republik« (ebd. S. 5); dann würden sie die geschichtlich unhaltbare »Doppelherrschaft« revolutionär beenden, die ganze Macht an sich reissen. Also kein gradueller Übergang von der ersten zur zweiten Etappe: eine solche Entwicklung ist ausgeschlossen und diesbezügliche Hoffnungen wären selbstmörderisch.
»Die ganze Macht den Sowjets«, eine Macht,
»die sich nicht auf das Gesetz und nicht auf Wahlen stützt, sondern unmittelbar auf die bewaffnete Macht…« der Massen[48].
Hier handelt es sich um einen qualitativen Sprung: Zerstörung der bürgerlichen Staatsmaschine; Errichtung einer neuen. War die erste eine Diktatur, so nicht minder die zweite, jedoch entgegengesetzter Klassennatur. Ein Klassenstaat, wie jeder Staat in der Geschichte. Ein Zwangsapparat, um den Klassenfeind zu unterdrücken. Nichts anderes hat der bürgerliche Staat ununterbrochen getan, allerdings hat er es geleugnet. Das Proletariat wird es tun und sagt es offen: seine Herrschaft errichtet sich nicht auf Lüge und Betrug.

Aber – das ewige »aber« des »arbeiterfreundlichen«, »progressiven« Bildungsbürgers – dieser »qualitative Sprung«, diese Sache mit dem bewaffneten Aufstand, der Diktatur, dem roten Terror usw. (kurzum die Abschaffung der »reinen Demokratie« der Bourgeois), das war doch alles nur nötig wegen der geschichtlichen, geographischen, ja rassischen Eigenarten Russlands! Russland ist doch eben anders als die anderen Länder! Warum sollte man in den anderen Ländern keinen anderen Weg einschlagen können? Nun, das geht eben nicht, und gerade Lenins Schrift »Staat und Revolution« liefert auf diese Frage eine definitive Antwort:
1. »Dieser [der bürgerliche Staat] kann durch den proletarischen Staat (die Diktatur des Proletariats) nicht auf dem Wege des ›Absterbens‹ abgelöst werden, sondern, als allgemeine Regel, nur durch eine gewaltsame Revolution.«[49]
2. »Die Lehre vom Klassenkampf, von Marx auf die Frage des Staates und der sozialistischen Revolution angewandt, führt notwendig zur Anerkennung der politischen Herrschaft des Proletariats, seiner Diktatur, d. h. einer mit niemand geteilten und sich unmittelbar auf die bewaffnete Gewalt der Massen stützenden Macht.« (ebd. S. 416)
»›Der Staat, das heisst das als herrschende Klasse organisierte Proletariat‹«[50] »- diese Theorie von Marx ist untrennbar verbunden mit seiner ganzen Lehre von der revolutionären Rolle des Proletariats in der Geschichte. Die Vollendung dieser Rolle ist die proletarische Diktatur, die politische Herrschaft des Proletariats.
Wenn aber das Proletariat den Staat als eine besondere Organisation der Gewalt gegen die Bourgeoisie braucht, so drängt sich von selbst die Frage auf, ob es denkbar ist, eine solche Organisation zu schaffen ohne vorherige Abschaffung, ohne Zerstörung der Staatsmaschine, die die Bourgeoisie für sich geschaffen hat.«
(ebd. S. 417)
3. »Das Wesen der Marx’schen Lehre vom Staat hat nur erfasst, wer begriffen hat, dass die Diktatur einer Klasse nicht nur schlechthin für jede Klassengesellschaft notwendig ist, nicht nur für das Proletariat, das die Bourgeoisie gestürzt hat, sondern auch für die ganze historische Periode, die den Kapitalismus von der 'klassenlosen Gesellschaft', vom Kommunismus trennt. Die Formen der bürgerlichen Staaten sind ausserordentlich mannigfaltig, ihr Wesen ist aber ein und dasselbe: Alle diese Staaten sind so oder so, aber in letzter Konsequenz unbedingt eine Diktatur der Bourgeoisie. Der Übergang vom Kapitalismus zum Kommunismus muss natürlich eine ungeheure Fülle und Mannigfaltigkeit der politischen Formen hervorbringen, aber das Wesentliche wird dabei unbedingt das eine sein: die Diktatur des Proletariats.« (ebd. S. 425)

Die Forderung der Diktatur des Proletariats für eine ganze historische Periode ist keineswegs ein subjektiver Anspruch dieser Klasse: Sie ist nichts anderes als der politische Ausdruck einer objektiv gegebenen Notwendigkeit, die damit zusammenhängt, dass Bourgeoisie und Proletariat die zwei einzigen Hauptakteure in der Geschichte unseres Zeitalters sind (sie sind es selbst im Rahmen einer Doppelrevolution, trotz der beachtlichen Rolle, welche die unvermeidlich schwankende, städtische und ländliche Kleinbourgeoisie bei einer solchen Umwälzung spielt):
»Die Herrschaft der Bourgeoisie stürzen kann nur das Proletariat als besondere Klasse, deren wirtschaftliche Existenzbedingungen es darauf vorbereiten, ihm die Möglichkeit und die Kraft geben, diesen Sturz zu vollbringen. Während die Bourgeoisie die Bauernschaft und alle kleinbürgerlichen Schichten zersplittert und zerstäubt, schliesst sie das Proletariat zusammen, einigt und organisiert es. Nur das Proletariat ist – kraft seiner ökonomischen Rolle in der Grossproduktion – fähig, der Führer aller werktätigen und ausgebeuteten Massen zu sein, die von der Bourgeoisie vielfach nicht weniger, sondern noch mehr ausgebeutet, geknechtet und unterdrückt werden als die Proletarier, aber zu einem selbständigen Kampf um ihre Befreiung nicht fähig sind… Das Proletariat braucht die Staatsmacht, eine zentralisierte Organisation der Macht, eine Organisation der Gewalt sowohl zur Unterdrückung des Widerstands der Ausbeuter als auch zur Leitung der ungeheuren Masse der Bevölkerung, der Bauernschaft, des Kleinbürgertums, der Halbproletarier, um die sozialistische Wirtschaft ›in Gang zu bringen‹.« (ebd. S. 416)

Dieser Passus ist grundlegend. Die ganze Erfahrung der Monate, die dem Oktober vorausgingen, hatte in der Tat gezeigt, dass die Kleinbourgeoisie die aufsteigende revolutionäre Bewegung zwangsläufig abbremst. Ihrem zersetzenden Einfluss war es zu verdanken, dass der Sowjet, jene einzig mögliche Form der revolutionären Regierung, seit Februar vor seiner geschichtlichen Aufgabe – die ganze Macht zu ergreifen und mit niemandem zu teilen – zurückwich. Diese Erfahrung hat eine allgemeine Bedeutung, sie ist ein Faktor der »sozialen Mechanik«, der überall die kommunistische Revolution in Gefahr bringen kann: Es handelt sich um das Gewicht all jener sozialen Schichten, die bewusst oder unbewusst einen Kompromiss mit der Bourgeoisie anstreben (und dieses Gewicht ist nicht allein Funktion der zahlenmässigen Stärke und ökonomischen Bedeutung dieser Schichten selbst, sondern wird ebenso determiniert von der Macht der Bourgeoisie und ihres Staates). Das revolutionäre Proletariat musste die Staatsmacht selbständig in seine Hände nehmen – anders war der Sieg der Revolution auch im kleinbürgerlichen Russland nicht möglich. Dafür brauchte das Proletariat politische Organe, die es als herrschende Klasse organisieren. Doch warnt Lenin unaufhörlich anhand der Erfahrung der ersten Monate der Revolution, dass es sich dann »nicht um die jetzigen Sowjets« handeln könnte, »Organe des Paktierens mit der Bourgeoisie«, sondern nur um Sowjets als »Organe des revolutionären Kampfes gegen die Bourgeoisie«, die mit dem neuen Aufstieg der revolutionären Welle in Erscheinung treten könnten und müssten. Damit wird die Frage der Revolution zur Frage der Partei. Nur durch die Parteiführung können sich die Sowjets auf die Höhe ihrer Aufgaben erheben; nur durch die Diktatur der Partei können sie sich aus formlosen Parlamenten der Arbeit in Organe der Diktatur des Proletariats verwandeln. Dieser objektiven Notwendigkeit einer festen, zentralisierten, unnachgiebigen proletarischen Führung der Massen wird der Oktober gerecht. Gestützt auf die bewaffnete Macht der Arbeitermassen erobert die Partei totalitär und gewaltsam die Macht und zerschlägt alle Einrichtungen und Instanzen der Zusammenwürfelung von Proletariat und Bourgeoisie, der gegebenen oder möglichen Klassenkollaboration, der Unterwerfung des revolutionären Proletariats unter seine Vergangenheit als ausgebeutete und unterdrückte Klasse: die demokratische Fiktion wird liquidiert, das Vorparlament boykottiert, die konstituierende Versammlung auseinandergejagt. Despotische Eingriffe in die Wirtschaft und der Aufbau einer neuen Armee auf den Trümmern der demokratisch-zaristischen werden folgen.

Auch darin war Lenin exemplarisch: Er verzichtete auf die Vollendung seines Manuskripts »Staat und Revolution« und übernahm stattdessen die Führung des Aufstandes. Es hätte keinen Sinn gehabt, den Weg zur Macht theoretisch aufzuzeigen, wenn man diesen Weg zum gegebenen Zeitpunkt nicht einschlagen würde. Sieger oder Besiegter, durch den Kampf bereitet man die Zukunft vor.[51]
»Natürlich, der endgültige Sieg des Sozialismus in einem Lande ist unmöglich… Mehr als alle Proklamationen und Konferenzen wirkt das lebendige Beispiel, die Inangriffnahme des Werkes in irgendeinem Lande, daran entzünden sich die werktätigen Massen in allen Ländern«[52],
schrieb Lenin im Januar 1918. Und im Juli 1918, zu Beginn des Bürgerkriegs:
»…als wir, eine proletarische, kommunistische Partei, an die Macht gelangten, zu einer Zeit, da in den anderen Ländern die kapitalistische bürgerliche Herrschaft noch erhalten blieb – ich wiederhole, es war unsere vordringlichste Aufgabe, diese Macht zu behaupten, damit von dieser Fackel des Sozialismus weiterhin möglichst viele Funken auf den sich verstärkenden Brand der sozialistischen Revolution fallen.«[53]

So hört sich die Lehre der Oktoberrevolution an! Für die Feierveranstalter und Totengräber hingegen bedeutet sie nichts anderes als die Entwicklung des »Handels in Gleichheit«, des »schmerzlosen Weges« zu dem, was sie »Sozialismus« nennen – des lebendige Beispiel soll für immer im russischen Boden begraben liegen.

Die Partei führt die Massen. Führt sie zunächst in der Machteroberung durch die Sowjets, durch die im Kampf gestählten und gesäuberten Sowjets; führt sie dann im gigantischen Kampf zur
»…schonungslose[n] Unterdrückung des Widerstandes der Ausbeuter, denen nicht mit einem Schlage ihre Reichtümer, die Vorzüge ihrer Organisiertheit und ihres Wissens genommen werden können…« –, d. h. die Ausbeuter werden »…im Laufe einer ziemlich langen Periode unweigerlich versuchen, die verhasste Macht der Armen zu stürzen.«[54]
Doch das ist nur eine Seite des Kampfes. Auch gegen des Gewicht der Traditionen und Laster der Vergangenheit, gegen den Einfluss der kleinbürgerlichen Ideologie, die durch alle Poren dieser in einem schmerzhaften Umbruch begriffenen Gesellschaft hindurchdringt, muss man nicht weniger hartnäckig kämpfen. Wie führt man dabei die Massen? Es genügt nicht, sie zu erziehen. Die immer wieder entstehenden Kräfte der Vergangenheit müssen ja neutralisiert und unterdrückt werden:
»…jede grosse Revolution, und ganz besonders eine sozialistische, auch wenn es keinen äusseren Krieg gegeben hätte, [ist] undenkbar ohne einen Krieg im Innern, d. h. einen Bürgerkrieg, der eine noch grössere Zerrüttung als ein äusserer Krieg bedeutete, der Tausende und Millionen Fälle des Schwankens und Überlaufens von der einen Seite auf die andere bedeutet, der einen Zustand grösster Unbestimmtheit und Unausgeglichenheit, einen Zustand des Chaos bedeutet. Und selbstverständlich müssen bei einer so tiefgreifenden Umwälzung alle Elemente der Zersetzung der alten Gesellschaft, die unvermeidlich recht zahlreich sind, die vorwiegend mit dem Kleinbürgertum zusammenhängen… zwangsläufig ›zur Geltung kommen‹… Um damit fertig zu werden, braucht man Zeit und braucht man eine eiserne Hand.« (ebd.)
Also eine diktatorische Führung. Der schonungslose Kampf auf allen Fronten, der Krieg gegen die unvermeidliche, offene wie unterschwellige, innere wie von Aussen hineingetragene Konterrevolution der nationalen und internationalen Bourgeoisie, dieser Kampf verlangt die diktatorische Kontrolle einer einzigen Klasse über alle Elemente der Zersetzung der alten Gesellschaft, die unaufhörlich aus den Reihen der Zwischenklassen wieder entstehen und den Fortschritt der Revolution bedrohen.

Aus allen diesen Gründen – keinen dieser Gründe darf man auslassen –, und infolge dieses Kampfes gegen die konterrevolutionäre Bourgeoisie und gegen die Zersetzung der proletarischen Reihen, gebraucht das Proletariat seinen Staat
»›… nicht im Interesse der Freiheit, sondern der Niederhaltung seiner Gegner…‹«[55], bedeutet die Diktatur eine »…Verletzung der ›reinen Demokratie‹…« (ebd. S. 255): »›… die Partei, die‹ (in der Revolution) ›gesiegt hat, muss ihre Herrschaft durch den Schrecken, den ihre Waffen den Reaktionären einflössen, behaupten.‹« (ebd. 250)[56]
Auch wenn es keinen äusseren Krieg geben sollte, ist der rote Terror die politische Manifestation der proletarischen Diktatur, eine Waffe, mit der sie in die ökonomischen und gesellschaftlichen Verhältnisse eingreift, ein Werkzeug ihrer militärischen Aktion[57].

Und ebenso aus allen diesen Gründen setzt die Diktatur des Proletariats die Existenz der politischen Partei dieser Klasse voraus.

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Herrschaft des Proletariats – Herrschaft der Partei. Beide Begriffe sind untrennbar. Bereits im »Kommunistischen Manifest« waren sie untrennbar: das
»als herrschende Klasse organisierte Proletariat«[58] ist undenkbar ohne die »Organisation der Proletarier zur Klasse, und damit zur politischen Partei«[59].

Die Geschichte der Oktoberrevolution ist die Geschichte von zwei entgegengesetzten Bewegungen und wo sich die Linien dieser Bewegungen berühren, erfolgt ein blutiger Zusammenstoss. Die Massen entfernen sich von der provisorischen Regierung, verlassen die Front des imperialistischen Krieges, drängen zum Aufstand, verlangen Waffen und keine Wahlzettel, prallen auf den Strassen mit den Ordnungskräften zusammen. Jene »Arbeiterparteien« dagegen, die in Wirklichkeit die Schwankungen, die Feigheit, die Unterwürfigkeit der Kleinbourgeoisie zum Ausdruck bringen, verschmelzen sich immer mehr mit der provisorischen Regierung, reihen sich eine nach der anderen in die Front des imperialistischen Krieges und der parlamentarischen Demokratie ein, verteidigen die bestehende Ordnung und versuchen, sie zu festigen. Daher erscheint die Partei, die seit dem April unaufhörlich zur Zerschlagung der verdammten Kriegsfront, zur Bewaffnung der Massen, zur Machteroberung durch das Proletariat und die armen Schichten der Bauernschaft aufgerufen hatte auf der politischen und gesellschaftlichen Bühne immer deutlicher als die einzige Partei der Revolution und der Diktatur. So will es die Dynamik der Revolution selbst. Nach der Kraftprobe der Auflösung der konstituierenden Versammlung verbleibt dieser Partei nur noch ein einziger, möglicher Verbündeter, die linken Sozialrevolutionäre, politische Vertreter der revolutionären Bauernschaft. Der Brester Frieden wird dieses letzte Band zerreissen. Und im Laufe des Bürgerkriegs, bis zu Kronstadt und selbst später, wird die proletarische Macht auf Schritt und Tritt mit den Überbleibseln dieser demokratischen, populären, zentrifugalen und anarchistischen Gruppierungen und Parteien der alten Gesellschaft zusammenstossen und sie aus dem wegräumen, um voranschreiten zu können. Auch die Diktatur der Partei ist kein blosser »subjektiver Anspruch«.

Diese Entwicklung der politischen und sozialen Kräfte stellte nichts Neues dar. In ihrer Untersuchung der Klassenkämpfe in Frankreich und Deutschland hatten Marx und Engels sehr deutlich gezeigt, dass die Gruppen und Parteien, welche die kleinbürgerlichen Schichten vertreten und deren ökonomischen Interessen und Ideologie verkörpern, zwangsläufig nach und nach auf die Seite des Feindes überwechseln müssen. Die Grösse der Bolschewiki bestand darin, zum ersten Mal in der Geschichte der Arbeiterbewegung aus dieser harten negativen Lehre einen positiven Faktor des Erfolgs gemacht zu haben. Sie liessen sozusagen die Toten die Toten begraben und übernahmen allein – grossartig allein – die Verantwortung der Macht. Nichts hat sie dabei beirren können, nicht einmal die zögernde Haltung und die »demokratischen Skrupel« einiger ihrer eigenen Genossen (Genossen, die auf eine lange Vergangenheit als kommunistische Militanten zurückblicken konnten, jedoch vor dem Aufstand, diesem »Sprung ins Ungewisse«, zurückschreckten«, nicht einmal die unvermeidlichen Desertionen. Selbst auf solche Erscheinungen waren sie gefasst. Sie gingen über sie hinweg und eröffneten die Ära der Parteidiktatur des Proletariats. Die Revolution »ionisiert« die Gesellschaft. Die gesunden proletarischen Energien hatten sich vom verworrenen Bündel der gesellschaftlichen Kräfte abgelöst und scharten sich um die Partei. Die historische Notwendigkeit selbst machte aus der Revolution des Proletariats die Revolution einer einzigen Partei. Die Herrschaft des Proletariats konnte nicht anders zum Ausdruck kommen als durch die Herrschaft der Partei, die zugleich sein theoretisches Bewusstsein, seinen organisierten Willen und seine Waffe für die Eroberung und Ausübung der Macht darstellte. Und das war der Sieg.

Wie immer die qualitativen Sprünge der russischen Revolution mit der Erfahrung dies internationalen proletarischen Kampfes verbindend, hatte Lenin bereits im September 1917 geschrieben:
»Dieses schmähliche Ende der Parteien der Sozialrevolutionäre und Menschewiki ist kein Zufall, sondern resultiert – wie das die Erfahrungen in Europa oftmals bestätigt haben – aus der ökonomischen Lage der Kleinbesitzer, des Kleinbürgertums«[60].
So liess sich die Partei in ihrem »einsamen Weg« zur Macht nicht von solchen Organisationen bedingen. Sie versuchte nicht, die wirkliche Bewegung der Massen aus einer »Seelenerforschung« diese Träger kleinbürgerliche Zaghaftigkeit und nicht einmal aus dem unmittelbaren Zustand der Massenorganisationen herauszulesen (sie wusste, dass letztere auch die schwachen Seiten der Massen, den Hang zur »Nachtrabpolitik«, die Trägheitskraft der alten Gesellschaft zum Ausdruck bringen). Allein die Theorie, die auf eine Bilanz der vergangenen Klassenkämpfe beruht, erlaubt die Vorhersage der materiell determinierten Klassenkräfte im entscheidenden Augenblick; sie allein erlaubt die exakte Feststellung, dass die Stunde gekommen ist, nicht um die Revolution zu »machen«, sondern um sie zu führen.

Und geführt wird diese Revolution – das muss man ständig wiederholen – nicht nur bei der Machteroberung. Die Machteroberung ist nur der erste – und langfristig vorbereitete – Akt des gesellschaftlichen Dramas. Es geht um die ganze historische Phase der Diktatur des Proletariats. Der Feind wird sofort wieder den Kopf erheben. Um die eroberte Macht auszuüben, braucht des Proletariat mehr den je die Partei (eine einzige Partei). So wird Lenin 1920 dem westlichen Proletariat die Lehre, die er Jahre früher bei ihm geholt hatte, bereichert durch die Erfahrungen der Diktatur und des Bürgerkrieges, zurückgeben:
»Die Diktatur des Proletariats ist der aufopferungsvollste und schonungsloseste Krieg der neuen Klasse gegen einen mächtigeren Feind, gegen die Bourgeoisie, deren Widerstand sich durch ihren Sturz (sei es auch nur in einem Lande) verzehnfacht und deren Macht nicht nur in der Stärke des internationalen Kapitals, in der Stärke und Festigkeit der internationalen Verbindungen der Bourgeoisie besteht, sondern auch in der Macht der Gewohnheit, in der Stärke der Kleinproduktion… Ohne eine eiserne und kampfgestählte Partei, ohne eine Partei, die das Vertrauen all dessen geniesst, was in der gegebenen Klasse ehrlich ist, ohne eine Partei, die es versteht, die Stimmung der Massen zu verfolgen und zu beeinflussen, ist es unmöglich, einen solchen Kampf erfolgreich zu führen… Wer die eiserne Disziplin der Partei des Proletariats (besonders während seiner Diktatur) auch nur im geringsten schwächt, der hilft faktisch der Bourgeoisie gegen das Proletariat.«[61]
Die Diktatur des Proletariats bedeutet Zentralisation und Disziplin und damit Diktatur der Partei. Einige Monate später, Anfang 1921, brachte Trotzki denselben Gedanken lapidar zum Ausdruck, mit dem Vorteil, zugleich die Voraussetzungen dieser eisernen Disziplin und effektiven Zentralisation der Partei aufzuzeigen: die programmatische und organisatorische Kontinuität und die vollkommene Übereinstimmung der jeweiligen Taktik mit dieser Kontinuität. Auf diese unabdingbaren Voraussetzungen für die Zentralisation und Disziplin der kommunistischen Partei hat unsere Strömung auf den Kongressen der Komintern unaufhörlich hingewiesen. Es geht nicht etwa um »ästhetische Überlegungen«, sondern um lebensnotwendige Erfordernisse der revolutionären Bewegung. Trotzki:
»Nur mit Hilfe einer Partei, die sich auf ihre historische Vergangenheit stützt, die theoretisch den Gang der Entwicklung und alle ihre Etappen voraussieht und daraus den Schluss zieht, welche Form der Aktion im gegebenen Moment die richtigste ist,« (man muss genau lesen: die Partei zieht den Schluss zur richtigen Taktik aus der theoretischen Vorhersage der geschichtlichen Entwicklung der Geschichte und nicht aus einer passiven Beobachtung der Geschichte, um mit unvorhersehbaren »Entdeckungen« hinter dieser herzueilen!) »kann sich das Proletariat von der Notwendigkeit befreien, seine Geschichte, seine Schwankungen, seine Unentschlossenheit und seine Fehler zu wiederholen.«[62]
Genau das Gegenteil von der theoretischen Laschheit, vom Eklektizismus und seiner unvermeidlichen Begleiterscheinung, der improvisierten Praxis, die in den kleinbürgerlichen und reformistischen »Arbeiterparteien« so tief verwurzelt sind.

Als Lenin und Trotzki diese Zeilen schrieben, hatten sie weniger die kurze Phase des Aufstands, der Auflösung der konstituierenden Versammlung, des Bruchs mit den linken Sozialrevolutionären, als vielmehr sie schrecklichen Jahre des Bürgerkriegs vor Augen. Die Kraft, die sie darin beschwören, gerade diese Kraft, die den Sieg im Oktoberaufstand und im Bürgerkrieg ermöglichte, wird die künftige Revolution bei Strafe des Untergangs wiederfinden müssen. Die grundlegende Lehre, die daraus hervorgeht, liesse sich so zusammenfassen: Wenn die Arbeiterklasse auf der geschichtlichen Bühne in mehrere Parteien aufgespalten auftritt (oder gar auf der parlamentarischen, was noch schlimmer ist, aber Russland im Jahre 1917 kaum betrifft), dann besteht die Lösung keineswegs in einer Aufteilung der Macht unter diesen Parteien, sondern in der restlosen Liquidierung all jener als Arbeiterparteien verkleideten Lakaien des Kapitals, bis die ganze Macht in den Händen der einzigen Klassenpartei liegt.

Dieses Prinzip der Parteiherrschaft findet man wortwörtlich im Werk von Marx und Engels, namentlich in ihrer langen Polemik mit den Anarchisten, die sich der Autorität des Generalrats der I. Internationale widersetzten. Es gehört zu den hervorstechendsten Merkmalen der grossen Revolutionen, dass sie die allgemeingültigen Prinzipien der Theorie und des Programms in einem hellen, alle Konturen scharf abzeichnenden Licht erscheinen lassen. Selbst wenn diese Revolutionen schliesslich besiegt werden, bleiben sie deshalb wahre Energiespender für die späteren Kämpfe. So waren die »Leitsätze über die Rolle der Kommunistischen Partei in der proletarischen Revolution«, die der zweite Kongress der Komintern 1920 – am Ende des Bürgerkrieges – annahm, an sich nichts Neues. Sie bestätigten alte marxistische Prinzipien, verliehen ihnen dank des heroischen Kampfes des bolschewistischen Proletariats jedoch eine neue Kraft, ein neues Gewicht:
»Die Kommunistische Internationale verwirft auf das entschiedenste die Ansicht, als könne das Proletariat seine Revolution vollziehen, ohne eine selbstständige politische Partei zu haben. Ein jeder Klassenkampf ist ein politischer Kampf. Das Ziel dieses Kampfes, der sich unvermeidlich in einen Bürgerkrieg verwandelt, ist die Eroberung der politischen Macht. Indessen kann die politische Macht nicht anders ergriffen, organisiert und geleitet werden als durch irgendeine politische Partei… Die Entstehung der Sowjets als historischer Grundform der Diktatur des Proletariats schmälert keineswegs die führende Rolle der Kommunistischen Partei in der proletarischen Revolution… In der Geschichte der russischen Revolution erlebten wir einen ganzen Abschnitt, als die Sowjets gegen die proletarische Partei marschierten und die Politik der Agenten der Bourgeoisie unterstützten. Dasselbe war auch in Deutschland zu beobachten. Das gleiche ist auch in anderen Ländern möglich. Damit die Sowjets ihren geschichtlichen Aufgaben gerecht zu werden vermögen, ist im Gegenteil das Bestehen einer kräftigen Kommunistischen Partei notwendig, damit sie sich nicht einfach den Sowjets ›anpasst‹, sondern dass sie in der Lage wäre, diese selbst zu veranlassen, der ›Anpassung‹ an die Bourgeoisie und die weissgardistische Sozialdemokratie zu entsagen, dass sie vermittels der kommunistischen Fraktion der Sowjets imstande wäre, die Sowjets ins Schlepptau der Kommunistischen Partei zu nehmen… Die Arbeiterklasse benötigt die Kommunistische Partei nicht nur bis zur Eroberung der Macht, nicht nur während der Eroberung der Macht, sondern auch nach dem Übergang der Macht in die Hände der Arbeiterklasse… Die Notwendigkeit einer politischen Partei des Proletariats fällt erst mit der völligen Vernichtung der Klassen weg.«[63]

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Ein tiefer Internationalismus durchdrang die ganze Oktoberrevolution. Der Kampf der Partei, um den imperialistischen Krieg in den Bürgerkrieg zu verwandeln, in die sozialistische Weltrevolution zu verwandeln, verschmolz völlig mit dem begeisterten Impetus der Arbeitermassen der grossen Industriezentren.

Als Lenin und Trotzki die russische Revolution als ein Glied in der Kette der internationalen Revolution bezeichneten und die russischen Massen aufriefen, die eroberte Macht als eine Abteilung der internationalen Armee des Proletariats zu verteidigen, als sie zur Verteidigung Russlands als einer »belagerten Festung« aufriefen, die man halten musste, bis die anderen Armeen der internationalen Revolution zu Hilfe kommen würden, brachten sie nicht nur die Gefühle und die theoretische Überzeugung der Bolschewiki, sondern eine von allen russischen Proletariern tief empfundene Wahrheit zum Ausdruck. In revolutionären Zeiten genügen oft einige Tage und Wochen für die politische Erziehung der Massen. Schon in der »Deklaration der Rechte des werktätigen und ausgebeuteten Volkes«[64] erklärte die Sowjetmacht den »Sieg des Sozialismus in allen Ländern« zu ihrer Aufgabe; auf dem dritten gesamtrussischen Kongress der Sowjets legte Lenin seinen Hörern die grandiose Perspektive der Weltrevolution dar:
»Uns, den russischen werktätigen und ausgebeuteten Klassen, ist die ehrenvolle Rolle des Vortrupps der internationalen sozialistische Revolution zugefallen, und wir sehen jetzt klar, wie die Entwicklung der Revolution weit voranschreiten wird. Der Russe hat begonnen,« (und, wie Lenin erklärte, musste derjenige beginnen, der sich in der günstigsten Lage befand) »der Deutsche, der Franzose, der Engländer werden vollenden, und der Sozialismus wird siegen.«[65]
Darin kam die Revolution selbst zu Wort, benutze sie Lenin als Sprachrohr, um das Gefühl und die Leidenschaft zum Ausdruck zu bringen, die sich bei den grossen proletarischen Massen entzündet hatte, mit denen sie diese Massen zu den Waffen und zum Bewusstsein trieb. Darin kam die unpersönliche Sprache eines Klassenkampfes zum Ausdruck, dessen Trägern nichts ferner lag als die Vorstellung, er sei bloss ein »russischer« Kampf und verfolge bornierte »nationale« Ziele. Der Horizont jener Klassenkämpfer war die Welt, und ihre Begeisterung und Opferbereitschaft entzündete sich an jeder Nachricht über den Kampf ihrer Klassengenossen jenseits jener nationalen Grenzen, die abzuschaffen sie sich gerade zur wesentlichen Aufgabe gemacht hatten. »Wir sind nicht allein, vor uns liegt ganz Europa«,[66] rief Lenin den Zaghaften, den Versöhnlern und Schwachen zu. Und die Proletarier, die seit neun Monaten ohne Waffenruhe kämpften und noch weitere zweieinhalb Jahre eines grausamen Bürgerkriegs kämpfen sollten, wussten wie er, wussten aus Instinkt, wussten ohne vielleicht jemals den Schlachtruf am Ende des »Kommunistischen Manifestes« gelesen zu haben, dass sie die Kämpfer eines internationalen Klassenkrieges waren. Für jene Proletarier war es selbstverständlich, dass ihre Revolution den Beginn der Weltrevolution darstellte.

Die bolschewistische Partei wusste in jeder Hinsicht sehr genau, welche internationale Verantwortung ihr zukam. Durch den Sturz des Zarismus im Februar 1917 war sie in eine revolutionäre Situation gekommen, in eine »geschichtlich privilegierte Lage«. Sie musste diese Lage nicht nur, um für das internationale Proletariat die erste Festung zu erobern, ausnutzen:
»Wem viel gegeben ist, von dem wird man viel fordern«,[67] hatte Lenin im April, Monate vor der Machteroberung, geschrieben. »Gerade wir müssen, gerade jetzt, ohne Zeit zu verlieren, eine neue, revolutionäre, proletarische Internationale gründen, oder richtiger gesagt, wir dürfen uns nicht fürchten, vor aller Welt zu erklären, dass sie schon gegründet ist und wirkt. Das ist die Internationale jener ›wirklichen Internationalisten‹… Sie und nur sie sind die Vertreter der revolutionären, internationalistischen Massen, und nicht die Verführer der Massen.« (ebd. S. 68)
Man dürfe sich auch nicht fürchten, wenn die Zahl dieser internationalistischen Kommunisten klein sei:
»Es kommt nicht auf die Zahl an, sondern auf den richtigen Ausdruck der Ideen und der Politik des wirklich revolutionären Proletariats. Das Wesentliche ist nicht die ›Proklamierung‹ des Internationalismus, sondern die Fähigkeit, selbst in den schwierigsten Zeiten wirklicher Internationalist zu sein.« (ebd.)
Das Zusammenwirken geschichtlicher Bedingungen, die vom Willen der Bourgeoisie unabhängig waren (diese Bedingungen waren ja der Bourgeoisie durch den unerbittlichen Lauf des Klassenkampfes aufgezwungen worden), hatten nach der Februarrevolution aus Russland ein Land gemacht, wo die meiste »Freiheit« herrschte:
»Benutzen wir diese Freiheit, nicht um die Unterstützung der Bourgeoisie oder der bürgerlichen 'revolutionären Vaterlandsverteidigung' zu predigen, sondern zur kühnen und ehrlichen, proletarischen, Liebknechtschen Gründung der dritten Internationale, einer sowohl den Verrätern, den Sozialchauvinisten, als auch den schwankenden Gestalten des ›Zentrums‹ unwiderruflich feindlich gegenüberstehenden Internationale.« (ebd. S. 69)
Das gehörte zum Programm der Oktoberrevolution und wurde von der Partei der Revolution als Wichtigste Aufgabe betrachtet.

Diese neue Internationale, die sich durch einen praktischen und aktiven Internationalismus kennzeichnete, die sich in den Proletariern von Petersburg und Moskau sowie in den Berliner Proletariern um Liebknecht verkörperte, konnte erst später formal gegründet werden; sie konnte sich jedoch auf die in Russland eroberte Festung, auf die Überzeugungskraft der Tatsachen, die praktische Bestätigung des Marxismus stützen. Sie entstand auf der Grundlage eines vollständig wiederhergestellten Marxismus: Die Thesen ihres I. und II. Kongresses brachten den Proletariern der ganzen Welt die Botschaft nicht der russischen Partei als solcher, sondern des integralen Marxismus, den die Dynamik des Klassenkampfs wieder zum Anziehungspol für die ausgebeuteten Massen aller Kontinente machte.

Die russischen Proletarier wussten, »dass die sozialistische Weltrevolution in den fortgeschrittenen Ländern nicht so leicht beginnen kann, wie die Revolution in Russland begonnen hat«[68]; sie wussten, dass sie »auf ungewöhnliche Schwierigkeiten, auf ungewöhnliche schwere Niederlagen, die unvermeidlich sind«, gefasst sein müssen, »weil die Revolution in Europa noch nicht begonnen hat« (ebd.); sie wussten, dass es »nichts zu beschönigen [gibt]« (ebd. S. 96),
dass sie sich opfern müssen und selbst den schweren, erniedrigenden Brester Frieden annehmen müssen. Noch bevor die Kommunisten der verschiedenen Länder Europas, Amerikas und Asiens sich in Moskau versammelten, um die III. Internationale zu gründen, war der Internationalismus der Sauerstoff der Oktoberrevolution; Proletarier und arme Bauern lernten an den Fronten des Bürgerkrieges, dass ihr Feind die internationale Bourgeoisie ist, ihr einziger Verbündeter die Weltrevolution:
»…die Rettung [ist] nur auf dem Wege der internationalen sozialistischen Revolution möglich«[69]. »Die kommunistische Revolution kann nur als Weltrevolution siegen.«[70] Die Sowjetrepublik war ein »Trupp der Weltarmee des Sozialismus«[71].

Die Ausdehnung der Revolution mindestens auf einige fortgeschrittene Länder war die Voraussetzung für den Sieg über den Kapitalismus, ja für die blosse Erhaltung der politischen Macht der Bolschewiki in Russland. Für die Oktoberrevolution, die den Sozialismus als Ziel verfolgte, war der Internationalismus keine Rednerfloskel, sondern die Siegesbedingung schlechthin.

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Das ist umso richtiger, als es sich um eine doppelte Revolution handelte und das an die Macht gekommene Proletariat daher auch die Aufgaben einer »bis zu Ende geführten« bürgerlichen Revolution zu erfüllen hatte.

Im »Kommunistischen Manifest« von 1848 betrachteten Marx und Engels Deutschland mit besonderer Aufmerksamkeit; es war damals ein Land, in dem Wirtschaft und Politik noch von den feudalen Strukturen beherrscht wurden, und das sich »am Vorabend einer bürgerlichen Revolution«[72] befand. In dieser Revolution sahen sie »das unmittelbare Vorspiel einer proletarischen Revolution« (ebd.), die europäische Ausmasse annehmen würde (wie also, fragt man sich, hat die sozialdemokratische Pedanterie jemals darauf kommen können, dass laut Marx und Engels die Revolution notwendigerweise in einem fortgeschrittenen Land ausbrechen müsste?). Dies war darauf zurückzuführen, dass Deutschland
»diese Umwälzung unter fortgeschritteneren Bedingungen der europäischen Zivilisation überhaupt und mit einem viel weiter entwickelten Proletariat vollbringt als England im 17. und Frankreich im 18. Jahrhundert« (ebd.).
Überlassen wir es dem opportunistischen Philister, den Reifegrad für eine sozialistische Revolution durch die isolierte Betrachtung des in einem bestimmten Land erreichten »ökonomischen und sozialen Niveaus« zu bemessen: für die Marxisten bestimmt sich dieser Reifegrad auf Weltebene (1848 beschränkt sich der Radius des Kapitalismus auf Europa), und nur auf dieser Ebene kann die proletarische Revolution siegen oder geschlagen werden. Auch in Russland hatten die »fortgeschritteneren Bedingungen der europäischen (und Welt-) Zivilisation« und die Existenz eines Proletariats, das nicht nur zahlreicher als in den Zeiten der bürgerlichen Revolution in England und Frankreich, sondern auch extrem konzentriert war (genauso wie die halbfeudale politische Macht des Zarismus), den Verlauf der Revolution beschleunigt: ausgehend von der »asiatischen und barbarischen« Stagnation war Russland nach einem kurzen Zwischenspiel der bürgerlichen Macht (Februar-Oktober 1917) nunmehr zur politischen Macht des Proletariats gelangt. Das »unmittelbare Vorspiel« war zum »Hineinwachsen« der bürgerlichen Revolution in die proletarische Revolution geworden, und der Sieg der letzteren liess die Erfüllung der politischen bürgerlichen Aufgaben zu einem Anachronismus werden. Doch reichte diese Revolution nicht aus, um die Rückständigkeit Russlands gegenüber der »fortgeschritteneren« Weltzivilisation zu überwinden. Mehr noch: wie Lenin 1918 sagte und 1920 wiederholte, hätte das Proletariat ohne diese Rückständigkeit die Macht nicht so leicht an sich reissen können. Das glückliche Zusammenfallen dieser zwei Bedingungen (die nur denjenigen, die ihren Blick nicht über die nationalen Grenzen erheben, als widersprüchlich erscheinen können) hatte die russische Arbeiterklasse zur Avantgarde der sozialistischen Weltrevolution gemacht. Die Rückständigkeit des Landes aber blieb bestehen. Lenin:
»Je rückständiger das Land ist, das infolge der Zickzackwege der Geschichte die sozialistische Revolution beginnen musste, desto schwieriger ist für dieses Land der Übergang von den alten, den kapitalistischen Verhältnissen zu den sozialistischen.«[73]
Wie wurde dieses Problem, das unvergleichlich komplexer ist als das der Machteroberung, in der europäischen Perspektive (d. h. der damaligen Weltperspektive) von Marx und Engels gelöst? Das deutsche Proletariat von 1848 müsste die Theorie liefern und könnte zum Protagonisten der doppelten Revolution in Deutschland werden in dem Masse, in dem in Frankreich die politischen Bedingungen der sozialistischen Revolution und in England deren ökonomischen und sozialen Bedingungen erfüllt sind: so könnte die Machteroberung in Deutschland beschleunigt werden und der hundertjährige Graben, der die Wirtschaft Mitteleuropas von der Westeuropas trennte, überbrückt werden.

Die Perspektive der Bolschewiki war dieselbe. Der Sozialismus setzt die Grossindustrie und die moderne Landwirtschaft voraus; erstere war in Russland bekanntlich ungenügend entwickelt, die letztere sogar so gut wie überhaupt nicht vorhanden.
»Spricht man [aber] von einer blühenden Grossindustrie, die fähig ist, die Bauernschaft sofort mit allen erforderlichen Produkten zu versorgen, so ist diese Voraussetzung bereits vorhanden; betrachtet man die Frage im Weltmassstab, so ist die blühende Grossindustrie, die die Welt mit allen Produkten versorgen könnte, auf Erden bereits vorhanden… Es gibt in der Welt Länder mit einer solchen hochentwickelten Grossindustrie, die sofort Hunderte von Millionen rückständiger Bauern versorgen kann. Wir legen das unseren Berechnungen zugrunde.«[74] Von der Welt- oder zumindest europäischen Revolution erwartete also die proletarische Diktatur in Russland die materiellen Voraussetzungen für den Übergang zum Sozialismus. Nur auf diese Art und Weise konnte der Grundstein für eine gigantische und sprunghafte Entwicklung zunächst in der Industrie und dann in der Landwirtschaft gelegt werden. Wie die »Leitsätze und Ergänzungsthesen über die National- und Kolonialfrage«, angenommen auf dem II. Kongress der Kommunistischen Internationale (1920), sehr richtig festlegten, wäre ein »Überspringen« der kapitalistischen Phase (das in diesem Falle für die Kolonialländer, die noch rückständiger als das damalige Russland waren, ins Auge gefasst wurde; für Russland ging es um die radikale Abkürzung der kapitalistischen Phase) nur durch die »Schaffung einer einheitlichen Weltwirtschaft nach dem gemeinsamen Plan, der vom Proletariat aller Nationen geregelt wird«[75], möglich. Die Ausweitung der sozialistischen Revolution auf wenigstens einige fortgeschrittene Länder war also die erste Voraussetzung für die Verwirklichung einer sozialistischen Wirtschaft in Russland.
»Es steht ausser Zweifel, dass man die sozialistische Revolution in einem Lande, wo die ungeheure Mehrheit die Bevölkerung zu den kleinbäuerlichen Produzenten gehört, nur durch eine ganze Reihe besonderer Übergangsmassnahmen verwirklichen kann, die völlig unnötig wären in Ländern des entwickelten Kapitalismus, wo die Lohnarbeiter in Industrie und Landwirtschaft die gewaltige Mehrheit bilden… In einer ganzen Reihe von Schriften, in allen unseren Reden, in der ganzen Presse haben wir betont, dass in Russland die Dinge nicht so liegen, dass wir in Russland eine Minderheit von Industriearbeitern und eine ungeheure Mehrheit von kleinen Landwirten haben. Die sozialistische Revolution kann in einem solchen Lande nur unter zwei Bedingungen endgültigen Erfolg haben. Erstens unter der Bedingung, dass sie rechtzeitig durch die sozialistische Revolution in einem oder in einigen fortgeschrittenen Ländern unterstützt wird.«[76]

Die grosse Perspektive von Marx 1848 wiederaufnehmend kann man sagen, dass das russische Proletariat der europäischen Revolution sowohl die politische Flamme als auch eine vollständig wiederhergestellte Theorie lieferte (Aufgaben die früher Frankreich und Deutschland zufielen). Die ökonomischen Grundlagen mussten ihr jetzt Deutschland, England und Frankreich oder zunächst auch nur eins dieser Länder liefern. In Erwartung dessen – die internationale Revolution kann weder auf Kommando, noch nach einer »methodischen Progression«, oder etwa gleichzeitig ausbrechen – musste die kommunistische Macht eine noch rückständige Wirtschaft leiten, mit Hilfe »einer ganzen Reihe besonderer Übergangsmassnahmen, die völlig unnötig wären in Ländern des entwickelten Kapitalismus« und ihrem Wesen nach den vom Manifest geforderten »despotische[n] Eingriffen«[77] analog waren, deren Ergebnisse jedoch nicht über die Errichtung der materiellen Grundlagen des Sozialismus hinausgehen konnten.

Weit davon entfernt, daraus ein Geheimnis zu machen, hatten die Bolschewiki dies wiederholt gesagt, und so wurde denn auch in den »Aprilthesen« mit grösster Offenheit erklärt:
»Nicht ›Einführung‹ des Sozialismus als unsere unmittelbare Aufgabe, sondern augenblicklich nur Übergang zur Kontrolle über die gesellschaftliche Produktion und die Verteilung der Erzeugnisse durch den Sowjet der Arbeiterdeputierten«[78].
Fünf Monate später, im September, definierte Lenin die »Massnahmen zur Bekämpfung der drohenden Katastrophe« folgendermassen:
»Kontrolle, Aufsicht, Rechnungsführung, Regulierung durch den Staat, richtige Verteilung der Arbeitskräfte in Produktion und Distribution,… sparsames Umgehen mit den Kräften«[79].
Diese Massnahmen setzten im Bereich der industriellen Produktion und des Finanzwesens weitere Massnahmen voraus:
»1. Vereinigung aller Banken zu einer einzigen Bank und staatliche Kontrolle über ihre Operationen oder Nationalisierung der Banken. 2. Nationalisierung der Syndikate, d. h. der grössten, der monopolistischen Verbände der Kapitalisten. 3. Aufhebung des Geschäftsgeheimnisses. 4. Zwangssyndizierung (d. h. Zwangsvereinigung in Verbänden) der Industriellen, Kaufleute und Unternehmer überhaupt. 5. Zwangsvereinigung der Bevölkerung in Konsumgenossenschaften oder Förderung einer solchen Vereinigung und Kontrolle über sie« (ebd. S. 337–338).
Allein die Diktatur des Proletariats, unterstützt durch die arme Bauernschaft, würde, wie Lenin unaufhörlich erklärte, diese Massnahmen ergreifen können. Es waren keine sozialistischen Massnahmen, sie stellten aber »einen Schritt zum Sozialismus« dar.
»Denn der Sozialismus ist nichts anderes als der nächste Schritt vorwärts, über das staatskapitalistische Monopol hinaus« (ebd. S. 369). »Der imperialistische Krieg ist der Vorabend der sozialistischen Revolution. Und das nicht nur deshalb, weil der Krieg mit seinen Schrecken den proletarischen Aufstand erzeugt – keinerlei Aufstand kann den Sozialismus schaffen, wenn er nicht ökonomisch herangereift ist –, sondern deshalb, weil der staatsmonopolistische Kapitalismus die vollständige materielle Vorbereitung des Sozialismus, seine unmittelbare Vorstufe ist, denn auf der historischen Stufenleiter gibt es zwischen dieser Stufe und derjenigen, die Sozialismus heisst, keinerlei Zwischenstufen mehr« (ebd. S. 370).

Besorgt darum, ihrer Klassenkollaboration ein »linkes« Mäntelchen umzuhängen, schrien die Menschewiki und Sozialrevolutionäre, dieses Programm sei nicht radikal genug, sei nicht »sozialistisch«, ohne dabei zu verstehen, dass man durch den Aufstand in Russland allein den Sozialismus nicht schaffen, sondern nur Schritte zum Sozialismus einleiten konnte (»Schritte, die bedingt sind und bestimmt werden durch den Stand der Technik und der Kultur« (ebd.)), dass jedoch der Sozialismus im internationalen Massstab ökonomisch herangereift war:
»Der Sozialismus aber schaut jetzt bereits durch alle Fenster des modernen Kapitalismus auf uns; in jeder grossen Massnahme, die auf der Grundlage dieses jüngsten Kapitalismus einen Schritt vorwärts bedeutet, zeichnet sich der Sozialismus unmittelbar, in der Praxis, ab« (ebd.).
Das bolschewistische Wirtschaftsprogramm war bescheiden im Vergleich zu den Endzielen des Sozialismus, aber kühn, wenn man die in Russland gegebenen ökonomischen Bedingungen vor Augen hält. Es war, wie Lenin sagte, gleichzeitig viel und wenig: eben der erste Schritt der sozialistischen Weltrevolution[80].
»Wieviel Etappen des Übergangs zum Sozialismus noch vor uns liegen, wissen wir nicht und können wir nicht wissen. Das hängt davon ab, wann die europäische sozialistische Revolution im richtigen Massstab anfangen wird, davon, wie leicht, rasch oder langsam sie mit ihren Feinden fertig werden und die freie Bahn der sozialistischen Entwicklung beschreiten wird«[81].
Die Frage der »Etappen zum Sozialismus« war also nicht administrativer, sondern politischer Natur und konnte, da sie von internationalen Bedingungen abhing, von den russischen Revolutionären nicht nach Belieben erledigt werden.

Was die von den Bolschewiki von 1906 bis 1917 ununterbrochenen geforderten Massnahmen bezüglich der Landwirtschaft angeht, die – berücksichtigt man den extrem schwachen Entwicklungsgrad der ländlichen Produktivkräfte – bereits radikaler waren, so gingen sie nicht über die Grenzen einer bürgerlich-demokratischen Revolution hinaus. Sicherlich war allein die revolutionäre Macht des Proletariats, unterstützt von den armen Bauern, in der Lage, den Boden zu nationalisieren. Diese Nationalisierung war aber eine »bürgerliche Massnahme«[82]. Doch musste die proletarische Partei sie unter allen Umständen zu verwirklichen versuchen, denn sie bedeutete
»die grösste in der kapitalistischen Gesellschaft mögliche und denkbare Freiheit des Klassenkampfes und die Befreiung der Bodennutzung von allen nichtbürgerlichen Anhängseln.« (ebd.)
Ausserdem würde sie einen »mächtigen Schlag gegen das Privateigentum an allen Produktionsmitteln überhaupt bedeuten…«. Die Partei wusste – mindestens seit 1906 – sehr gut, dass
»je entschiedener und konsequenter der gutsherrliche Grundbesitz zerschlagen und beseitigt wird, je entschiedener und konsequenter die bürgerlich-demokratische Agrarumgestaltung in Russland überhaupt ist, um so stärker und schneller wird sich der Klassenkampf des landwirtschaftlichen Proletariats gegen die wohlhabende Bauernschaft (die bäuerliche Bourgeoisie) entfalten.« Daraus folgte, dass »je nachdem, ob es dem Stadtproletariat gelingen wird, das Landproletariat mit sich fortzureissen und diesem die Masse der ländlichen Halbproletarier anzugliedern, oder ob diese Masse der bäuerlichen Bourgeoisie folgen wird, die zu einem Bündnis… mit den Kapitalisten und Gutsbesitzern und zur Konterrevolution überhaupt hinneigt – je nachdem wird sich das Schicksal und der Ausgang der russischen Revolution entscheiden, sofern die beginnende proletarische Revolution in Europa nicht ihren unmittelbaren, machtvollen Einfluss auf unser Land ausüben wird.« (ebd.)

Prophetische Worte. Tatsächlich sollte die europäische Revolution auf sich warten lassen. Und wenn ihr kurzes aufflackern in Deutschland und Ungarn, ihre Stösse in Italien oder Bulgarien den Schraubstock der ausländischen Konterrevolution, der die bolschewistische Diktatur bedrohte, auch zu lockern vermochten, so waren sie doch nicht in der Lage, Russland aus seiner »barbarischen Isolierung« herauszureissen. Das gesamte Schicksal der Oktoberrevolution nach 1918, zum Zeitpunkt, als Lenin bereits die Grundlinien der NEP[83] zeichnete (die wegen des Bürgerkriegs noch nicht zu verwirklichen war), hing von der Antwort ab, die die Tatsachen auf folgende Frage geben würden:
»Wird es uns gelingen, angesichts unserer klein- und zwergbäuerlichen Produktion, angesichts der Zerrüttung unserer Wirtschaft so lange durchzuhalten, bis die westeuropäischen kapitalistischen Länder ihre Entwicklung zum Sozialismus vollenden werden?«[84] »Uns mangelt es… an Zivilisation, um unmittelbar zum Sozialismus überzugehen, obwohl wir die politischen Voraussetzungen dafür haben.« (ebd. S. 488)

Die vollständige Nationalisierung der Industrie, die sich durch die Notlage des Bürgerkriegs 1918 aufzwängte, sowie das Aussenhandelsmonopol brachten der proletarischen Diktatur eher einen politischen denn ökonomischen Vorteil: ein Mittel, um die immer wieder auflebende Hydra der Kleinproduktion zu kontrollieren; ein Instrument, um mit Hilfe moderner Produktionsmittel und der Anwendung assoziierter Arbeit die Entwicklung zur landwirtschaftlichen Grossproduktion zu beschleunigen; und vor allem eine Waffe gegen den Äusseren und inneren Feind. So soll es möglich sein, dass
»wir [die Bolschewiki] uns den Kapitalismus zunutze machen (besonders indem wir ihn die in das Fahrwasser des Staatskapitalismus leiten) als vermittelndes Kettenglied zwischen der Kleinproduktion und dem Sozialismus, als Mittel, Weg, Behelf, Methode zur Steigerung der Produktivkräfte«[85],
und nach einer langen »Reihe von allmählichen Übergängen zum vergesellschafteten maschinellen landwirtschaftlichen Grossbetrieb«[86] zu gelangen. Es soll so möglich sein, das ökonomische Fundament »für das neue, sozialistische Gebäude an Stelle des zerstörten feudalen und des halbzerstörten kapitalistischen Baus«[87] zu errichten.
Dies würde zwar nicht den Sozialismus verwirklichen, bedeutete aber einen radikalen Kampf zwischen der proletarischen Macht, die den Staatskapitalismus kontrollierte und ihn als politische Waffe für die wirtschaftliche Umwandlung einsetzte, und den
»Millionen und aber Millionen der Kleinbesitzer… [die] durch ihre tagtägliche, alltägliche, unmerkliche, unfassbare, zersetzende Tätigkeit eben jene Resultate herbei[führen], welche die Bourgeoisie braucht, durch welche die Macht der Bourgeoisie restauriert wird«[88].

Dies bedeutete also die Weiterführung des Bürgerkriegs mit anderen Mitteln, und der Ausgang dieser neuen Phase des Klassenkampfes würde nicht allein vom Besitz der Macht und Kontrolle über die Grossindustrie abhängen, sondern auch und vor allem von den Wechselfällen des internationalen Klassenkampfes zwischen Bourgeoisie und Proletariat. In seinen »Leitsätzen über die Wirtschaftslage und die Aufgaben der sozialistischen Revolution« für den IV Kongress der Komintern wird Trotzki sagen:
»Wenn im Bürgerkrieg sich unser Kampf grossenteils um die politische Gewinnung der Bauernschaft drehte, so dreht sich dieser Kampf heute hauptsächlich um die Beherrschung des bäuerlichen Marktes. In diesem Kampf verfügt das Proletariat über mächtige Vorteile: die Staatsmacht und der Besitz der wichtigsten Produktivkräfte. Die Bourgeoisie verfügt ihrerseits über einen grösseren Spielraum und in einem gewissen Masse über ihre Beziehungen zum ausländischen Kapital, insbesondere zum Kapital der Emigration«[89].
Das ganze Drama der Jahre 1920–1926 lag eben darin, dass das Proletariat der »entwickelten« Länder diese internationale bürgerliche Macht nicht zerschlagen hat. In einer Beschreibung der NEP hatte Lenin erklärt:
»Die Geschichte… nahm einen so eigenartigen Verlauf, dass sie im Jahre 1918 zwei getrennte Hälften des Sozialismus gebar, eine neben der anderen, wie zwei künftige Küken unter der einen Schale des internationalen Imperialismus. Deutschland und Russland verkörpern 1918 am anschaulichsten die materielle Verwirklichung einerseits der ökonomischen, produktionstechnischen, sozialwirtschaftlichen Bedingungen und andererseits der politischen Bedingungen für den Sozialismus. Die siegreiche proletarische Revolution in Deutschland würde mit einem Male, mit grösster Leichtigkeit, jede Schale des Imperialismus zerbrechen… den Sieg des Weltsozialismus« (und folglich auch des Sozialismus in Russland) »ohne Schwierigkeiten oder mit geringfügigen Schwierigkeiten bestimmt verwirklichen – freilich, wenn man den weltgeschichtlichen Massstab der ›Schwierigkeit‹ nimmt und nicht den engen Spiessermassstab«[90].
Die zwei getrennten Hälften des Sozialismus konnten nicht vereint werden. Und wenn es der revolutionären Macht in Russland schliesslich auch gelang
»vom Staatskapitalismus der Deutschen zu lernen, ihn mit aller Kraft zu übernehmen, keine diktatorischen Methoden zu scheuen, um diese Übernahme noch stärker zu beschleunigen, als Peter die Übernahme der westlichen Kultur durch das barbarische Russland beschleunigte, ohne dabei vor barbarischen Methoden des Kampfes gegen die Barbarei zurückzuschrecken«[91],
so konnte sie doch ohne die Hilfe des zweiten »Küken« nicht verhindern, dass der Druck der bürgerlichen und kleinbürgerlichen Klassen auf die Dauer dem »Steuer« des russischen Staates eine Richtung gab, die der von den Bolschewiki gewollten entgegengesetzt war. Der Kampf flackerte in den Städten und auf dem Lande erneut auf; die Produktivkräfte einer nicht nur vorsozialistischen, sondern gar vorkapitalistischen Vergangenheit bäumten sich unter der energischen zentralen Wirtschaftsleitung auf; und dieser neue Klassenkrieg war so erbittert, dass einige Partei- und Staatsführer, die bis dahin geglaubt hatten, die Wirklichkeit hinter einem demagogischen Optimismus (der Lenin übrigens völlig fremd war) verbergen zu können, sich auf der XIV. Parteikonferenz Ende 1925 zur Erkenntnis gezwungen sahen, dass ein Umschwung der Kräfteverhältnisse im Gange war und sich festigte.

Lenin hatte 1921 im Laufe der Ausarbeitung der Neuen Ökonomischen Politik festgehalten:
»10–20 Jahre richtige Beziehungen mit der Bauernschaft, und der Sieg ist im Weltmassstab… gesichert, sonst 20–40 Jahre Qualen weissgardistischen Terrors. Aut – aut. Teritium non datur«[92].

Doch die Kräfte, die sich den »richtigen Beziehungen mit der Bauernschaft« widersetzten erwiesen sich sehr bald als viel zu stark. Das russische Proletariat allein hat sie nicht eindämmen, geschweige denn besiegen können. Der weissgardistische Terror der kapitalistischen Konterrevolution, in die Geschichte unter dem Namen Stalinismus eingegangen, entfesselte sich noch weit vor den 10–20 Jahren, von denen Lenin gesprochen hatte, von den 50 Jahren, von denen Trotzki sprach, ganz zu schweigen. Und selbst der Kult vom falschen »Sozialismus in einem Land« vermochte die grausame Wirklichkeit dieser Konterrevolution nur allzu schlecht zu verdecken: hemmungslose Akkumulation des Kapitals und Ausrottung der alten bolschewistischen Partei.

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Bis zu seinem Tode führte Lenin einen ununterbrochenen Kampf, um die Partei davon zu überzeugen, dass sie keinen anderen Ausweg hatte, als die Gefahren der NEP in Kauf zu nehmen, und dass sie eben deshalb diese Gefahren nicht aus den Augen verlieren durfte, dass sie keine Sekunde lang vergessen durfte, dass die NEP Entwicklung des Kapitalismus bedeute. Es war ein Kampf der Verteidigung des streng proletarischen und internationalistischen Charakters der Partei, der für sich allein ein besonderes Kapitel verdiente und Gegenstand einer kollektiven Arbeit unser Partei sein wird. Dasselbe gilt auch für den Kampf der Oppositionen gegen den Stalinismus[93]. Als die leninistische Unnachgiebigkeit unter dem Druck der materiellen Bedingungen zu zerbröckeln anfing, führten die Oppositionen einen energischen, wenn auch verspäteten und verzweifelten Kampf gegen die stalinistische Kapitulation vor dem Opportunismus und gegen die verheerende Theorie des »Sozialismus in einem Land«; sie kämpften für die Aufrechterhaltung der marxistischen Lehre (deren Achse gerade im proletarischen Internationalismus besteht, wie das tragische Ende der Oktoberrevolution umgekehrt beweist) und ihre Übermittlung an die kommenden Generationen.

Lenin wusste als Marxist, dass selbst die Niederlage fruchtbar sein kann, wenn man bis zu Ende unnachgiebig kämpft und an den eigenen Prinzipien festhält. Er hatte einmal erklärt, selbst wenn die bolschewistische Macht morgen wieder gestürzt werden sollte, würde die Partei es nicht auch nur eine Sekunde lang bereuen, die Macht erobert zu haben. War der schliessliche Ausgang tatsächlich unvermeidbar? Die bolschewistische Macht war vor der Aufgabe nicht zurückgeschreckt, in Erwartung der Weltrevolution den Kapitalismus »aufzubauen«. Hätte man aber verhindern können, dass sie anstatt diesen Kapitalismus zu kontrollieren, schliesslich von ihm kontrolliert und gestürzt wurde? Die Imperialisten sollten es nicht fertig bringen, die proletarische Macht zu stürzen. Hätte man aber verhindern können, dass die inneren bürgerlichen und kleinbürgerlichen Kräfte sich allmählich der »Staatsmaschine« bemächtigten, dass der Feind nicht nur siegt, sondern – was noch schlimmer ist- eine ursprüngliche kapitalistische Akkumulation (die infolge der Rückständigkeit Russlands in einer höchst entwickelten internationalen Umgebung sich noch viel grausamer gestalten sollte als beim ersten Auftritt des Kapitalismus in der Geschichte) für den »sozialistischen Aufbau« ausgibt?

Diese Frage ist in mehrfacher Hinsicht müssig, weil die Geschichte sie Entschieden hat und zwar gegen uns entschieden, ob man nun will oder nicht. Doch muss man sie stellen – vorausgesetzt, man will nicht in Seufzer über die Vergangenheit ausbrechen, sondern die Zukunft vorbereiten. Und man kann sie nur im internationalen Massstab stellen, denn die Antwort ist nicht allein hinter den Grenzen Russlands zu suchen, ganz im Gegenteil!

Der imperialistische Weltkrieg war Ausdruck der höchsten Reife des Weltkapitalismus und stellte die proletarische Weltrevolution unmittelbar auf die Tagesordnung der Geschichte. Die Frage des Sieges dieser Revolution hing von der Stärke der revolutionären Kräfte ab, sie konnte nur auf der Ebene des Klassenkampfes entschieden werden, der von zwei zusammenhängenden Faktoren abhängt: von der Stärke der Krise selbst und von der Fähigkeit des Proletariats, diese Krise für die Vorbereitung des Umsturzes und die Errichtung und Festigung der eigenen Diktatur auszunutzen (kurzum von der Frage der Partei). Die Wechselwirkung dieser zwei Faktoren muss kurz untersucht werden, wenn man erklären will, warum die imperialistische Weltbourgeoisie in der Lage gewesen ist, das internationale Proletariat zu schlagen und warum diese Niederlage des Proletariats so verheerend war, dass es sich fünfzig Jahre später immer noch nicht erholen konnte.

Es war dem Proletariat zunächst nur gelungen im rückständigen Russland die Macht zu erobern. Dieser Sieg gab dem proletarischen Klassenkampf in der ganzen Welt einen mächtigen Impuls. Doch um diesen Sieg zu festigen, d. h. um die Macht in Russland zu behalten und zum Sozialismus überzugehen, war die Zerschlagung des Weltimperialismus, mit anderen Worten die Ausweitung der Revolution auf die entscheidenden imperialistischen Zentren erforderlich. Das ist leicht verständlich, denn im isolierten und rückständigen Russland wirkte der ökonomische Determinismus der Akkumulation des Kapitals, der nach der Vollendung der demokratisch-bürgerlichen Revolution um so stärker auftrat. Dieser Determinismus musste tendenziell, aber unentrinnbar die proletarische Macht untergraben, eine Ausgestaltung des ganzen Überbaus nach den Bedürfnissen der mit Volldampf zum Kapitalismus strebenden Basis herbeiführen. Wir werden diesen Determinismus im dritten Abschnitt dieser Arbeit untersuchen. Für das isolierte Russland galt: eine Gesellschaft, die ökonomisch von der kleinen Warenproduktion zum Kapitalismus tendiert, entzieht sich tendenziell jeder kommunistischen Kontrolle. Wenn man aber von der Isolierung Russlands redet, bzw. von der in Russland übermächtigen kapitalistischen Tendenz, bringt man nur die Folgen der internationalen Schwäche des Proletariats zum Ausdruck. Das ist ja jedem zugänglich, denn Russland wäre nicht isoliert und würde sich nicht in die objektiven Widersprüche der NEP verstricken, wenn z. B. das deutsche Proletariat die Kraft gehabt hätte, die Macht zu erobern. Kurz, gegen die Tendenz einer kapitalistischen Konterrevolution in Russland kannte die Geschichte eine einzige Gegentendenz, nämlich den internationalen Kampf des revolutionären Proletariats. Allerdings vollzieht sich die internationale Ausweitung der Revolution nicht auf Befehl, sie hat ihren objektiven Gang, der nicht nur von der unmittelbaren Krise der Gesellschaft determiniert wird, sondern auch von der vorhergehenden Entwicklung des Klassenkampfes. D. h., die Arbeiterklasse kann von der revolutionären Krise unvorbereitet getroffen werden; sie wird sich dann erst mühsam im Laufe der Entwicklung eine revolutionäre Partei schmieden können. Diese Partei kann die Entwicklung entscheidend beeinflussen, ja sie muss es tun. Voraussetzung dafür ist, dass diese Partei existiert und dass sie streng auf dem Boden des Determinismus bleibt. Was es heisst auf dem Boden des Determinismus zu bleiben, lässt sich in vereinfachter Form so zusammenfassen (wir schreiben hier keine Abhandlung über die Frage die Taktik): die Partei der Diktatur des Proletariats geht davon aus, dass alle anderen Parteien auf der anderen Seite der Barrikade stehen werden. Hieraus leitet sie ihre Aktionslinie ab: dem Proletariat bei jeder Gelegenheit das Misstrauen gegen diese Parteien beizubringen, die Energien des Proletariats gegen den bürgerlichen Staat stets zu lenken, den zu unterstützen diese Parteien direkt oder indirekt gezwungen sind. Anders ausgedrückt, die Dynamik der Revolution führt die proletarischen Massen nach links und die opportunistischen Parteien nach rechts; die kommunistische Partei versucht, diesen Prozess zu begünstigen und durchsichtig zu machen.

Solange im Westen keine kampffähigen und einflussreichen proletarischen Parteien bestünden, solange war die Macht nicht zu erobern und Russland blieb allein. Andererseits würde der Sturz der proletarischen Macht in Russland nicht nur für das dortige Proletariat und die arme Bauernschaft, sondern in noch grösserem Masse auch für den internationalen Klassenkampf verheerende Folgen haben. Es geht dabei nicht nur um die Demoralisierung des internationalen Proletariats, die damit einhergehen würde: Eine Konterrevolution in Russland würde zugleich direkt zur Stabilisierung des Weltimperialismus beitragen; Russland selbst würde sich von einem revolutionären in einen konterrevolutionären Faktor verwandeln. Die Gefahr, dass dadurch die Weltrevolution um Jahrzehnte zurückgeworfen würde, war sehr gross. Es war daher notwendig, dafür zu kämpfen, um die proletarische Macht in Russland zu behalten. Deshalb betonte Lenin unermüdlich die internationale Bedeutung der NEP, der »richtigen Beziehung« mit der Bauernschaft in Russland; deshalb wies er immer wieder darauf hin, dass das russische Proletariat nunmehr nicht besser auf die internationale Revolution einwirken konnte, als durch eine richtige Wirtschaftspolitik. Somit war die NEP ein Bestandteil der internationalen Strategie des Proletariats. Von welcher Seite man die Frage auch betrachtet: russische Revolution und Weltrevolution, internationaler Klassenkampf und NEP, Konterrevolution in Russland und in der Welt bildeten jeweils eine unlösbare Einheit.

Das gilt um so mehr, als (wie Lenin ständig wiederholte) in den entscheidenden imperialistischen Ländern politische Bedingungen herrschten, die den Ausbruch der Revolution erschwerten (wohingegen die ökonomische und sozialen Bedingungen die Vollendung der einmal begonnen Revolution unvergleichlich leichter machen würden als in Russland). Lenin sprach in diesem Zusammenhang davon, dass es in den westeuropäischen Ländern schwieriger sei, die Revolution zu beginnen, weil sich dort der hohe Stand der Kultur gegen das revolutionäre Proletariat auswirke und die Arbeiterklasse sich in Kultursklaverei befände. Es handelt sich um zwei zusammenhängende Phänomene: das Gewicht der demokratischen und parlamentarischen Traditionen einerseits, die imperialistische Fäulnis andererseits. Die politischen Kräfte, die die Arbeiterklasse an den bürgerlichen Staat binden, konnten im vorrevolutionären Russland nicht auf eine jahrzehntelange Entfaltung zurückblicken, sie konnten sich ebensowenig auf eine mächtige Bourgeoisie stützen. Der Grund dafür ist einfach: in Russland gab es einen autokratischen, keinen bürgerlich-demokratischen Staat, an den sie die Arbeiterklasse hätten binden, aus dem sie ihre Kraft hätten schöpfen können. Die wenigen Monate zwischen Februar und Oktober 1917, in denen dieser Staat bestanden hat, waren Monate einer revolutionären Klassenspaltung der Gesellschaft. Im Westen hingegen hatte sich die Klassenkollaboration im Laufe von Jahrzehnten herausgebildet und gefestigt, und der Opportunismus hatte hinter sich eine seit langem an der Macht stehende, mit einer grossen Manövrierfähigkeit gerüstete Bourgeoisie (Jahrzehnte des »Hineinwachsens der Arbeiterbewegung in den bürgerlichen Staat«, um den sehr treffenden Ausdruck von Bucharin[94] zu gebrauchen). Auf der Grundlage des Imperialismus hatte sich eine breite Arbeiteraristokratie im Laufe dieser Jahrzehnte gebildet (oder die Bourgeoisie hatte, wie z. B. in Frankreich, die Existenzgrundlage einer krebsartigen, reaktionären Kleinbourgeoisie sichern können). Das ist eine wesentliche Seite der damaligen »Kräfteverhältnisse«. Diese hatten sich durch eine materielle Entwicklung so herausgebildet. Doch am Ende dieser Entwicklung stand nicht, wie die reformistischen Sozialdemokraten geglaubt hatten, die Idylle, sondern der imperialistische Krieg und die damit einhergehende Krise, der erneute Ausbruch des Klassenkampfes, die Erschütterung aller materiellen Grundlagen der bürgerlichen Gesellschaft. Gerade auf diese »Tendenzwende«, die der imperialistische Krieg eingeleitet hatte, musste sich die proletarische Avantgarde stützten, um selber zu einem materiellen Faktor der Entwicklung zu werden. Für die Umkehrung der Kräfteverhältnisse hatte die russische Revolution einen ersten, gigantischen Beitrag geleistet. Es handelte sich nach wie vor um dieselbe Perspektive von Marx und Engels, nur nicht mehr im europäischen (Wechselbeziehung von russischer und europäischer Revolution), sondern im absoluten Weltmassstab. Die Zerschlagung des Weltimperialismus stellte sich im Massstab des Weltmarkts, des ganzen Erdballs. Die Herrschaft des Kapitals beruht auf internationalen Grundlagen. Durch die Ausbeutung des »eigenen« Proletariats konnte sich die Bourgeoisie imperialistisch entfalten; durch die Ausbeutung der Kolonien und Halbkolonien wurde es ihr umgekehrt möglich, der Arbeiterklasse einen Gnadenknochen hinzuwerfen, sich die Klassenkollaboration zu Hause zu erkaufen, bzw. durch ein Bündnis mit der Arbeiteraristokratie zu erzwingen. Doch hatte und hat diese weltweite Entwicklung eine anderer, eine revolutionäre Seite. Durch den internationalen Konkurrenzkampf treiben sich die kapitalistischen Staaten gegenseitig in die Katastrophe der Kriege und Kriegszerrüttungen, denen das Proletariat nur revolutionär entkommen kann; durch das Eindringen des Kapitalismus in die vorkapitalistische Welt, durch die koloniale und halbkoloniale Ausbeutung, schafft der Imperialismus die Konstellation für eine national-demokratische Revolution in den unterjochten Ländern, die zugleich eine antikoloniale und antiimperialistische Revolution ist. Analog zu Russland können diese Revolutionen nur unter Führung des Proletariats bis zu ihrer äussersten bürgerlichen Grenze geführt werden; sie können jedoch von sich aus nicht eine sozialistische Umgestaltung der Gesellschaft einleiten – hierfür ist der Sieg einer sozialistischen Revolution in den Metropolen des entwickelten Kapitalismus notwendig, denn sie beherrschen den Weltmarkt und verfügen über die sozialen und ökonomischen Voraussetzungen für eine sozialistische Umgestaltung. Doch gerade die Bedingungen für diesen Sieg können die national-revolutionären Bewegungen in den Kolonien enorm erleichtern; sie können durch eine radikale, proletarische Führung das Gebäude des Weltimperialismus erschüttern, und zwar nicht nur durch die Zerschlagung jener Kräfte in den unterjochten und rückständigen Ländern, die gemeinsame Sache mit dem Imperialismus machen. Es geht noch um was anderes, dass das revolutionäre Proletariat in den imperialistischen Metropolen unmittelbar tangiert: diese Erschütterung und Schwächung der imperialistischen Staaten untergräbt gleichzeitig alle materiellen Grundlagen der Klassenkollaboration und der Verbürgerlichung eines Teiles der Arbeiterklasse, unter deren Last das revolutionäre Proletariat in den imperialistischen Metropolen erdrückt wird. Auf militärischer, politischer und ökonomischer Ebene bedingen sich die verschiedenen Teile der Weltrevolution wechselseitig. Die Perspektive der Revolution in Permanenz aus der Mitte des 19. Jahrhunderts (Deutschland/Westeuropa), Engels’ russisch-europäische Perspektive aus den neunziger Jahren, dehnt sich auf die ganze Welt aus und wird zur Globalstrategie der Weltrevolution in der bolschewistischen Internationale. Auf diese Zusammenhänge wird Lenin nach den ersten Niederlagen in Europa am Ende seines Lebens immer eindringlicher hinweisen[95].

Als die Kommunistische Internationale gegründet wurde, folgte die Mehrheit des Proletariats noch der Sozialdemokratie, schleppte das Gewicht der eigenen Vergangenheit wie eine Bleikugel hinter sich her; in den Kolonien wurden die aufständischen Massen noch von den lokalen Satrapen kontrolliert, mit der Perspektive, einem Kompromiss dieser lokalen Bourgeoisien mit dem Imperialismus geopfert zu werden. Unter Führung der Bolschewiki versuchten die revolutionären Kräfte in den verschiedenen Ländern, das Instrument der Weltrevolution, die Sektionen der Kommunistischen Internationale, zu bilden, um den Einfluss der Sozialdemokratie (bzw. der nationalen Bourgeoisien in den Kolonien) zu brechen und das Proletariat zum Sieg zu führen. Im Laufe jener revolutionären Jahre nach dem ersten imperialistischen Weltkrieg, in denen die Bolschewiki in Russland versuchten, die Konterrevolution und damit einen verheerenden Rückschlag auf die proletarische Weltbewegung zu verhindern, ernteten die kommunistischen Parteien in den anderen Ländern eine Niederlage nach der anderen. Es gelang ihnen nicht, die Massen gegen die Verräterschläge der Sozialdemokratie und gegen die bestialische Reaktion der Bourgeoisie im allgemeinen zu wappnen; mehr noch, die kommunistischen Parteien entarteten sehr bald unwiderruflich zu linken Varianten der Sozialdemokratie (bzw. in den Kolonien zu Repräsentanten der nationalen Bourgeoisien); oft ist es nicht einmal möglich gewesen, echte kommunistische Parteien überhaupt zu bilden. An dieser Entwicklung erstarkten die antiproletarischen Tendenzen in Russland selbst; sie griffen vom Staats- in den Parteiapparat über und entfesselten ihren Kampf gegen die Internationalisten, die in die Opposition gedrängt wurden. Diese Opposition, deren überragende Figur Leo Trotzki war, führte einen verzweifelten Kampf gegen die offizielle Parteiführung, die Stalinisten. In den entscheidenden Jahren 1926–1927 wurde diese Opposition in der russischen Partei und in der Internationale politisch geschlagen, später ausgerottet. Schon damals sprach sie in Russland im Namen einer Arbeiterklasse, die Bürgerkrieg, Hunger und wirtschaftlichem Wiederaufbau trotz ihrer beispielhaften Kampfbereitschaft zutiefst geschwächt hatten, einer Arbeiterklasse, die sich jahrelang bis aufs Äusserste für die internationale Revolution geopfert hatte, von den wiederholten Niederlagen ihrer Klassengenossen im Ausland demoralisiert und mit ihrer eigenen, sich zunehmend verschärfenden Isolierung konfrontiert wurde. So wurde das dramatische Schicksal der russischen Opposition zweifellos auch von der Tatsache mitbestimmt, dass die Entwicklung und der schliessliche Sieg des Kapitalismus in Russland eine soziale Welle entfesselt hatte, die den antiproletarischen Stalinismus unwiderstehlich vorwärts trug. Doch ist das dramatische Schicksal der Opposition vor allem auf die Schwäche der internationalen kommunistischen Bewegung zurückzuführen. Es geht nicht bloss um den allgemeinen Rückfluss der revolutionären Welle im internationalen Massstab; nicht bloss um die verdammten »Kräfteverhältnisse«, die sich nicht umkehren liessen, sondern im Gegenteil im Laufe einer Reihe von Niederlagen gegen die Kommunisten verfestigten. Vielmehr konnte sich die russische Opposition nicht auf eine internationale kommunistische Bewegung stützen: 1926–27 stand diese Bewegung nicht mehr auf der Höhe ihrer bolschewistischen Ursprünge, die Kräfteverhältnisse – wenn man uns den Ausdruck erlaubt – hatten sich innerhalb der Kommunistischen Internationale selbst, die Komintern war opportunistisch entartet. Schon 1924, auf dem V. Kongress der Komintern, hatte die kommunistische Linke Italiens die internationale kommunistische Bewegung dazu aufgerufen, der russischen Partei einen Teil des grossartigen theoretischen und praktischen Beitrages zurückzugeben, den die Bolschewiki ein paar Jahre früher der internationalen Bewegung geleistet hatten. Dieser Aufruf fand kein Echo. Im Frühjahr 1926 zeigte dieselbe italienische Linke auf der VI. Erweiterten Exekutive, dass es notwendig war, die »Pyramide« der Internationale umzukippen: Diese stand in einem labilen Gleichgewicht auf ihrer »Spitze«, da sie auf einer bolschewistischen Partei beruhte, die auf Grund materieller Verhältnisse ihre Homogenität eingebüsst hatte; sie musste »umgekippt« werden, auf der breiten, soliden »Basis« einer pflichtbewussten kommunistischen Weltbewegung beruhen. Doch auch diese Basis war bereits zutiefst erschüttert. Die Linke forderte die Komintern dazu auf, die »russische Frage«, die internationaler Natur und auch für sie lebenswichtig war, zu ihrer eigenen Frage zu machen und als solche international auf die Tagesordnung zu stellen. Doch war die Internationale nicht mehr auf der Höhe einer solchen Aufgabe. Sie delegierte nur noch Sozialdemokraten, Zentristen und Menschewisten nach Moskau, kurzum jenen ganzen politischen Abschaum, der sich in den verschiedenen »nationalen« Parteien eingenistet hatte und seine Stunde wieder gekommen sah. Die Cachin, Semard, Thälmann, Smeral und Martynow, hinter denen sich eindeutig soziale Kräfte und politische Strömungen verbargen, wollten nur noch ihr Werk gründlich erfüllen. Sie hatten im Stalinismus einen entscheidenden Stützpunkt für ihre eigene opportunistische Politik und für die Liquidierung der proletarischen Kräfte »ihrer« Parteien gefunden; jetzt galt es, als Helfershelfer Stalins das Werk in Russland und international zu vollenden. Der heldenhafte Kampf der englischen Bergarbeiter und der chinesischen Proletarier im Laufe jener selben Jahre konnte, nachdem die unerlässliche internationale kommunistische Führung von diesem sozialdemokratischen Abschaum geradezu überschwemmt worden war, nur zugrunde gehen. Die Dialektik der Konterrevolution hatte sich erfüllt: Die opportunistische Entartung der Internationale, determiniert durch das Abebben der revolutionären Welle und durch den Druck der Verhältnisse in Russland, wurde nunmehr selbst zu einer Determinante des internationalen Zurückweichens des Proletariats und des definitiven Sieges der kapitalistischen Konterrevolution in Russland; die kapitalistische Konterrevolution in Russland, determiniert durch die internationale Schwäche des Proletariats, wirkte auf dieses Proletariat zurück und leitete die grösste konterrevolutionäre Periode in der Geschichte der Arbeiterbewegung ein.

Es wäre lächerlich, vor allem aber antimarxistisch, den schrecklichen Niedergang der internationalen kommunistischen Bewegung allein mit dem »subjektiven Faktor« erklären zu wollen. Doch wäre es nicht weniger lächerlich, und vor allem wäre es defätistisch, die »objektiven Kräfteverhältnisse« als eine Art unentrinnbare Schicksalhaftigkeit heranzuziehen. Wenn man die Lehren aus der Geschichte ziehen will, dann muss man die »objektiven« und »subjektiven« Faktoren als dialektische Bindeglieder eines einzigen Prozesses betrachten. Die genaue Kennzeichnung der widrigen »objektiven« Bedingungen, unter denen die Kommunistische Internationale (der »subjektive« Faktor) zu kämpfen hatte, dient ja gerade einer ebenso genauen Einschätzung ihres Werdegangs und ihrer Aktion[96]. Hier liegt die Quelle für entscheidende Lehren, nicht um Patentrezepte für den Sieg der Revolution zu liefern oder an Schutzvorrichtungen für die Partei herumzuwerkeln, sondern – um beim Ausdruck zu bleiben – um die »Patentrezepte« aufzuzeigen, die diesen Sieg und diesen Schutz erschweren oder gar unmöglich machen; dass man unter dem Druck bestimmter Bedingungen Fehler beging, heisst nicht, dass man sie wiederholen muss; und die deterministische Geschichtsauffassung ist kein Trostspender, sondern eine Anleitung zu Handeln. Nun, in dieser Beziehung haben wir, die wir in der Tradition der kommunistischen Linke Italiens stehen, das Recht zu behaupten, dass die Lehren, die wir aus dem Zusammenbruch der Komintern ziehen, keine Lehren a posteriori sind, sondern die Bestätigung unserer Vorhersagen, eine Bestätigung, die von entscheidender Bedeutung ist für die Vorbereitung der kommenden proletarischen Revolution in allen Ländern[97].

Die Kommunisten des Westens sahen im Bolschewismus mit Recht einen wertvollen Meister, bei dem man in die Lehre gehen musste. Wenn die Bolschewiki diese Rolle übernehmen konnten, so weil sie hartnäckig die theoretische Unnachgiebigkeit verteidigt und sich als fähig erwiesen hatten, diese in allen Situationen in die Praxis umzusetzen. Die Bolschewiki hatten keinen Augenblick lang gezögert, alle Brücken nicht nur zum rechten Revisionismus, sondern auch zum viel gefährlicheren zentristischen Revisionismus unwiderruflich abzubrechen. Sie hatten die sozialen und politischen Grundlagen dieser zwei Strömungen aufgedeckt und wussten daher von vornherein, dass beide auf der anderen Seite der Barrikade stehen würden. Darin liegt der Sinn der Abgrenzung der leninistischen Linke von der pazifistischen Linke in Zimmerwald[98]; darin liegt auch der Sinn der »Aprilthesen« und der Kurskorrektur, die diese den verirrten »alten Bolschewiki« aufzwangen. Aus dieser Parteihaltung schöpfte die Oktoberrevolution die Kraft, um die letzten Bündnisse mit anderen Gruppen und Parteien zu brechen, die Diktatur zu errichten, den roten Terror auszuüben und den Bürgerkrieg zu führen. Aus der russischen Revolution hätten die Kommunisten der ganzen Welt zu allernächst diese Lehre ziehen müssen. Dies gilt umso mehr, als die kurz darauf in Ungarn geerntete Niederlage deutlich genug zeigte, welchen Preis man zahlen muss, wenn man gerade diese Lehre vergisst, ganz davon zu schweigen, dass die 21 Aufnahmebedingungen der Komintern es den Kommunisten zur Pflicht machten, diese Lehre strikt zu beachten.

Doch dem war nicht so. Mehr noch, gerade diese Lehre ging verschütt, und die Bolschewiki selbst – unter dem Druck materieller Kräfte, die von innen und aussen wirkten – verloren die Tatsache aus dem Auge, dass sie im Westen keine geringere, sondern eine noch grössere Gültigkeit besass als in Russland, und zwar aus denselben Gründen, weshalb es in den westeuropäischen Ländern schwieriger war, die Revolution zu beginnen. Die theoretische und organisatorische Unnachgiebigkeit, der »sektiererische« Mut zur restlosen Spaltung von allen zweifelhaften Elementen, das Bewusstsein, dass der Graben zwischen allen Varianten des Opportunismus (auch des sich revolutionär gebärdenden) einerseits und dem Kommunismus andererseits unwiderruflich und unüberbrückbar war, das alles hätte auf die politische Weltorganisation des revolutionären Proletariats in übersteigerter Form hineingetragen werden müssen. Diese extrem rigorose politische Spaltung war die erste Voraussetzung, um die proletarischen Massen bei zunehmender Verschärfung der objektiven Situation für den Kommunismus gewinnen zu können, oder um selbst in der Niederlage die Voraussetzungen für eine Wiederaufnahme des revolutionären Kampfes zu retten. In diesem Sinne verlangte die Linke härtere Aufnahmebedingungen und wies darauf hin, dass Zugeständnisse an zentristische Elemente, bzw. die Berücksichtigung der »besonderen Verhältnisse« jedes Landes in den Fragen der Spaltung die Gefahr mit sich brachte, dass der zur Tür hinausgeworfene Opportunismus wieder durchs Fenster hineinkäme. Namentlich verlangte die Linke, dass die Parteien, die der Internationale beitreten wollten, ein Programm ausarbeiten mussten, in dem die Prinzipien und die Beschlüsse der Internationale eindeutig festgehalten sein mussten, wobei die Minderheit, die sich gegen dieses Programm aussprechen sollte, schon aus diesem Grunde auszuschliessen sei (Programm und Prinzipien kann man bekanntlich nicht aus Disziplin annehmen: entweder akzeptiert man sie ohne Vorbehalte und ist in der Partei, oder man akzeptiert sie nicht und ist demzufolge nicht in der Partei). Am liebsten hätte es die Linke gesehen, wenn die Internationale sich als einzige und einheitliche Weltpartei mit einem einzigen Programm, aus dem genaue und ebenso obligatorische taktische Normen abzuleiten waren, organisiert hätte. Aufgrund ihrer langen Erfahrung kannte die italienische Linke den zersetzenden Einfluss, den die demokratische und parlamentarische Praxis auf die westlichen Parteien ausübte; deshalb schlug sie eine Taktik des aktiven Wahlboykottismus (die nichts mit den Positionen der Anarchisten und »Rätekommunisten« zu tun hatte) anstelle des »revolutionären Parlamentarismus« vor, den die Mehrheit der III. Internationale praktizieren wollte. Sie schlug vor, dass sich die Spaltungen, aus denen die kommunistischen Parteien hervorgehen sollten, so weit wie möglich nach links vollziehen sollten (unter Ausschluss der nichtmarxistischen »Linken«, versteht sich), nicht etwa aus einem theoretischen Luxus oder aus »Parteihass«, sondern vielmehr aufgrund höchst praktischer Erwägungen oder – wenn man so will – aus Klassenhass. Schliesslich forderte sie, dass der Beitritt zur kommunistischen Partei unter keinen Umständen auf Grund von Transaktionen (bzw. durch Zugeständnisse an schwankende »Führer«, um Basismitglieder zu erwerben) erfolgen sollte, sondern nur durch die verbindliche Zustimmung jedes einzelnen beitretenden Militanten.

Seit damals warnte die Linke vor der Gefahr einer opportunistischen Entartung, Wenn es nicht gelingen sollte, im Laufe der ersten revolutionären Welle die Macht zu erobern, würden sich Stabilisierungstendenzen des Kapitalismus zeigen, und die Internationale würde gegen die Tendenz eines »sozialdemokratischen Rückfalls« in ihren eigenen Reihen zu kämpfen haben; jede Konzession im Entstehungsprozess der verschiedenen Sektionen würde sich dann bitter rächen.

Während aber die revolutionäre Situation sich zunehmend zu verschärfen schien, waren in den entscheidenden Ländern des Westens die »subjektiven Kräfte«, die voll und ganz auf dem Boden des Kommunismus standen, noch viel zu gering, um auf die Arbeitermassen einen ausschlaggebenden Einfluss ausüben zu können. Die Bolschewiki zogen daher vor, »elastischere«, »leichtere« Methoden anzuwenden, um die Bildung von kommunistischen Parteien zu beschleunigen. So wurden zentristische Flügel und Gruppen in die nationalen Sektionen der Komintern aufgenommen in der Hoffnung, die reinigende Kraft des revolutionären Schmelztiegels würde schon die zentristischen Führer wieder entfernen, oder deren Assimilierung und Disziplinierung unter der kommunistischen Autorität des Bolschewismus ermöglichen. Als Gegengewicht (zur Neutralisierung rechter Tendenzen) versuchte man sich andererseits auf linksradikale Gruppen zu stützen. Die zwei Punkte, an denen die Bolschewiki den Hebel ansetzen wollten – nämlich der säubernde Einfluss der sich zunehmend verschärfenden revolutionären Krise und die Tradition theoretischer und praktischer Unnachgiebigkeit ihrer eigenen Partei – erwiesen sich aber als brüchig. Die Voraussetzungen für dieses grossmütige Manöver verschwanden unter dem Druck materieller Bedingungen nach und nach, doch die Methoden, die von diesen Voraussetzungen ausgingen, wurden nicht geändert, sondern im Gegenteil zugespitzt: Der Rückfluss der revolutionären Welle, die Schwächung der bolschewistischen Partei, die opportunistischen Fehler der kommunistischen Parteien in den anderen Ländern führten nicht zu einem vorübergehenden aber geordneten Rückzug, sondern verleiteten die Komintern immer mehr zu einer »Flucht nach vorn«, zu einer weiteren Ausradierung der Grenzen der Bewegung in der Organisation und in der Taktik. Mit der Taktik der »politischen Einheitsfront« mit der Sozialdemokratie wurde auf dem III. Weltkongress (1921) zugleich die konterrevolutionäre Rolle der Sozialdemokratie relativiert (1923 sollte die KPD diese grundlegende Prämisse kommunistischer Strategie überhaupt über Bord werfen und den Übergang der Sozialdemokratie auf die Seite der Revolution zur Bedingung des Erfolgs erklären); 1922 wurde die zentrale Losung der Diktatur des Proletariats geschwächt durch die Forderung nach einer »Arbeiterregierung« (später sogar nach einer »Arbeiter- und Bauernregierung«). Die Losung der »Eroberung der Mehrheit der Arbeiterklasse«, die für Lenin die Eroberung des grösstmöglichen realen Einflusses bedeutete und damit eine (freilich immer zu betonende) Selbstverständlichkeit war, verwandelte sich in der Interpretation der Epigonen in das Ideal der zahlenmässigen Mehrheit, in einen abstrakten, von jeder deterministischen Betrachtung völlig losgelösten Gradmesser für die Wirksamkeit der kommunistischen Parteien.

Gegen diese Entwicklung stellte sich die italienische Linke als einzige Strömung in der Internationale. Ohne die internationale Disziplin zu verletzen, schwamm sie »gegen den Strom«, zunehmend isoliert, denn je mehr die wirkliche Entwicklung verlangte, dass man gegen den Strom schwamm, um die Bedingungen eines erneuten kommunistischen Angriffs vorzubereiten, desto weniger war die Internationale dazu in der Lage. Auch die beste bolschewistische Tradition konnte an der Tatsache nichts ändern, dass die Partei, bzw. die Internationale nicht nur ein Faktor, sondern zugleich ein Produkt der Geschichte ist, und dass die angewandte Taktik auf denjenigen zurückwirkt, der sie anwendet, denn sie setzt innerhalb und ausserhalb der Partei materielle Kräfte in Bewegung und kann je nach ihrer Ausrichtung den Weg zur Revolution versperren, anstatt ihn zu ebnen. Jedes Manöver, jede Verwischung der Grenzen kommunistischer Taktik und Organisation wurden durchgeführt, um die Eroberung der Massen zu ermöglichen, um die Kräfteverhältnisse zugunsten der Kommunisten zu verschieben. Doch dadurch wurden die Massen nicht erobert und die Kräfteverhältnisse nicht verschoben; die Internationale aber, als kommunistische Partei zunehmend geschwächt, wurde zu einem Spielball in den Händen der »objektiven Verhältnisse«, die revolutionär zu beeinflussen sie nicht mehr in der Lage war. Auf diesem Weg führten die taktischen und organisatorischen Fehler schliesslich, aber zwangsläufig (gerade dies muss man sehr gut verstehen) zu einer Revision der theoretischen und programmatischen Prinzipien der Bewegung. Der zur Tür hinausgejagte Opportunismus konnte schliesslich in voller Würde, nicht nur durchs Fenster, sondern durch Tür und Tor, mit Kind und Kegel und per »Bolschewisierungsdekret« in die Internationale einziehen. 1926–1927 waren die Bolschewiki nur noch eine verfemte Opposition innerhalb der Internationale und wurden von denjenigen Parteien geradezu hysterisch bekämpft, die zu assimilieren und disziplinieren sie sich kraft ihrer Tradition und Autorität zum Ziel gesetzt hatten; sie standen ganz allein einem Feind gegenüber, zu dessen Ausbreitung innerhalb der Bewegung sie selbst unbewusst beigetragen hatten; sie mussten innerhalb der kommunistischen Weltorganisation gegen die schlimmsten Agenten der reformistischen Reaktion kämpfen. Dies schmälert nicht die Grösse eines Trotzki, der gegen die »Internationale« Stalins und tragischer Weise auch Bucharins hartnäckig den Internationalismus verteidigte; dies schmälert nicht die Grösse eines Sinowjew, der sich auf der VII. Erweiterten Exekutive der Komintern das eigene Grab schaufelte, indem er bewies, dass der »Sozialismus in einem Land« die vollständige Negation des Marxismus und folglich auch des »Leninismus« war. Doch das war nicht genug, es galt noch die Lehren aus dieser Katastrophe zu ziehen, und das setzte eine Abrechnung mit der verfolgten taktischen und organisatorischen Linie voraus. Dazu waren sie aber nicht mehr in der Lage, und es war auch zu spät.

• • •

Für uns gehört das alles zu den Lehren des Oktober. Die Ereignisse konnten nicht anders ablaufen. Aber die Vergangenheit hat in Form von geschichtlichen Lehren die einzigen Waffen geschmiedet, die innerhalb der Grenzen, wo der »subjektive Faktor« – die Parteiaktion – determinierend ist, geeignet sind, die Klasse, die den Schlüssel für die Zukunft in der Hand hält, vom Zwang zu befreien,
»seine Geschichte, seine Schwankungen, seine Unentschlossenheit und seine Fehler zu wiederholen.«[99]

Die Konterrevolution konnte den Oktober zerschlagen, aber sie konnte nicht und wird niemals den Kapitalismus daran hindern können, den Zündstoff für eine revolutionäre Wiedergeburt, die mächtiger denn je sein wird, anzuhäufen. Auf dieser materiellen Basis, aus diesem unentrinnbaren Determinismus, wird die Klassenpartei auf Weltebene wieder entstehen, bewaffnet mit der vollständigen Bestätigung des Marxismus, mit den Lehren aus dem Siege wie aus der Niederlage der Oktoberrevolution, kraft einer geschichtlichen Kontinuität, die vom Bund der Kommunisten bis heute jede bürgerliche Konterrevolution und reaktionäre Welle überdauert hat, denn sie verkörpert eine historische Notwendigkeit, die stärker ist als die grausamsten Rückschläge auf dem Wege des Klassenkampfes – auch von der Kommunistischen Internationale ging doch nicht alles verloren[100].

Notes:
[prev.] [content] [end]

  1. Lenin, »Staat und Revolution«, Werke, Bd. 25, S. 397. [⤒]

  2. Marx, »Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie«, Einleitung. MEW, Bd. 1, S. 385. [⤒]

  3. Marx, »Das Elend der Philosophie«, MEW, Bd. 4, S. 182. [⤒]

  4. Lenin, »Der ›linke Radikalismus‹, die Kinderkrankheit im Kommunismus«, Werke, Bd. 31, S. 1–99. [⤒]

  5. Lenin, »Der ›linke Radikalismus‹, die Kinderkrankheit im Kommunismus«, Werke, Bd. 31, S. 5. [⤒]

  6. Lenin, »Der ›linke Radikalismus‹, die Kinderkrankheit im Kommunismus«, Werke, Bd. 31, S. 6. [⤒]

  7. russ. Feldgemeinschaftsform; Land durch Gemeindebeschluss unter die Bauern zur Nutzung aufgeteilt. [⤒]

  8. Lenin, »Was tun? Brennende Fragen unserer Bewegung«, Werke, Bd.5, S. 355–551. [⤒]

  9. »… die russische Revolution… [ist] gar nicht durch ein besonderes Verdienst des russischen Proletariats, sondern durch den Verlauf des allgemeinen Zuges der historischen Ereignisse hervorgerufen worden…, die dieses Proletariat nach dem Willen der Geschichte einstweilen auf den ersten Platz gestellt und zeitweise zur Vorhut der Weltrevolution gemacht haben«
    Lenin, »Referat über den Kampf gegen die Hungersnot«, Werke, Bd. 27, S. 421. [⤒]

  10. Marx/Engels, Vorrede zur 2. russischen Ausgabe des »Manifests der Kommunistischen Partei«. MEW, Bd. 19, S. 296. [⤒]

  11. Engels, »Nachwort zu ›Soziales aus Russland‹«, MEW, Bd. 22, S.435. Es ist wohl nicht nötig, darauf hinzuweisen, dass für einen Marxisten jedes »Vaterland« ein »Mir«, eine abgekapselte Welt ist, wo die Ausgebeuteten in einer erniedrigenden Einsamkeit eingesperrt sind. [⤒]

  12. Keine Revolution ist möglich ohne das Zusammenwirken dieser zwei Faktoren: des Bewusstseins – d. h. genauer der Theorie, des Programms, der Partei, die den geschichtlichen Verlauf des physischen proletarischen Klassenkampfes vorwegnehmen – und der spontanen Massenaktionen. [⤒]

  13. Lenin, »Der ›linke Radikalismus‹, die Kinderkrankheit im Kommunismus«, Werke, Bd. 31, S. 10. [⤒]

  14. Lenin, »Der ›linke Radikalismus‹, die Kinderkrankheit im Kommunismus«, Werke, Bd. 31, S. 10. [⤒]

  15. Lenin, »Referat auf der Moskauer Gouvernementskonferenz der Betriebskomitees«, Werke, Bd. 27, S. 574. [⤒]

  16. Diese Reife ergibt sich dialektisch aus dem Reifegrad des Kapitalismus selbst, der nicht im Massstab eines Landes, sondern nur im Weltmassstab zu bemessen ist. Dass es ausserhalb des Marxismus keine Rettung gibt, gilt übrigens (im Guten wie im Schlechten) ebenso für jene Völker, die erst heute in den Sog der kapitalistischen Produktionsweise hineingerissen werden. [⤒]

  17. Lenin, »Die Aufgaben der russischen Sozialdemokraten«, Werke, Bd. 2, S. 330. [⤒]

  18. Lenin, »Die Aufgaben der russischen Sozialdemokraten«, Werke, Bd. 2, S. 336. Man denke an die heutigen »Leninisten« welche die Wehklagen der Kleinbourgeoisie über die Monopole zur Grundlage der eigenen Ideologie machen. [⤒]

  19. Lenin, »Die Aufgaben der russischen Sozialdemokraten«, Werke, Bd. 2, S. 337. In der Tat wird sich die Bourgeoisie sehr bald mit dem Absolutismus gegen die Bauern (die Land forderten) und die Arbeiter (die bessere Arbeitsbedingungen forderten) verbünden. Die Kleinbourgeoisie, dieses moderne Janushaupt, wird alternativ ihre beiden Gesichter zeigen, je nachdem, welche der beiden wesentlichen Klassen der Gesellschaft ihr stärker vorkommt und sie an sich reisst. Was die »gebildeten Leute« und die »Intelligenz« angeht, so konnten sie trotz der üblichen Agitation die eigene Untertanenhaltung nicht verbergen. [⤒]

  20. Lenin, »Die Aufgaben der russischen Sozialdemokraten«, Werke, Bd. 2, S. 338. [⤒]

  21. Marx/Engels, »Manifest der Kommunistischen Partei«, MEW, Bd. 4, S. 459–493. [⤒]

  22. Marx/Engels, »Ansprache der Zentralbehörde an den Bund vom März 1850«, MEW, Bd. 7, S. 244–254. [⤒]

  23. Marx, »Klassenkämpfe in Frankreich 1848–1850«, MEW, Bd. 7, S. 11–107. [⤒]

  24. Die Sozialdemokratische Arbeiterpartei Russlands (SDAPR) wurde 1898 in Minsk gegründet. Am 2. Parteitag 1903 in London bildeten sich innerhalb der Organisation zwei Fraktionen. Die Bolschewiki (»Mehrheitler«) auf der einen die Menschewiki (»Minderheitler«) auf der anderen Seite. Die Spaltung der Partei erfolgte 1913. [⤒]

  25. Marx/Engels, »Ansprache der Zentralbehörde an den Bund vom März 1850«, MEW, Bd. 7, S. 244–254. [⤒]

  26. Marx/Engels, »Ansprache der Zentralbehörde an den Bund vom März 1850«, MEW, Bd. 7, S. 254. [⤒]

  27. Siehe zu dieser Frage ausser der Schrift »Zwei Taktiken der Sozialdemokratie in der demokratischen Revolution«, Werke, Bd. 9, S. 1–130, 1905 auch die Polemik Lenins gegen die Menschewiki von 1909 (»Das Kampfziel des Proletariats in unserer Revolution«, Werke, Bd. 15. S. 360–379). Die Menschewiki sahen die Aufgabe des Proletariats darin, »der Motor der Revolution zu sein«, und nicht (wie die Bolschewiki)deren »Leiter«, deren »Führer«. Lenin zeigte, dass die menschewistischen Positionen im Grunde nichts anderes bedeuteten als »Abhängigkeit der Arbeiterklasse von der liberal-monarchistischen, konterrevolutionären Bourgeoisie«. Wie Lenin in der Schrift »Zwei Taktiken…« zeigt, wird der Sieg nur möglich sein, wenn die Partei sich als fähig erweist,
    »dem Gang der Ereignisse den Stempel ihrer proletarischen Selbständigkeit aufzudrücken« (Werke, Bd. 9, S. 42). [⤒]

  28. Lenin, »Zwei Taktiken der Sozialdemokratie in der demokratischen Revolution«, Werke, Bd. 9, S.44. 1905 Nicht einmal im äussersten Fall einer Nationalisierung des Bodens (1918 wird Lenin ergänzen: Nicht einmal bei einer Nationalisierung der Industrie und ihrer Kontrolle durch den Staat) kann man in Russland allein die sozialen und ökonomischen Grenzen einer bürgerlich-demokratischen Revolution überspringen und demzufolge auch nicht den potentiell antagonistischen Charakter der Beziehungen zwischen Proletariat und Bauernschaft abschaffen. 1906 im Kampf gegen Plechanow, der die »Munizipalisierung« des Bodens forderte, erklärte Lenin:
    »Die Munizipalisierung ist eine von verschiedenen Arten des Grundbesitzes, aber ist es nicht klar, dass durch die Form des Grundbesitzes die grundlegenden und wesentlichen Merkmale einer Klasse nicht geändert werden?« (»Bericht über den Vereinigungsparteitag der SDAPR«, Werke, Bd. 10, S. 336).
    Lenins Argumentation kann auch auf Trotzkis Theorie der »permanenten Revolution« angewendet werden. Siehe auch »Kleinbürgerlicher und proletarischer Sozialismus« (Lenin, Werke, Bd. 9, S. 444ff. 1905). Auch hier erklärt Lenin sehr ausführlich, dass der vollständige Sieg der Agrarrevolution weder die Warenwirtschaft und den Kapitalismus, noch die Klassenteilung der Gesellschaft aufheben können. [⤒]

  29. D. h., dass das Proletariat nicht nur die bürgerlich-demokratische Revolution zu Ende führen muss (um damit die materiellen Bedingungen seiner eigenen Revolution vorzubereiten), sondern auch gestützt auf die Bauernschaft das Ruder dieser Revolution gegen die anderen Klassen (Gross- und Mittelbourgeoisie) an sich reissen muss. [⤒]

  30. Engels, »Soziales aus Russland«, MEW, Bd. 18, S. 556–567. Referiert wird hier allerdings vielmehr auf Engels »Nachwort zu ›Soziales aus Russland‹«, Siehe Fussnote 11.[⤒]

  31. Die Leninsche Formel ist keineswegs statisch, sondern dynamisch. Sie schliesst auch nicht aus, dass das Proletariat als Ergebnis der Volksrevolution die Macht allein übernimmt. Das geht aus obigen Ausführungen bereits hervor, doch muss man darauf zurückkommen wegen des unglaublichen Durcheinanders, das die stalinistische Entstellung der Polemik zwischen Lenin und Trotzki verursachte. Die Polemik zwischen Lenin und Trotzki tangierte nicht die Frage der politischen Macht. Trotzki selber hob diesen Punkt später hervor und zeigte den »algebraischen« Charakter der Leninschen Formel, die erst durch den Verlauf des Klassenkampfes ihre »arithmetische« Gestalt annahm. Mit anderen Worten, die »demokratische Diktatur des Proletariats und der Bauernschaft« hat sich nur als Diktatur des Proletariats verwirklichen lassen. Doch gerade hier liegt das Problem, denn, wenn Lenin diese äusserste und die bestmögliche politische Lösung nie ausgeschlossen hatte, so hatte er ständig darauf hingewiesen, dass diese Diktatur ihrem sozialen und ökonomischen Inhalt nach eine »demokratische Diktatur der Arbeiter und Bauern« bleiben würde. Auf dieser Ebene konnte die Machteroberung durch das Proletariat in Russland allein den bürgerlichen Charakter der Revolution nicht überwinden. Für Trotzki im Gegenteil würde das Proletariat, wenn es die Macht erobert, gezwungen sein, in der Ökonomik die bürgerlichen Verhältnisse zu überwinden, was ihm freilich nur durch die internationale Ausdehnung der Revolution vollständig gelingen würde. Die Diktatur des Proletariats schuf in Russland die politischen Bedingungen für die sozialistische Umgestaltung, d. h. durch die Eroberung der politischen Macht gab es keine »chinesische Mauer« mehr zwischen bürgerlicher und proletarischer Revolution. Doch sowohl der Fortbestand der bürgerlichen Umgestaltung als auch der Bestand der bürgerlichen Macht überhaupt waren undenkbar ohne die Ausweitung der Revolution auf den kapitalistischen Westen (wo die materiellen, ökonomischen Voraussetzungen für die sozialistische Umgestaltung vorhanden waren) und zwar aus dem wohl einfachen Grunde, dass die Schaffung der materiellen Voraussetzungen für die sozialistische Umgestaltung im isolierten Russland eine ökonomisch kapitalistische Entwicklung sein musste, deren soziale und politische Folgen unentrinnbar die proletarische Herrschaft gefährden müssten. Hier geht es nicht um den »Willen« des Proletariats, sondern um die materiellen Bedingungen überhaupt. Daher Lenins Kritik, die sich folgendermassen zusammenfassen lässt:
    »Der grundlegende Fehler Trotzkis besteht darin, dass er den bürgerlichen Charakter der Revolution ignoriert, dass er hinsichtlich der Frage des Übergangs von dieser zur sozialistischen Revolution keine klaren Vorstellungen hat.« (Lenin, »Das Kampfziel des Proletariats in unserer Revolution«, Werke, Bd. 15, S. 371).
    Es ist noch darauf hinzuweisen, dass Trotzki seine Fassung der Schrift »Die permanenten Revolution« (In: »Nasha Revolyutsiya«, S. 224–286, 1906. Zweite russ. Publikation: Dezember 1917) vor seinem Parteibeitritt abgelegt hat und von da an die orthodoxe leninistische Auffassung jahrelang unnachgiebig vertreten hat (nicht zuletzt in seinem Kampf gegen die Stalinisten in der Frage der chinesischen Revolution bis zum Sommer 1927). Erst nach seiner Niederlage im Kampf gegen Stalin kehrte Trotzki auf seine ursprüngliche »Theorie« zurück, ja musste er auf sie zurückkommen, den gerade sie erlaubte ihm auch nach der politischen Niederlage des Proletariats in Russland, weiterhin auf einen »Übergangscharakter« der Sowjetwirtschaft zu bestehen, d. h. in ihr fand er eine »theoretische« Rechtfertigung für die Fortsetzung seiner Politik einer Verteidigung der UdSSR. Aber auf die Entwicklung Trotzkis werden wir im zweiten Abschnitt dieser Arbeit zurückkommen. [⤒]

  32. Lenin, »Bericht über den Vereinigungsparteitag der SDAPR«, Werke, Bd. 10, S. 334. [⤒]

  33. Lenin, »Der Krieg und die russische Sozialdemokratie«, Werke, Bd. 21, S. 20. 1914. [⤒]

  34. Die »Zweite Internationale« wurde 1889 gegründet. 1914 unterstützen die meisten ihrer Sektionen den ersten imperialistischen Weltkrieg. [⤒]

  35. »Die meisten Aufsätze, die in diesem Band zusammengefasst sind, erschienen in dem Auslandsorgan ›Sozial-Demokrat‹ (Zentralorgan der SDAPR-Bolschewiki), das von Ende 1914 bis Anfang 1917 in der Schweiz herausgegeben wurde. Nur ein grosser Zeitschriftenaufsatz entstammt der Zeitschrift ›Kommunist‹ (von der nur eine Nummer 1915 in der Schweiz erschienen ist).« Lenin, »Vorwort zum Sammelband ›Gegen den Strom‹«, Werke, Bd. 27, S. 211. [⤒]

  36. Lenin, Werke, Bd. 23, S. 72–83. [⤒]

  37. siehe Lenin, »Über die Aufgaben des Proletariats in der gegenwärtigen Revolution«, Werke, Bd. 24, S. 3–8. [⤒]

  38. Lenin, »Referat über die Naturalsteuer«, Werke, Bd. 32, S.422–437. [⤒]

  39. Marx/Engels, »Manifest der Kommunistischen Partei«, MEW, Bd. 4, S. 459–493. [⤒]

  40. Marx/Engels, »Ansprache der Zentralbehörde an den Bund«, MEW, Bd. 7, S. 244–254. [⤒]

  41. Lenin, »Die Aufgaben des Proletariats in unserer Revolution«, Werke, Bd. 24, S. 72. [⤒]

  42. Lenin, »Die Aufgaben des Proletariats in unserer Revolution«, Werke, Bd. 24, S. 44. [⤒]

  43. Um das schwankende Gleichgewicht dieser »Doppelherrschaft« zu sprengen und die Revolution zum Erfolg zu führen, stellen sich die Bolschewiki die Aufgabe, die Mehrheit in den dazu geeigneten Organisationen, d. h. in den Sowjets, keineswegs in den parlamentarischen Institutionen zu erobern. [⤒]

  44. Der Inlandsflügel der bolschewistischen Partei (manchmal spöttisch »alte Bolschewiki« genannt) liess sich zwischen Februar und April 1917 durch eine Art »geschichtlicher Trägheit« übermannen und betrieb eine versöhnlerische Politik gegenüber der provisorischen Regierung. Trotzki wird in dieser Beziehung die sehr treffende Diagnose eines »sozialdemokratischen Rückfalls« vor den grossen Wenden der Geschichte stellen. [back to note 99].[⤒]

  45. Lenin, »Ausserordentlicher Siebenter Parteitag der KPR (B)«, Werke, Bd. 27, S. 95. [⤒]

  46. Lenin, »Die proletarische Revolution und der Renegat Kautsky«, Werke, Bd. 28, S. 225–327. [⤒]

  47. Lenin, »Über die Aufgaben des Proletariats in der gegenwärtigen Revolution«, Werke, Bd. 24, S. 6. [⤒]

  48. Lenin, »Eine Seuche der Vertrauensseligkeit«, Werke, Bd. 25, S.54. [⤒]

  49. Lenin, »Staat und Revolution«, Werke, Bd. 25, S. 412. [⤒]

  50. Lenin zitiert aus dem »Manifest der Kommunistischen Partei« wo der Satz genau lautet:
    »Das Proletariat wird seine politische Herrschaft dazu benutzen, der Bourgeoisie nach und nach alles Kapital zu entreissen, alle Produktionsinstrumente in den Händen des Staates, d. h. des als herrschende Klasse organisierten Proletariats, zu zentralisieren…« [unsere Hervorhebung] MEW, Bd. 4, S. 481. [⤒]

  51. Die Niederschrift des VII Kapitels von »Staat und Revolution« ging kaum über den Titel »Die Erfahrungen der russischen Revolution von 1905 und 1917« hinaus. Sie wurde abgebrochen um den Aufstand vorzubereiten:
    »Der Erfolg der russischen sowohl wie der Weltrevolution« (nirgends findet man in der revolutionären Literatur der Oktoberrevolution diese zwei Ausdrücke getrennt!) »hängt von zwei, drei Tagen des Kampfes ab.« (Lenin, »Ratschläge eines Aussenstehenden«, Werke, Bd. 26. S. 168).
    Es ist noch darauf hinzuweisen, dass es für den Philister typisch ist, das literarische oder praktische revolutionäre Werk Lenins für das Werk eines »grossen Mannes« oder eines »hervorragenden Individuums« zu halten. Für uns war (und ist) ein Lenin die Waffe einer Klasse und einer Partei – darin liegt auch die grösste Ehre, die man ihm erweisen könnte. [⤒]

  52. Lenin, »Bericht über die Tätigkeit des Rats der Volkskommissare«, Werke, Bd. 26, S. 471. [⤒]

  53. Lenin, »Rede in der gemeinsamen Sitzung des Gesamtrussischen Zentralexekutivkomitees, des Moskauer Sowjets, der Betriebskomitees und der Gewerkschaften«, Werke, Bd. 28, S. 9–10. [⤒]

  54. Lenin, »Die nächsten Aufgaben der Sowjetmacht«, Werke, Bd. 27, S. 255. [⤒]

  55. Lenin, »Die proletarische Revolution und der Renegat Kautsky«, Werke, Bd. 28, S. 250. Siehe auch Engels, »Brief an Bebel«, MEW, Bd. 19, S. 7. Was die »formelle Demokratie« angeht, so hat die Sowjetmacht nicht nur alle politischen Recht der Bourgeoisie entzogen, sondern auch der bäuerlichen Kleinbourgeoisie geringere Rechte als dem Proletariat zuerkannt. [⤒]

  56. siehe auch Engels, »Von der Autorität«, MEW, Bd. 19, S. 308. Diese bei Lenin ungenau wiedergegebene Textstelle lautet im Original wie folgt:
    »… die siegreiche Partei muss, wenn sie nicht umsonst gekämpft haben will, dieser Herrschaft Dauer verleihen durch den Schrecken, den ihre Waffen den Reaktionären einflössen«. [⤒]

  57. Eine ausgezeichnete, im Feuer des Bürgerkrieges geschriebene Darstellung der Rolle der Gewalt, der Diktatur und des roten Terrors ist Trotzkis Schrift »Terrorismus und Kommunismus«. Siehe dazu auch den Text der Partei »Gewalt und Diktatur im Klassenkampf«. [⤒]

  58. Lenin, »Ausserordentlicher Siebenter Parteitag der KPR (B)«, Werke, Bd. 27. S. 95. [⤒]

  59. Marx/Engels, »Manifest der Kommunistischen Partei«, MEW, Bd. 4. S. 471. [⤒]

  60. Lenin, »Die Lehren der Revolution«, Werke, Bd. 25, S. 243. [⤒]

  61. Lenin, »Der ›linke Radikalismus‹, die Kinderkrankheit im Kommunismus«, Werke, Bd. 31, S. 8, 29, 30. [⤒]

  62. Trotzki, »Die Lehren der Pariser Kommune«, zitiert aus »Arbeiterliteratur«, Jahrgang 1, S. 108, Verlag für Literatur und Politik, Wien VIII. [⤒]

  63. »Leitsätze über die Rolle der Kommunistischen Partei in der proletarischen Revolution«. Zitiert aus »Die Kommunistische Internationale«, Band I, S. 169, 171, 172, 173, intarlit, 1984. [siehe auch hier][⤒]

  64. siehe Lenin, Werke, Bd. 26, S. 422. [⤒]

  65. Lenin, »Dritter Gesamtrussischer Kongress der Sowjets der Arbeiter-, Soldaten-, und Bauerndeputierten«. Werke, Bd. 26, S. 472. [⤒]

  66. (Zitat so bisher nicht verifizierbar. Überarbeitung 2000, sinistra.net) [⤒]

  67. Lenin, »Die Aufgaben des Proletariats in unserer Revolution«, Werke, Bd. 24, S. 69. [⤒]

  68. Lenin, »Politischer Bericht des Zentralkomitees«, Werke, Bd. 27, S. 85. [⤒]

  69. Lenin, »Die Hauptaufgabe unserer Tage«, Werke, Bd. 27. S. 148. [⤒]

  70. Nikolai Bucharin/Jewgeni Preobraschenski. »Das ABC des Kommunismus« S. 252. Manesse Verlag, 1985 (in italienisch »L’A.B.C. del comunismo« auf unserem Server verfügbar)
    Bereits in der ersten Skizze zum »Manifest der Kommunistischen Partei« hatte Engels 1847 geschrieben:
    »Wird diese« (die proletarische) »Revolution in einem einzigen Lande allein vor sich gehen könne? Nein… Sie ist eine universelle Revolution und wird daher auch ein universelles Terrain haben.« Engels, »Grundsätze des Kommunismus«, MEW, Bd. 4, S. 374–375. [⤒]

  71. Lenin, »Die Hauptaufgabe unserer Tage«, Werke, Bd. 27. S.150. [⤒]

  72. Marx/Engels, »Manifest der Kommunistischen Partei«, MEW, Bd. 4. S.493. [⤒]

  73. Lenin, »Politischer Bericht des Zentralkomitees«, Werke, Bd. 27, S. 75. [⤒]

  74. Lenin, »Über die Innen- und Aussenpolitik der Republik«, Werke, Bd. 33, S.140. [⤒]

  75. »Die Kommunistische Internationale. Band I: Manifeste, Leitsätze, Thesen und Resolutionen, 1. und 2. Weltkongress 1919/1920«, intralit Verlag. S. 200. [siehe auch hier] [⤒]

  76. Lenin, »Referat über die Ersetzung der Ablieferungspflicht durch die Naturalsteuer«, März 1921, Werke, Bd. 32. S. 216–217. [⤒]

  77. Marx/Engels, »Manifest der Kommunistischen Partei«, MEW, Bd. 4, S. 481. [⤒]

  78. Lenin, »Über die Aufgaben des Proletariats in der gegenwärtigen Revolution«, Werke, Bd. 24, S. 6. [⤒]

  79. Lenin, »Die drohende Katastrophe und wie man sie bekämpfen soll«, Werke, Bd. 25, S. 332. [⤒]

  80. »Wenn man den welthistorischen Massstab anlegt, so kann kein Zweifel daran bestehen, dass der Endsieg unserer Revolution eine hoffnungslose Sache wäre, wenn sie allein bliebe, wenn es in den anderen Ländern keine revolutionäre Bewegung gäbe.« (Lenin, »Politischer Bericht des Zentralkomitees«, Werke, Bd. 27, S. 81)
    »Hier haben wir die grösste Schwierigkeit der russischen Revolution, ihr grösstes historisches Problem: die Notwendigkeit, die internationalen Aufgaben zu lösen, die Notwendigkeit, die internationale Revolution auszulösen, den Übergang zu vollziehen von unserer Revolution als einer eng nationalen zur Weltrevolution.« (ebd. S. 78). [⤒]

  81. Lenin, »Referat über die Revision des Parteiprogramms und die Änderung des Namens der Partei«, Werke, Bd. 27, S.118. [⤒]

  82. Lenin, »Resolution zur Agrarfrage« auf der siebenten gesamtrussischen Konferenz der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei Russlands (Bolschewiki), April 1917, Werke, Bd. 24, S. 283. [⤒]

  83. »Im Frühjahr 1921 begann Lenin den Rückzug vom Kriegskommunismus zu der 'Neuen Wirtschaftspolitik'. (Genannt: NEP nach den Anfangsbuchstaben der entsprechenden russischen Worte). Die Zwangsweise Wegnahme des Getreides bei den Bauern hörte jetzt auf. Einen bestimmten Teil der Ernte musste der Bauer als Naturalsteuer an den Staat abliefern. Der ganze Rest blieb zu seiner freien Verfügung, und er konnte ihn verkaufen, wie er wollte, So war mit einem Schlage das freie Privateigentum der russischen Bauern wieder hergestellt, das der Kriegskommunismus durch seine Requisitionen verschleiert hatte. Zugleich war ein freier Warenmarkt geschaffen, Kleinhandel und Kleingewerbe konnten wieder entstehen, Aus all dem folgte die Rückkehr zur Geldwirtschaft im Stil des Auslandes. Hatte der Kriegskommunismus an der Abschaffung des Geldes gearbeitet, so musste jetzt eine neue Stabilisierung des Rubels angestrebt werden. Der Staat behielt in seiner Hand die Grossindustrie, die Eisenbahnen, die Banken und das Monopol des Aussenhandels. Daneben und darunter war das Privateigentum wieder hergestellt.« Arthur Rosenberg, »Geschichte des Bolschewismus«, athenäum, 1987. S. 181.[⤒]

  84. Lenin, »Lieber weniger, aber besser«, Werke, Bd. 33, S. 487. [⤒]

  85. Lenin, »Über die Naturalsteuer«, Werke, Bd. 32, S. 364. [⤒]

  86. Lenin, »Thesen zum Referat auf dem III. Kongress der Kommunistischen Internationale über die Taktik der KPR«, Werke, Bd. 32, S. 478. [⤒]

  87. Lenin, »Zum vierten Jahrestag der Oktoberrevolution«, Werke, Bd. 33, S 37. [⤒]

  88. Lenin, »Der ›linke Radikalismus‹, die Kinderkrankheit im Kommunismus«, Werke, Bd. 31, S. 29–30. [⤒]

  89. (Zitat wörtlich so bisher nicht verifizierbar). Im »Protokoll des IV. Weltkongresses der III. Internationale« findet sich auf Seite 281 bei einer Rede Trotzkis zum Thema »Fünf Jahre Russische Revolution und die Perspektiven der Weltrevolution« folgende Passage:
    »Wir stehen heute ebenfalls in einem Kampf. Die bäuerliche Landwirtschaft ist die Basis. Wenn im Bürgerkrieg eigentlich um die Seele der Bauern gerungen wurde; wenn von der Roten Armee einerseits, von den Adligen und Bürgerlichen andererseits darum gekämpft wurde, die Bauern auf ihre Seite zu ziehen, so geht heute der Kampf zwischen dem Arbeiterstaat und dem Kapitalismus in erster Linie nicht um die Seele, sondern um den Markt des Bauern. Im Kampfe muss man immer die Mittel des Feindes und die eigenen Mittel richtig einschätzen. Welches sind unsere Mittel? Unser Hauptmittel ist vor allem die Staatsmacht, ein ausgezeichnetes Mittel im ökonomischen Kampfe. Das beweist die ganze Geschichte des Bürgertums und unsere kurze Geschichte bestätigt das. Weitere Mittel sind: der Besitz der wichtigsten Produktivkräfte, einschliesslich der Transportmittel des Landes, der Grund- und Bodenbesitz, der die Möglichkeit gibt, vom Bauern die Naturalsteuer einzutreiben. Dazu kommt die Armee und alles übrige. Das sind unsere Aktivposten.« [Anmerkung sinistra.net, März 2021][⤒]

  90. Lenin, »Über ›linke‹ Kinderei und über Kleinbürgerlichkeit«, Werke, Bd. 27, S. 332–333. [⤒]

  91. Lenin, »Über ›linke‹ Kinderei und über Kleinbürgerlichkeit«, Werke, Bd. 27, S. 333. Wie man sieht, alles andere als der »Aufbau des Sozialismus in einem Lande« (was übrigens das »barbarischste« ist, was man sich überhaupt denken kann).
    »Wir haben die bürgerlich-demokratische Revolution zu Ende geführt wie niemand sonst. Wir marschieren ganz bewusst, sicher und unbeirrt vorwärts, zur sozialistischen Revolution, in dem Bewusstsein, dass sie nicht durch eine chinesische Mauer von der bürgerlich-demokratischen Revolution getrennt ist, in dem Bewusstsein, dass nur der Kampf darüber entscheiden wird, wie weit es uns (letztlich) gelingen wird, vorwärts zu kommen, welchen Teil der unermesslich hohen Aufgabe wir erfüllen, welchen Teil unserer Siege wir uns auf die Dauer sichern werden. Die Zeit wird’s lehren.« (Lenin, »Zum vierten Jahrestag der Oktoberrevolution«, Werke, Bd. 33, S. 32–33)[⤒]

  92. Lenin, Plan der Broschüre »Über die Naturalsteuer«, Werke, Bd. 32, S. 335. Der lateinische Ausdruck »Aut – aut. Teritium non datur« bedeutet »Entweder – oder. Ein drittes gibt es nicht«. [⤒]

  93. Siehe diesbezüglich »La crise de 1926 dans le P.C. russe et l’Internationale« in »Programme Communiste«, Nr. 68, 69, 70, 73 und 74, Éditions Programme Communiste, Paris. In dieser Aufsatzreihe wird die oben angekündigte Arbeit in Angriff genommen. [⤒]

  94. Nikolai Iwanowitsch Bucharin (1888 bis 1938), Theoretiker und führendes Mitglied der bolschewistischen Partei, wird im Rahmen von Stalins »Grosser Säuberung« 1938 ermordet. [⤒]

  95. Vergleich Lenin, »Lieber weniger, aber besser«, Werke, Bd. 33, S. 474–490. [⤒]

  96. »Objektiv« und »subjektiv« stehen oben in Anführungsstrichen, weil es für uns Marxisten selbstverständlich ist, dass es keinen (wohlgemerkt!) kollektiven subjektiven Faktor gibt, der nicht als objektiver Faktor, als materielle Kraft, in der Geschichte auftritt und wirkt. [⤒]

  97. Der Kampf der kommunistischen Linke Italiens in der Internationale wird in »Kommunistisches Programm« Nr. 13 und 14 (Theoretische Zeitschrift der Internationalen Kommunistischen Partei, Berlin, 1977) dargelegt und mit den entsprechenden Thesen dokumentiert. In der Folge werden wir die Fragen, die der Entstehungsprozess der westlichen Sektionen der Internationale aufwirft, bzw. die kritische Untersuchung der verfolgten internationalen Taktik nur streifen können, sonst würden wir den Rahmen dieser Arbeit sprengen. Wir müssen daher den Leser auf die erwähnten Nummern von »Kommunistisches Programm« verweisen. [⤒]

  98. »Vom 5. bis 8. September 1915 tagte in Zimmerwald in der Schweiz eine internationale Konferenz der sozialistischen Gegner des Burgfriedens, die sich über ihre gemeinsame Aufgabe klarwerden wollten. Die Einberufung war das Werk der italienischen und der Schweizer Sozialisten. Aus Deutschland kamen zehn Delegierte. Sechs davon vertraten die Tendenz der späteren »unabhängigen« Sozialdemokratie. Ihre Führer waren Ledebour und Albert Hoffmann. Drei Delegierte standen der Richtung Rosa Luxemburgs, dem Spartakusbund, nahe. Als Vertreter eines kleinen privaten Kreises war Julian Borchardt anwesend. Aus Frankreich kamen zwei Delegierte, die Engländer hatten keine Pässe erhalten. Ferner waren Delegierte anwesend aus Bulgarien, Rumänien, Schweden, Norwegen und Holland. Als Vertreter Russlands waren erschienen: Lenin und Sinowjew für die Bolschewiki, Martow und Axelrod für die Menschewiki, Trotzki für seine Gruppe, und sogar zwei linksradikale Sozialrevolutionäre, endlich linke Sozialisten aus Polen und Lettland. Es stellte sich bald heraus, dass die Mehrheit der Konferenz nicht die Ansichten Lenins, sondern Kautskys vertrat. Man verwarf den Burgfrieden und verlangte scharfen oppositionellen Kampf gegen die eigene Regierung zur Erzwingung des Friedens. Aber gemäss den westeuropäischen sozialistischen Traditionen lehnte die Mehrheit alle aktiv revolutionären Massnahmen ab, und sie wollte auch von der Spaltung der Internationale nichts wissen. Von dreissig Delegierten hatte Lenin sieben Stimmen. Das war seine eigene und die Sinowjews. Ferner unterstützte ihn ein Lette und ein Pole (Radek). Ausserhalb Russlands waren für Lenins Thesen die beiden Skandinavier… Der siebte Anhänger der Zimmerwalder Linken war der Deutsche Delegierte Borchardt. Nicht einmal der Spartakusbund hat sich damals zu Lenin bekannt.« (Arthur Rosenberg, »Geschichte des Bolschewismus«, athenäum, 1987. S. 109–110.) [⤒]

  99. siehe Anmerkung 44.[⤒]

  100. Vorbemerkung von »Kommunistisches Programm«:
    »›Bilanz einer Revolution‹ erschien 1967 ›am Rande der Feierlichkeiten zum 50. Jahrestag der Oktoberrevolution‹ als Sondernummer unseres theoretischen Organs in französischer Sprache [»Programme Communiste«, »Bilan d’une Révolution«]
    10 Jahre später stellte sich bei der Vorbereitung der deutschen Ausgabe die Frage, ob wir die Arbeit, namentlich den Wirtschaftsteil, ›weiterschreiben‹ sollten, um das Zahlenmaterial bis in die siebziger Jahre zu führen und theoretisch auf die Frage der weltweiten Expansion des russischen Imperialismus, seiner spezifischen Schwäche und der Entwicklung der Beziehungen innerhalb des sogenannten Ostblocks näher einzugehen. In diesem Zusammenhang wäre es dann auch in einer Fortsetzung des zweiten Teils (der Kritik der falschen Lehren aus der Konterrevolution in Russland) auf die ›Lehren‹ hinzuweisen, welche die chinesische Bourgeoisie seit den Reformen nach dem XX. Kongress der KPdSU aus der Entwicklung zu ziehen beliebte.
    Nun wird die ökonomische Entwicklung der UdSSR in den regelmässigen Berichten zur ›Laufbahn des Weltimperialismus‹ seit den allerersten Nummern dieser Publikation ständig verfolgt. Ein längerer Artikel über die Verhältnisse innerhalb des Ostblocks, bzw. über die Beziehungen zwischen den Ostblockländern und dem westlichen Imperialismus ist ausserdem für eine der nächsten Nummern vorgesehen
    [siehe »Drang nach Osten – Drang nach Westen«]. Die Untersuchung der Entwicklung Chinas und ihrer Widerspiegelungen in der Ideologie und in den politischen Polemiken der dortigen Bourgeoisie nimmt ihrerseits auch einen verhältnismässig sehr breiten Platz in unseren Publikationen ein [siehe z. B. »Die Entwicklung der sozialen Bewegung in China«].
    Die angesprochenen Ergänzungen schienen uns daher nicht angebracht. Sie hätten ausserdem den Nachteil, die Arbeit übermässig in die Länge zu ziehen; ›Bilanz einer Revolution‹ hat für uns den Stellenwert einer theoretischen Synthese, die als Grundlage und Bezugspunkt für jede weitere Ausführung dient. Und gerade dieser Charakter sollte nicht verloren gehen.
    Wir haben uns deshalb darauf beschränkt, den ersten Teil›Die grossen Lehren der Oktoberrevolution‹ – etwas zu straffen und da und dort umzuarbeiten, um die Wechselbeziehungen zwischen der russischen Revolution, der internationalen Arbeiterbewegung und dem bewaffneten antiimperialistischen Kampf in den unterjochten Kolonialländern, bzw. zwischen der internationalen Schwäche der Arbeiterbewegung, der Politik der Kommunistischen Internationale und der Konterrevolution in Russland etwas eingehender zu schildern.«
    (Hervorhebungen und Angaben in Klammern hier von sinistra.net). [⤒]


Source: »Kommunistisches Programm«, Nr. 15/16, Oktober 1977, S.1–26

Dieser Text wurde überarbeitet: Zitate und Verweise überprüft, korrigiert und ergänzt, teilweise erklärende Anmerkungen hinzugefügt und grammatikalische sowie orthographische Korrekturen vorgenommen. sinistra.net, im März 2000 und im März 2021.

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