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DER ABSCHLUSS DER BÜRGERLICH-REVOLUTIONÄREN PHASE IN DER »DRITTEN WELT«


Content:

Der Abschluss der bürgerlich-revolutionären Phase in der »Dritten Welt«
Zyklen und Gebiete
Phasen, Prinzipien und Taktik
Skizzenhafte Darstellung der Gebiete in ihrer historischen Reihenfolge
Bürgerliche Revolution und »Revolutionsergänzungen«
Wann hört die Bourgeoisie auf, eine aufsteigende Klasse zu sein?
Die Herrschaft der Bourgeoisie als Klasse
Verhältnis zwischen jungen Bourgeoisien und Imperialismus
Mühsame, aber beschleunigte Vereinigung der jungen bürgerlichen Klassen
An der Grenzscheide zweier Epochen
Das wirkliche Ergebnis der bürgerlichen Revolutionen ist das Auftreten des Proletariats
Welches »Erbe« uns die Bourgeoisie hinterlässt
Sechzig Jahre nach Baku
Anmerkungen
Source


Der Abschluss der bürgerlich-revolutionären Phase in der »Dritten Welt«

Nach ihrer Niederlage unter den Schlägen der stalinistischen Konterrevolution wurde die proletarische Bewegung vom zweiten imperialistischen Krieg noch tiefer in den Abgrund gerissen. Und die Nachkriegszeit mit ihrem ungeheuren Wachstumszyklus bildete keinen günstigen Ausgangspunkt für ihre Wiedergeburt. Im Gegenteil, ihre Kampfregungen mussten daran zerschellen. Die Wiederaufnahme des Kampfes setzte den Ausbruch einer neuen internationalen Krise des Kapitalismus voraus, die die von den grossen Imperialismen errichteten sozialen Stossdämpfer allmählich zerstören würde. Und die Entwicklung und Festigung dieses Kampfes, seine Fähigkeit, zu einer fortschreitenden Kampfbewegung zu werden, war an eine weitere Bedingung geknüpft: die Existenz einer (wenn auch kleinen) marxistischen Partei mit einem gewissen Einfluss auf die Massen und folglich auf das gesellschaftliche Kräfteverhältnis. Um diesen Einfluss zu erobern, musste diese Partei die völlig entstellte marxistische Theorie vollständig wiederherstellen und auf dieser Grundlage eine kontinuierliche Aktion entfalten. So sahen unsere »Nachkriegsperspektiven« aus.[1]

Aber wir übersahen nicht, dass der Zweite Weltkrieg gleichzeitig eine ungeheure Bresche in die Herrschaft der alten europäischen Imperialismen geschlagen hatte, die aufeinander losgegangen waren. Wir wussten, dass der Vormarsch der kommunistischen Revolution zwar für den Augenblick unterbrochen war, dass aber das Spiel der sozialen Kräfte, die durch das Eindringen des Kapitalismus in die beherrschten Kontinente in Bewegung gesetzt wurden, weiterging; dass die bürgerliche, antifeudale und antiimperialistische Revolution, deren Herz sich im Osten befand, ihren unerbittlichen Lauf nehmen musste, selbst wenn uns die Geschichte noch die Möglichkeit vorenthielt, sie als Sprungbrett für einen proletarischen und kommunistischen Sieg auszunutzen, wie das in Russland der Fall gewesen war.

Mit Blick auf diese lebendige soziale Bewegung führte unsere Partei eine lange Reihe von Generalversammlungen und Arbeiten durch mit dem Ziel, die Gesamtheit der marxistischen Theorie und unsere historische Sicht der nationalen Bewegungen wiederherzustellen.[2] Die richtige Einschätzung des nationalen Faktors war von entscheidender Bedeutung. Neben anderen Fragen führte sie zur Spaltung der internationalistischen Bewegung und zur Bildung unserer Partei 1952, und sie wurde zu einem Angelpunkt für die feste und einheitliche Orientierung, mit der wir seitdem arbeiten. Desweiteren bemühten wir uns, die grossen Revolutionen, die damals gerade stattfanden, ihre Laufbahn und ihre Perspektiven zu untersuchen[3], die für Russland durchgeführte grundlegende Arbeit als Vorbild benutzend.[4]

Es war damals notwendig, zuerst daran zu erinnern, dass die Zerstörung der alten feudal-imperialistischen Verhältnisse eine objektive Voraussetzung des Kommunismus ist: »So ist der Kapitalismus selbst die zentrale Bedingung, damit der Sozialismus siegen kann. Und dennoch hat die revolutionäre Partei seit ihrer Entstehung den Kapitalismus unerbittlich bekämpft und diesen Kampf je nach den realen Kräfteverhältnissen immer gesteigert: wissenschaftliche Kritik, grundsätzliche Opposition, politische Agitation, bewaffneter Kampf«.[5]

Wir mussten auch daran erinnern, dass der politische Kampf gegen die feudal-imperialistischen Kräfte den Weg für den proletarischen Kampf frei macht. »In den Ländern Asiens, in denen noch eine lokalbeschränkte, patriarchalische und feudale Agrarwirtschaft vorherrscht«, schrieben wir 1953, »trägt auch der politische Kampf der ›vier Klassen‹, selbst wenn daraus unmittelbar nur nationale und bürgerliche Mächte hervorgehen, zum Sieg des internationalen kommunistischen Kampfes bei, sei es weil dadurch neue Gebiete für den Kampf um die weitergehenden sozialistischen Forderungen erschlossen werden, sei es infolge der Schläge, die diese Aufstände und Revolten dem euroamerikanischen Imperialismus versetzen«.[6] Es war unerlässlich, durch eine Untersuchung die räumlichen und zeitlichen Grenzen zu bestimmen, innerhalb derer der nationale Faktor auf revolutionäre Weise in Erscheinung tritt, und folglich die »Gebiete« genauer einzugrenzen, in denen die Kämpfe von bürgerlichen Klassen und von Staaten noch eine subversive Bedeutung haben. Hingegen hielt Marx diesen Zyklus für das alte Europa mit dem gemeinsamen Kampf der französischen und deutschen Bourgeoisie gegen die Pariser Commune für abgeschlossen.

Und schliesslich musste die traditionelle Haltung des revolutionären Marxismus in diesen sozialen Bewegungen wiederhergestellt werden. Der klassische Fehler besteht hier darin, aus dem bürgerlich-kapitalistischen Charakter des Kampfes auf die Unterordnung der proletarischen Partei unter die bürgerliche Ideologie und das bürgerliche Programm zu schliessen: der Fehler des Frontismus, der die Einheit mit den anderen Parteien predigt unter dem Vorwand gemeinsamer unmittelbarer Kämpfe, wie der des Indifferentismus, der am Kampf selbst nicht teilnimmt, um… von dessen Ideologie nicht beeinflusst zu werden, sind dabei nur zwei Seiten derselben Medaille! Das Proletariat nimmt an diesem Kampf unter seinem eigenen Banner teil und betrachtet den Kapitalismus von Anfang an als seinen Gegner, selbst wenn es ihm bei seiner Geburt hilft. Die Perspektive des Proletariats besteht darin, schon im bürgerlichen Kampf selbst seine Reihen zu formieren, die Macht zu erobern, sobald das möglich ist, und bei keiner Etappe stehenzubleiben, sondern die Revolution in Permanenz zu erklären, bis alle besitzenden Klassen seiner Klassendiktatur unterworfen sind, und zwar auf internationaler Ebene.[7]

1848–1850 beherrschte der antifeudale Kampf noch das Bild in Europa, wo das Proletariat aber schon seine ersten Gefechte lieferte. Die übrige Welt war noch nicht in Bewegung geraten, trotz der zuckenden Blitze der Taiping-Revolte in China.

1917–1926 wurde das Bild dann geprägt vom proletarischen Kampf gegen die grossen bürgerlichen Staaten, die die ganze Welt beherrschten. Zur gleichen Zeit stellten sich die Bauernmassen des Ostens gegen den Imperialismus. Der Sieg des Bündnisses dieser beiden Bewegungen hätte die moderne Umwandlung des Ostens beschleunigt und ihm das Elend erspart, von dem sie unter dem kapitalistisch-imperialistischen Joch notwendig begleitet wird.

Für die kommende Phase, nachdem die grosse Welle antiimperialistischer Kämpfe der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg vorüber ist und wo wir mit dem Wiedererwachen des Proletariats rechnen, stellt sich nun die Frage: Wie weit ist die kapitalistische und bürgerliche Umwälzung im Osten fortgeschritten? Welche Kräfte werden im Kampf zwischen imperialistischer Bourgeoisie und kommunistischem Proletariat eine Rolle spielen? Welche Form wird der proletarische Kampf in dieser oder jener Region annehmen, welches »Erbe« hat die Bourgeoisie dem Proletariat hinterlassen, und inwieweit genau hat sie den Weg für den proletarischen Kampf freigelegt?

Das sind die brennenden Frage, denen wir uns in einem der Referate auf der Generalversammlung der Partei im Herbst 1979 zugewandt haben. Bevor das Referat indessen auf diese Fragen überhaupt einging, musste man die marxistische Auffassung der geschichtlichen Zyklen und der verschiedenen Gebiete, in denen sie durchlaufen werden, erneut darlegen. Sodann musste die ganze aufsteigende Laufbahn der bürgerlichen Herrschaft ausgehend von den Erfahrungen der Revolutionen des 19. Jahrhunderts beleuchtet werden, all die revolutionären Anstürme, die aufeinander folgen, bis die Bourgeoisie jede fortschrittliche Fähigkeit eingebüsst hat. Damit sollte der Moment bestimmt werden, von dem ab das Proletariat noch die einzige aufsteigende Klasse ist.

Zyklen und Gebiete

Der Begriff von aufeinanderfolgenden geschichtlichen Zyklen steht im Mittelpunkt des historischen Materialismus, der die menschliche Geschichte als eine Abfolge von Produktionsweisen betrachtet: Stammeskommunismus, antike Sklaverei und Feudalismus (wenn wir uns auf Europa beschränken), »asiatische« Produktionsweise im Osten, Kapitalismus und schliesslich der Kommunismus, der die ganze menschliche Gattung umfassen wird.

Der Kapitalismus seinerseits entsteht in einer vorkapitalistischen Gesellschaft. Er wälzt die alten Produktionsverhältnisse vollständig um, industrialisiert die Gesellschaft und muss mit den bestehenden politischen und juristischen Verhältnissen zusammenprallen, was politische Revolutionen zur Folge hat. Diese befreien die Gesellschaft vom Gewicht der alten herrschenden Klassen und wenden die moderne Staatsmaschine gegen sie an. Das ist die Entstehungsphase des Kapitalismus. Von nun an läuft die Entwicklung der Produktivkräfte im grossen Stil ab, der Produktionsapparat erhält eine Mächtigkeit, die ihresgleichen sucht, der Kapitalismus bemächtigt sich der gesamten Gesellschaft, die er nach seinem Bild umformt. Das ist die Stabilisierungsphase der gesellschaftlichen Verhältnisse, über die der Kapitalismus das reife Alter erreicht. Schliesslich erscheinen mit der Zeit die Gebrechen des Alters. Die periodischen Krisen werden zu schrecklichen Attacken, in denen von nun an die Produktions- und Staatsmonster um die Neuaufteilung des gesamten Planeten kämpfen. Der Kapitalismus ist selbst ein Hindernis für die Entwicklung der Produktivkräfte geworden, die er hervorgebracht hat. Diese Phase wurde von Lenin als »Imperialismus, höchstes Stadium des Kapitalismus« bezeichnet, d. h. als die senile Phase, die gleichzeitig das »Vorzimmer des Sozialismus« ist.

Der Kapitalismus kennt also geschichtlich drei klassische Phasen.[8] Indessen lässt schon die blosse Tatsache, dass wir von kapitalistischen Phasen und Zyklen sprechen, die Vielschichtigkeit der wirklichen kapitalistischen Zyklen unmittelbar sichtbar werden, aus dem einfachen Grunde, weil die bürgerlichen Verhältnisse nicht gleichzeitig in allen Gebieten der Welt eingeführt wurden: im 18. Jahrhundert war England schon bürgerlich und industrialisiert mit einer Bevölkerung, die mehrheitlich ausserhalb der Landwirtschaft arbeitete, während Russland noch dabei war, die Leibeigenschaft zu entwickeln. Im 20. Jahrhundert, während Europa schon von imperialistischen Alterskrisen erschüttert wurde, erlebten andere Kontinente gerade die ersten sozialen Erschütterungen als Folge der Zerstörung einer ganzen Reihe alter Gesellschaftsordnungen, von denen einige noch nicht einmal das patriarchalische Stammesstadium überschritten hatten. Hier drangen die Warenbeziehungen und die bürgerlichen Verhältnisse erst ein, dort konnten sie bereits auf ihre vollständige Entfaltung zurückblicken. Der Begriff des Zyklus’ und der Phase ist folglich in der marxistischen Theorie untrennbar von dem des Gebiets, wo diese Zyklen und Phasen durchlaufen werden. Es reicht deshalb nicht aus, die geschichtlichen Grenzen der verschiedenen Phasen des Kapitalismus zu untersuchen. Man muss auch noch die geografischen Grenzen, innerhalb derer sie durchlaufen werden, genauer bestimmen. Daher der Begriff »Gebiet«, den wir in Ermangelung eines plastischeren Wortes benutzt haben, um die Taktik der proletarischen Partei besser abgrenzen zu können.[9]

Der politische Zyklus der verschiedenen Bourgeoisien entspricht natürlich dem der kapitalistischen Ökonomie: die Bourgeoisie ist revolutionär, dann reformistisch und schliesslich konterrevolutionär. Indessen stimmt dieser politische Zyklus nicht in jedem Land notwendigerweise mit dem ökonomischen Zyklus überein. Er kann sich verlängern oder mit Verzögerung beginnen. Noch öfter ist er jedoch verkürzt. Hier handelt es sich in der Tat nicht mehr um das Verhältnis zwischen Produktivkräften und Produktionsverhältnissen, oder wenn man will um die durchzuführenden objektiven revolutionären Aufgaben, sondern um die Fähigkeit der bürgerlichen Klasse, diese Aufgaben in Angriff zu nehmen.

Eine typische Illustration für dieses Auseinanderklaffen findet man in Russland zu Beginn des Jahrhunderts: Für alle Marxisten waren die unmittelbaren Aufgaben antifeudal und kapitalistisch, aber die Bourgeoisie erwies sich als unfähig, sie anzugehen; erst durch die Machtergreifung des Proletariats konnten sie realisiert werden. Selbstverständlich hat es auch seine eigene Prise Salz in den Kochkessel der Revolution gegeben und eine rein kommunistische Aufgabe durchgeführt: die Beendigung des imperialistischen Krieges. Im übrigen war die Feigheit der Bourgeoisie in ihrer eigenen Revolution schon von Marx und Engels 1848 in Deutschland hervorgehoben worden.

Woher kommt nun dieses Auseinanderklaffen zwischen dem bürgerlichen politischen Zyklus und dem ökonomischen Zyklus des Kapitals? Um das zu verstehen, muss man sich vor Augen halten, dass ersterer nicht einfach eine mechanische Widerspiegelung des letzteren ist, sondern vielmehr dessen Übertragung auf die Ebene des Klassenkampfes. Es folgt daraus, dass die historischen Phasen vom Reifegrad der Klassengegensätze bestimmt werden. Nun wird diese Reife zwar durch die Ökonomische Basis bedingt, aber auch durch andere Faktoren, wie die verschiedenen beteiligten Klassen, die Kämpfe innerhalb der verschiedenen Länder und zwischen diesen Ländern und ihre Wechselwirkung, soweit die Ereignisse in einem Lande oder Gebiet auf die in anderen Ländern oder Gebieten Einfluss nehmen.

So brachte die Erhebung des Pariser Proletariats die antifeudalen Regungen des revolutionären Flügels der deutschen Bourgeoisie zum Stillstand, während die französischen Revolutionen der Bürger und des »Volkes« mehrere Male die Revolte der polnischen Adligen gegen den russischen Zarismus hervorriefen. All das ereignete sich im selben Gebiet oder in derselben Gruppe von Gebieten. Wir können aber auch verschiedene Gebiete nehmen. Es ist bekannt, dass der Pariser Aufstand vom 18. März 1871 den unmittelbaren Ausbruch der antikolonialen Revolte (8. April 1871) auslöste, die in Algerien schwelte, genauso wie die Schwächung der alten europäischen Imperialismen die Welle der antikolonialen Befreiungskämpfe nach dem zweiten Weltkrieg auslöste. Umgekehrt erhoffte sich Marx als Rückwirkung der antifeudalen Revolution 1853 in China eine Ökonomische und gesellschaftliche Krise und die proletarische Revolution in England. Wir könnten unendlich viele solcher Beispiele für die Rückwirkungen und Wechselwirkungen zwischen den verschiedenen Klassen und Gebieten geben.

»Bei der Untersuchung dieser Situationen« – schrieben wir 1953 und hatten dabei die grossen historischen Epochen und nicht einzelne Episoden vor Augen – »muss also Folgendes berücksichtigt werden:
a) die gleichzeitige Existenz der verschiedenen grundlegenden Arten der Produktionstechnik (Leibeigenschaft, freier bäuerlicher Kleinbetrieb, freies Handwerk, Industrie und gemeinschaftliche Dienstleistungen) in demselben Lande;
b) die verschiedenen Gesellschaftsklassen, von denen es immer mehr gibt als die zwei Protagonisten der gegenwärtigen geschichtlichen Epoche ;
c) das politische Kräfteverhältnis in bezug auf die Klasse, die über die grösste Bewaffnung und Selbständigkeit verfügt und die anderen beherrscht«.
[10]

Dieser letzte Gedanke ist grundlegend. Gerade er wird von Lenin in einem Artikel hervorgehoben, der für unsere Untersuchung ein Bezugspunkt ist, weil sich die Auseinandersetzung genau um die Abgrenzung der geschichtlichen Phasen und deren Folgen für die Partei dreht. Es ist deshalb nützlich, ausführlich zu zitieren:
»A. Potressow betitelte seinen Artikel: ›An der Grenzscheide zweier Epochen‹. Zweifellos leben wir an der Grenzscheide zweier Epochen, und die sich vor unseren Augen abspielenden höchstwichtigen geschichtlichen Ereignisse lassen sich nur begreifen, wenn man in erster Linie die objektiven Bedingungen des Übergangs von der einen Epoche zur andern analysiert. Es ist von grossen geschichtlichen Epochen die Rede; in jeder Epoche gibt es wie bisher so auch künftig einzelne Teilbewegungen bald vorwärts, bald rückwärts, gibt es wie bisher so auch künftig verschiedene Abweichungen vom Durchschnittstypus und vom Durchschnittstempo der Bewegungen. Wir können nicht wissen, mit welcher Schnelligkeit und mit welchem Erfolg sich einzelne geschichtliche Bewegungen der jeweiligen Epoche entwickeln werden. Wir können aber wissen und wissen tatsächlich, welche Klasse im Mittelpunkt dieser oder jener Epoche steht und ihren wesentlichen Inhalt, die Hauptrichtung ihrer Entwicklung, die wichtigsten Besonderheiten der geschichtlichen Situation in der jeweiligen Epoche usw. bestimmt. Nur auf dieser Grundlage, d. h., wenn wir in erster Linie die grundlegenden Unterscheidungsmerkmale verschiedener ›Epochen‹ (nicht aber einzelner Episoden in der Geschichte einzelner Länder) in Betracht ziehen, können wir unsere Taktik richtig aufbauen; und nur die Kenntnis der Grundzüge einer bestimmten Epoche kann als Basis für die Beurteilung der mehr ins einzelne gehenden Besonderheiten dieses oder jenes Landes dienen«.[11]

Es kommt also darauf an zu wissen, welche Klasse im Mittelpunkt einer bestimmten Epoche, Periode oder Phase steht; und das nicht in jedem einzelnen Land für sich genommen, sondern in ganzen Gebieten, die sich über ganze Kontinente erstrecken oder sogar darüber hinaus gehen können. Die Ausrichtung der Klassen geht folglich über den Rahmen der nationalen Grenzen weit hinaus. Die Revolution 1848 war zweifellos bürgerlich und national, aber ihr Aktionsfeld war europäisch. Die Welle der antikolonialen Befreiungskämpfe nach dem zweiten Weltkrieg war nicht chinesisch, und auch nicht algerisch oder kubanisch: sie fegte in allen Richtungen und in mehreren Anläufen über die gesamte »Sturmzone« hinweg.

Mit Hilfe dieses allgemeinen, auf der Ebene nicht eines einzelnen Landes, sondern eines ganzen Gebietes betrachteten Kriteriums hat der Marxismus schon früher die Laufbahn der euro-amerikanischen Bourgeoisie analysiert. Wir könnten zahlreiche Texte anführen, um ihre klassischen Epochen oder Phasen aufzuzeigen. Aber der schon Zitierte von Lenin mag uns hier genügen:
»Die übliche Einteilung der geschichtlichen Epochen, die in der marxistischen Literatur vielfach anzutreffen ist, die auch von Kautsky wiederholt angeführt und von A. Potressow in seinem Artikel angenommen wird, ist folgende: 1. 1789–1871; 2. 1871–1914; 3. 1914–?. […] Die erste Epoche, von der Grossen Französischen Revolution bis zum Deutsch-Französischen Krieg, ist die Epoche des Aufstiegs und des vollen Sieges der Bourgeoisie. Es ist dies die aufsteigende Linie der Bourgeoisie, die Epoche der bürgerlich-demokratischen Bewegungen im allgemeinen und der bürgerlich-nationalen im besonderen, die Epoche, in der die überlebten feudal-absolutistischen Institutionen rasch zerbrochen werden. Die zweite Epoche ist die Epoche der vollen Herrschaft und des Niedergangs der Bourgeoisie, die Epoche des Übergangs von der fortschrittlichen Bourgeoisie zum reaktionären und erzreaktionären Finanzkapital. Es ist dies die Epoche der Vorbereitung und langsamen Kräftesammlung seitens der neuen Klasse, der modernen Demokratie. Die dritte, eben erst anbrechende Epoche bringt die Bourgeoisie in die gleiche ›Lage‹, in der die Feudalherren während der ersten Epoche gewesen sind. Es ist dies die Epoche des Imperialismus und der imperialistischen wie auch der durch den Imperialismus ausgelösten Erschütterungen«.[12]

Weiter unten schreibt Lenin noch viel plastischer:
»Die Bourgeoisie hat sich aus einer aufsteigenden, fortschrittlichen Klasse in eine absteigende, verfallende, innerlich abgestorbene, reaktionäre Klasse verwandelt. Eine ganz andere Klasse ist – im grossen geschichtlichen Massstab – zur aufsteigenden Klasse geworden«.[13]

Wenn wir dasselbe Bild benutzen wollen, können wir sagen, dass das Proletariat in der revolutionären und aufsteigenden Phase der Bourgeoisie selbst aufsteigend ist. Die zwei Klassen gehen in dieselbe Richtung, wobei die Bourgeoisie, zumindest anfangs, das Proletariat hinter sich her und auf die geschichtliche Bühne zieht, wobei mit den ersten Vorstössen des Proletariats die ersten Auseinandersetzungen beginnen. In der zweiten Phase marschiert das Proletariat weiter voran, aber es findet sich immer öfter allein, d. h. der Bourgeoisie entgegengesetzt, deren Kurve abzusteigen beginnt. Und in der dritten Phase schliesslich stellt die Kurve der Bourgeoisie nur noch einen absteigenden Ast dar, während die des Proletariats weiter aufwärts geht: die zwei Kurven trennen sich also unvermeidlich, der Antagonismus zwischen den zwei Klassen wird so mächtig, dass er keinen anderen geschichtlichen Ausgang mehr zulässt als die Vernichtung der Bourgeoisie.

Die Frage, die sich heute hinsichtlich der grossen, von der anti-imperialistischen Revolte erschütterten Gebiete stellt, ist die zu wissen, wie es mit der Laufbahn der Bourgeoisie steht: ist sie noch aufsteigend, beginnt sie abzusteigen oder ist sie schon unumkehrbar dekadent geworden? Mit anderen Worten: kann das Proletariat noch darauf rechnen, dass noch andere Kräfte in dieselbe Richtung gehen wie es selbst (und wo sind sie in diesem Falle zu finden, auf welchem Boden und für wie lange), oder ist es nun auch dort die einzige aufsteigende Klasse?

Phasen, Prinzipien und Taktik

Bevor wir indessen zu der eigentlichen ökonomischen und geschichtlichen Untersuchung übergehen, ist es unerlässlich, dass wir uns darüber klar werden, wie wichtig eine Änderung der Epoche, Periode oder Phase für die proletarische Partei ist.

Es dürfte klar sein, dass für eine kämpfende Armee das Ziel und die Strategie sich nicht ändern, wenn die zeitweiligen Verbündeten oder gar die Beschaffenheit des Schlachtfeldes sich ändern. Einzig die Taktik wird mit dem Wandel in der Ausrichtung der verschiedenen Kräfte verändert. Dasselbe gilt für die proletarische Partei, welche ja der Generalstab einer kriegführenden Armee ist, und zwar im brutalsten aller Kriege, im Bürgerkrieg. Ihr Ziel, ihr Programm für die Umwandlung der Gesellschaft, ihre Prinzipien, d. h. die unverzichtbaren Waffen ihres Sieges, sind von Anfang an festgelegt. Aber die Wege der Annäherung an die Entscheidungsschlacht, das Wesen der Kämpfe, in denen die proletarische Armee Gestalt annimmt, die Beziehungen zu den andren Kräften, die zur Vorbereitung des Bodens der Endschlacht beitragen können, ändern sich mit der geschichtlichen Situation.

Heutzutage jedoch ist die richtige Beziehung zwischen Phasen, Prinzipien und Taktik durch die stalinistische Konterrevolution vollständig zerstört. Von der ganzen parasitären Fauna des »akademischen Marxismus« in Ost und West wird Lenin als der geniale Erfinder der Rolle des nationalen Faktors in der Geschichte dargestellt, den die armen Marx und Engels unterschätzt und ausserhalb Europas aus einer Art von »eurozentristischer« Verblendung gar ignoriert hätten.[14]

Neben diesem Irrtum, den man als »situationistisch« qualifizieren könnte, gibt es noch einen anderen, der der Partei ebenfalls an den Wenden der historischen Phasen auflauert. Es handelt sich um den der Vereinfachung, des Schematismus, genau die Art von Irrtun, die Lenin Anfang des Jahrhunderts bekämpfen musste, insbesondere mit dem schon weiter oben grosszügig zitierten Artikel.[15] Dieser Irrtum des »imperialistischen Ökonomismus« kann folgendermassen formuliert werden: »Weil der Kapitalismus seine senile Phase erreicht hat, d. h. weil die ganze Welt unter der Fuchtel des Imperialismus steht, sind die unmittelbaren Aufgaben der Revolution überall antikapitalistisch und kommunistisch«.

Vom historischen Standpunkt aus gesehen ist eine solche Dummheit nichts neues: sie dehnt das auf Weltebene aus, was die französischen Chauvinisten proudhonistischen Zuschnitts 1848 auf europäischer Ebene machten: Weil Frankreich seine »politische Revolution« gemacht habe , dachten sie, die »soziale Revolution« sei seitdem überall auf der Tagesordnung. Hier herrscht eine vollkommene Verwechslung zwischen den politischen und den ökonomischen Aufgaben.

Es wäre nach dem ersten Weltkrieg nicht undenkbar gewesen, dass das Proletariat in den wichtigsten imperialistischen Ländern die Macht hätte erobern und die bäuerlichen und antiimperialistischen Revolutionen des Ostens an sich binden können. Diese Formel hat sich gewissermassen auf kleinem Massstab 1917 in Russland verwirklicht. Aber es ist eine vollkommen andere Sache zu behaupten, dass man die gesellschaftlichen Verhältnisse unmittelbar in eine kommunistische Richtung umwandeln könnte. In Russland hat Lenin selbst bekräftigt, dass das unmöglich sei ohne die Revolution in Europa und die nachfolgende Umwandlung der russischen Parzellenbauern in Arbeiter moderner landwirtschaftlicher Grossbetriebe. Es handelt sich folglich um das Problem der realen Entwicklung, der ökonomischen Reife der Gesellschaft. Für den Marxismus ist es klar, dass der Kapitalismus für den Übergang von der Naturalwirtschaft zur Arbeit der vereinten Menschengattung eine revolutionäre, wenn auch widersprüchliche Umwandlungskraft ist und dass sein Ergebnis, die grosse Industrie und die assoziierte Arbeit, eine ökonomische Voraussetzung des Sozialismus ist. Wir geraten folglich auch nicht in theoretische Verlegenheit, wenn wir sehen, dass Gebiete des senilsten Kapitalismus auf einem Teil des Planeten neben anderen Gebieten existieren können, wo das gesellschaftliche Gewebe vom Kapitalismus noch in nützlicher Weise umgewandelt werden kann. Die wirkliche Verwandlung der gesellschaftlichen Verhältnisse kann auf keinen Fall dekretiert werden. Das Proletariat kann sie, indem es die Macht auf Weltebene erobert, lediglich verkürzen und ihre katastrophalen Folgen für die Massen vermindern, wenn nicht gar beseitigen.[16]

Das bedeutet allerdings nicht, dass unter der Herrschaft des Imperialismus in all den neuen urbar gemachten Gebieten die Phasen durchlaufen werden müssen, die der europäische »reine Typus« gekannt hat. Die Formen des Übergangs zur modernen Gesellschaft können von Region zu Region beträchtlich voneinander abweichen, aus dem einfachen Grunde, weil ihre Ausgangspunkte unterschiedlich sind. So ist der Kapitalismus spontan in der europäischen Feudalgesellschaft entstanden. In den östlichen Gesellschaften, wo der Markt zwar bestand, aber nicht das Land durchdrungen hatte und wo das Handwerk noch mit der Landwirtschaft verbunden war, wurde er dem Markt von dem Moment an aufgepfropft, wo die Dörfer für die westlichen Waren geöffnet werden konnten. In den Gesellschaften Schwarzafrikas und Südamerikas, wo der Markt praktisch nicht existierte, unterwarf die weisse Bevölkerung eine ganze Reihe mehr oder weniger primitiver bäuerlicher Gemeinschaften einer Sklaverei kolonialer Prägung, und die Wege des Übergangs zum vollen Kapitalismus waren dort noch einmal anders.[17]

Desweiteren können die Umwandlungsgeschwindigkeiten voneinander abweichen. Es gibt überhaupt keinen Grund, weshalb die Zyklen der jungen Kapitalismen genauso lang sein sollten wie die des europäischen »Vorbildes«, denn diese Länder sind gezwungen, so früh wie möglich die konzentrierten und ausgeklügelten Methoden des imperialistischen Kapitals zu übernehmen, nicht nur aus Gründen der Ökonomischen Konkurrenz, sondern auch aus Gründen der militärischen Kräfteverhältnisse. Sie müssen folglich die Etappen der kapitalistischen Entwicklung in Eilmärschen durchlaufen. Japan ist ein sehr gutes Beispiel für diese Erscheinung. Und schliesslich sind die Schrecken dieses zügellosen Laufs der jungen Kapitalismen noch vergrössert, durch das Gewicht des fortgeschrittenen Kapitalismus und der imperialistischen Verhältnisse auf dem schon zu eng gewordenen Weltmarkt.

Daraus folgt, je mehr die jungen Länder versuchen, ihren industriellen Rückstand aufzuholen, umso gewaltsamer wirken die Gesetze des Kapitalismus auf ihren noch zerbrechlichen Organismus. So gesellt sich zur relativen Überbevölkerung, die der Weltkapitalismus spontan hervorbringt, noch die, unter der jene Länder aus Gründen der internationalen Konkurrenz leiden, was die erschreckende »Marginalisierung« riesiger Menschenmassen zur Folge hat, die in den Slums ungeheurer Städte zusammengepfercht werden, ohne Hoffnung auf Arbeit und ohne eine andre Zukunft als chronische Unterernährung und absolutes Elend.

Aus dieser Wechselwirkung der verschiedenen Gebiete under der Fuchtel des Imperialismus entsteht folglich die Notwendigkeit der kommunistischen Revolution, bevor das gesellschaftliche Gewebe vollständig reif geworden ist für eine unmittelbare kommunistische Umwandlung in den ökonomisch rückständigen Gebieten. In Wirklichkeit leiden letztere, frei nach Marx, gleichzeitig am Übermass der Entwicklung des Weltkapitalismus und am Mangel einer lokalen Entwicklung.

Skizzenhafte Darstellung der Gebiete in ihrer historischen Reihenfolge

Unsre Partei hat schon in zahlreichen Texten die verschiedenen Gebiete in ihrer historischen Reihenfolge dargestellt[18], aber zweifellos wird diese Frage in »Russland und Revolution« am gründlichsten behandelt.[19]

Das erste Gebiet ist England, die Wiege des Kapitalismus, wo die Bourgeoisie seit 1649 an der Macht ist.

Der Fall West- und Mitteleuropas ist besonders interessant. Der »Donnerschlag« von 1789 hatte Rückwirkungen in ganz Europa, aber die Heilige Allianz unterwarf die Revolution nach 26 Jahren des Kampfes, jedoch ohne die alten gesellschaftlichen Verhältnisse in Frankreich wiederaufrichten zu können. Dieses Land behielt somit das Gepräge eines besonderen Gebietes, bis zum Herannahen von 1848, wo der Marxismus die Perspektive der Revolution in Permanenz aufstellt: die Machteroberung durch das Proletariat in Paris sollte das Signal für die deutsche Revolution sein, wo das Proletariat die Bourgeoisie kurzerhand überbordet hätte; die Revolution hätte so den Widerstand der grossen bürgerlichen Festung England besiegen können, und das vereinte proletarische Europa wäre in der Lage gewesen, dem noch barbarischen und feudalen Russland der Zaren den revolutionären Krieg zu erklären. Erst nach dessen Niederwerfung wäre der Sieg des Proletariats gesichert gewesen. Die Niederlage des Pariser Proletariats beschränkte die europäische Revolution 1948–1850 nicht nur auf einen bürgerlichen Horizont. Sie hatte darüber hinaus auch die feudale Konterrevolution zur Folge, die das ganze europäische Gebiet vereinte.

Die nationalen Kriege nahmen den Faden der Volksrevolutionen wieder auf mit den Zusammenstössen der Jahre 1859, 1866 und 1870, während Amerika seinerseits seine bürgerliche Revolution 1865 mit dem Sieg über die Südstaaten vollendete. Diese Ereignisse, die dann noch von der Pariser Kommune 1871 gekrönt wurden, machten von nun an aus Nordamerika, West- und Mitteleuropa und England ein einziges Gebiet, das einheitlich die imperialistische Phase erreichte, Japan und Russland im Schlepptau ziehend.

Die Lehren aus diesem Zyklus sind heute besonders interessant, weil man dort z. B. sehen kann, wie der Zarismus als aussereuropäischer und das Proletariat als »europäischer«, aber nicht-bürgerlicher Faktor einen ungeheuren Einfluss haben auf die Ausrichtung der bürgerlichen Kräfte auf kontinentaler Ebene. Die Niederlage der liberalen Revolution in Mitteleuropa bewirkte bei der französischen Bourgeoisie, die sich schon mit einem kämpferischen Proletariat in den Haaren lag, ein Wiederaufleben fortschrittlicher Energien, während der Pariser Juniaufstand alle Regungen eines politischen Kampfes bei der verspäteten deutschen Bourgeoisie vernichtete. Schliesslich wird die Vereinigung, die politische Vereinheitlichung eines Gebietes über die Vorsprünge und Verspätungen der verschiedenen Klassen hinweg bewirkt und tendiert zu einer allgemeinen Ausrichtung der Klassen, die es ermöglicht, die Grenzen der verschiedenen Gebiete zu umschreiben.

Am Ende des 19. Jahrhunderts können wir die Eröffnung eines bürgerlich-revolutionären Zyklus im grossslawischen Gebiet (Russland, Balkan) beobachten, der mit den Balkankriegen und der türkischen Revolution 1912 sowie mit dem Sieg der proletarischen Macht in Russland 1917 im grossen und ganzen abgeschlossen wird. In gewisser Hinsicht betrachteten wir, wie vor uns schon Lenin, Russland im Verhältnis zum asiatischen Gebiet als Teil eines grossen europäischen Gebietes. Daher die vollständige Unfähigkeit der russischen Bourgeoisie, ihre eigenen Aufgaben durchzuführen: sie hat die Tendenzen der deutschen Bourgeoisie auf die Spitze getrieben, weil sie durch tausend gesellschaftliche und politische Fäden mit Europa verbunden war.

Der Fall Japans, das eine Art England des Fernen Ostens darstellt, liegt etwas anders; die bürgerliche Umwandlung wurde dort 1868 in Angriff genommen, aber der russisch-japanische Krieg zeigte, dass es zu Beginn des 20. Jahrhunderts schon einen Vorsprung vor seinem riesigen kontinentalen Nachbarn hatte.

Lateinamerika bildet unbestreitbar ein eigenständiges Gebiet. Seine Befreiung von der spanischen (und auch portugiesischen) Bevormundung war eine Rückwirkung der napoleonischen Kriege, aber es kam dann unter das englische Joch, von dem es mehr und mehr in den internationalen Markt integriert wurde, bevor schliesslich die Vereinigten Staaten es zu ihrem Jagdrevier erklärten. Mit Ausnahme der mexikanischen Revolution 1911 kannte diese Region keine grossen Revolutionen wie in Europa oder Asien. Die europäische (insbesondere die spanische und italienische) Arbeiteremigration brachte zu Beginn des Jahrhunderts eine kämpferische Arbeiterbewegung hervor, die aber sehr schnell erstickt wurde durch das Zusammentreffen des internationalen Rückflusses der revolutionären proletarischen Bewegung mit einer Industrialisierung, die die imperialistischen Kriege als Sprungbrett benutzte. Die soziale Welle der Nachkriegszeit entspricht in Lateinamerika den Ergebnissen dieser kapitalistischen Umwandlung, die entsprechende politische Veränderungen notwendig machte. So gab es Aufstände in Kolumbien, Bolivien und Guatemala, und schliesslich 1959 die kubanische Revolution, die eine umso deutlichere Gestalt hatte, als sich die antiimperialistische Welle dort auf wahrhaft koloniale Verhältnisse stützen konnte.

Der Osten – in der Terminologie des 19. Jahrhunderts ging er von China bis zum äussersten Westen Nordafrikas (Magreb) – rüstete zum bürgerlich-nationalen Kampf im Gefolge des östlichen Europas. Die militärische Niederlage Russlands gegen eine asiatische Macht und die Revolution 1905 in Russland hatten ihre Rückwirkungen: in Iran die konstitutionelle Revolution 1905, in der Türkei die Jungtürkenbewegung 1908, in China die republikanische Revolution 1911, der Aufschwung des Terrorismus und des antikolonialen Volkskampfes in Indien 1905, das Entstehen einer nationalen Bewegung in Ägypten 1907 und in Indonesien 1908.

Von nun an sollten sich all diese Ereignisse gegenseitig beeinflussen und verstärken. Der erste imperialistische Krieg, d. h. die Breschen, die er in die Mauern der imperialistischen Festungen schlug, und selbstverständlich die bolschewistische Revolution gaben ganz Asien einen ungeheuren Aufschwung. Die Welle schwoll an und riss die Bauernschaft mit sich fort. Und vor allem konnte das Proletariat dieser Länder schon bei seinen ersten Schritten auf der politischen Bühne in der Internationale Lenins einen Organisationspol finden. Das Proletariat wartete mit seinem Angriff auf die Bourgeoisie nicht, bis letztere ihre Kampffähigkeit erschöpft hatte. Es verhielt sich direkt als Konkurrent für die Führung der antifeudalen und antikolonialen Revolution und der Bauernrevolten. Es kämpfte ohne Selbstzensur für seine eigenen Forderungen gegen die Bourgeoisie. Das Ergebnis war eine sofortige Schlacht: Die Unterdrückung der proletarischen Bewegung in der Türkei durch Kemal Pascha 1922, in Ägypten durch Zaghlul Pascha [Saad Zaghlul] und den Wafd 1923, die Abbremsung selbst der nationalen Bewegung in Indien, von dem Augenblick an, wo sie zum gewaltsamen Angriff auf den Imperialismus übergeht (ab Ende 1921), und das dumme Geschwätz von Gandhi über die Gewaltlosigkeit, die Lähmung der chinesischen Arbeiterbewegung durch die verheerende Taktik des Eintritts in die Kuomintang, die die Arbeiter und Bauern Chinas dem Holocaust Chiang Kai-sheks auslieferte.

Die Massaker an Millionen von Bauern in Hunan und Hubeh durch die Truppen der Kuomintang 1926, an Hunderttausenden von chinesischen Arbeitern in Kanton [Guangzhou] und Schanghai 1926/27 und die Vernichtung jeder organisierten proletarischen Bewegung, zusammen mit der Unterdrückung der Streiks und Volksaufstände in Indonesien Ende 1926, Anfang 1927 bedeuteten nicht nur das Ende der Möglichkeit einer auf die antikoloniale Revolution in Asien aufgepfropften doppelten Revolution. Sie läutete auch die Totenglocke für die antikoloniale Welle nach dem ersten Weltkrieg und gleichzeitig signalisierte sie das Ende der proletarischen Revolution in Europa und Russland. Nur wenige Bewegungen konnten in den 1930er Jahren einen Aufschwung verzeichnen, wie die in Indochina, in Palästina und in Algerien.

Erst der Zweite Weltkrieg sollte der sozialen Bewegung wieder eine Bresche legen. Befreit von einer unabhängigen proletarischen Bewegung und vom radikalen Flügel der Bauernbewegung, konnte die Bourgeoisie ihre ganze fortschrittliche geschichtliche Fähigkeit unter Beweis stellen, ohne durch sozialen Protest grundlegend verunsichert zu werden. Nach der verpassten grossen Gelegenheit der 1920er Jahre, wo das Proletariat die Macht nicht hat erobern können, öffnete sich also ein neuer bürgerlicher Zyklus in jener entstehenden »Sturmzone«. Wir haben schon eine gewisse Vereinheitlichung des ganzen Gebietes von China bis Ägypten beobachten können. Nach dem Zweiten Weltkrieg vereinheitlicht sich dieses Gebiet noch mehr und dehnt sich bis zum Magreb aus. Seine Kämpfe wirken auf Schwarzafrika zurück, das an der Welle der Unabhängigkeitskämpfe teilhat, und auf Lateinamerika, das selbst eine Art antiimperialistisches Wiederaufleben durchmacht.

Das Problem, das sich uns jetzt stellt, ist das des Abschlusses des bürgerlich-revolutionären Zyklus’ in jenen Ländern, die von dieser grossen antiimperialistischen Welle erschüttert worden sind. Unsre Meister untersuchten dieses Problem anhand des europäischen Zyklus’, und wir beziehen uns auf sie, gleichwohl die Eigenarten des 20. Jahrhunderts im Auge behaltend, wo dieser Zyklus unter der Fuchtel des Imperialismus durchlaufen wird.

Bürgerliche Revolution und »Revolutionsergänzungen«

Es wäre unsinnig, »sich die Revolution als ein über Nacht abzumachendes Ding vorzustellen«, das all seine Konsequenzen mit einem Schlag auf alle Bereiche der Gesellschaft ausdehnt. Die Revolution – und das ist richtig sowohl für die kommunistische als auch für die bürgerliche Revolution, wenn auch auf verschiedene Art und Weise – ist kein einziger Akt, sondern eine mehr oder weniger lange Folge revolutionärer Umwälzungen, die sich über eine ganze geschichtliche Periode erstrecken.

Nehmen wir z. B. England, das die eigennützige bürgerliche Blindheit als Illustration anführt für eine friedliche Umwandlung durch Reformen und nicht durch Revolutionen. Man »vergisst« dabei bloss, dass England zwischen 1648 und 1688 von einer ungeheuren sozialen Unruhe, von einer Folge von Revolutionen, Bürgerkriegen, Konterrevolutionen und neuen Revolutionen erschüttert worden ist. Am Ende dieser unruhigen, 40 Jahre währenden Periode ergriff die englische Bourgeoisie endgültig die Staatsmacht. Erst danach konnte sie all die unumgänglichen Massnahmen für den endgültigen Sieg und die volle Entwicklung der Industrie durchführen. Sie machte das von oben, mithilfe der Staatsmacht, oder, wenn man will, durch Reformen und nicht durch das Wesen des Staates verändernde Revolutionen. Das ging übrigens nicht ohne politische Kämpfe ab, namentlich um den archaischsten Sektor der Bourgeoisie, die Grossgrundbesitzer, von der Macht zu verdrängen, mit denen die Industriebourgeoisie zu Beginn die Macht geteilt hatte.

Der Fall der französischen Bourgeoisie spricht ebenfalls eine deutliche Sprache: sechsundzwanzig Jahre Revolutionen (1789 bis 1815), zuerst in Form von politischen Revolutionen, dann in Form von revolutionären Kriegen, aber der Bourgeoisie, obwohl siegreich auf sozialer Ebene, gelingt es nicht, ihre Macht durchzusetzen. Sie wird 1815 von der Konterrevolution vertrieben und muss die Revolution »noch einmal machen«. 1830 und 1848 waren notwendig, damit die industrielle Bourgeoisie direkt an die Macht gelangen konnte, allerdings nur für kurze Zeit, denn das Kaiserreich »enteignete« sie politisch wieder. Erst ab 1870 ist sie selbst und endgültig an der Macht. Nach der »grossen Revolution« 1789–1795, die selbst wieder eine Reihe von revolutionären Akten und von Aufständen war, können wir also die »konstitutionellen Revolutionen« von 1830, 1848 und 1870 beobachten, die die Macht von einer bürgerlichen Fraktion auf die andere übertrugen und nützliche Bedingungen für die geschichtliche Entwicklung darstellten.[20]

Das [nord-]amerikanische Beispiel ist ebenfalls sehr wertvoll für uns, denn es vergingen nicht weniger als 89 Jahre zwischen dem Beginn des Unabhängigkeitskrieges 1776 und dem Sieg über die Südstaaten, der, wie Marx meinte, sehr wohl einer bürgerlichen Revolution entsprach. Die Grundbesitzer, die die Staaten im Süden beherrschten, waren keine englischen Landlords. Ihre Skavenhalter-Produktionsweise erschöpfte buchstäblich die Natur und die Menschen, und die Ausdehnung des Baumwollhandels hatte ihre Expansion gen Westen und Norden zur Folge mit dem Risiko, die landwirtschaftlichen Märkte und den Arbeitsmarkt zu paralysieren und somit die Industrie im Norden zu ersticken. Eine revolutionäre Lösung war folglich unvermeidlich. Das nordamerikanische Beispiel erlaubt uns zu zeigen, wie falsch es wäre, die revolutionäre Phase der Bourgeoisie mit der Erlangung der nationalen Unabhängigkeit a priori für abgeschlossen zu halten, nur weil im westlichen Europa dieser Abschluss tatsächlich mit der Bildung grosser Nationalstaaten zusammenfiel. In Wirklichkeit ist das ein sehr oberflächlicher Vergleich.[21]

Eine noch längere Zeitperiode lag in Lateinamerika zwischen der Unabhängigkeit und der Vernichtung des politischen Gewichtes der alten, mit vorsintflutlichen Ausbeutungsformen verbundenen Klassen. Wenn man nun all das vorher Gesagte in Betracht zieht, dürfte es schwer fallen, die revolutionäre kapitalistische Umwandlungsperiode in Schwarzafrika, wo die Unabhängigkeitswelle gerade erst zu Ende gegangen ist, heute für abgeschlossen zu halten, selbst wenn es richtig ist, dass der moderne Imperialismus die historischen Zyklen beträchtlich verkürzt.

Russland schliesslich erlebte drei Revolutionen in bloss zwölf Jahren: 1905, Februar 1917 und Oktober 1917, und einen Bürgerkrieg, der drei Jahre lang dauerte. Die revolutionäre Periode war hier beträchtlich verkürzt wegen des Radikalismus des Proletariats, das durch seine Machtergreifung alle Forderungen, die gewöhnlich in den bürgerlich-demokratischen Programmen enthalten sind, auf radikale Weise verwirklichen konnte, ganz abgesehen von seinen eigenen Forderungen. Die Bourgeoisie hielt die Macht nur für acht Monate in den Händen, von Februar bis Oktober. Erst mit dem Sieg des Stalinismus, den wir im Nachhinein mit dem Triumph der verheerenden »Theorie des Sozialismus in einem Lande« 1926 als gesichert ansehen konnten, überwältigten schliesslich die bürgerlichen Kräfte die proletarische Partei und benutzten sie für ihre eigenen Ziele.

In dieser ganzen Periode – und sogar noch während einer gewissen Zeit nach deren Ende, wenn die Bourgeoisie abzusteigen beginnt, ohne sich jedoch schon jeder ernsthaften Reform zu widersetzen –[22], ist die Bourgeoisie theoretisch noch mehr oder weniger interessiert an der Verwirklichung der in ihrem Programm enthaltenen Forderungen, die von einer ihrer Fraktionen (liberale Grossbourgeoisie, industrielle Mittel und Kleinbourgeoisie, kleine Handels- und Handwerksbourgeoisie, intellektuelle Kleinbourgeoisie, mittlere Bauernschaft) jeweils durchgeführt werden. Die Skale der zu befriedigenden Forderungen ist ausserordentlich unterschiedlich, aber es handelt sich um diejenigen, die im Programm der kleinbürgerlichen Demokratie, des radikalen Ausdrucks der bürgerlichen Revolution, enthalten sind. Es kann sich um die Vernichtung des Gewichtes der alten Klassen und der Kirche drehen, sei es in der Gesellschaft mittels Agrarreformen, sei es im Staat mittels der republikanischen, laizistischen, nationalen und heutzutage antiimperialistischen Forderungen. Es kann sich um die breiteste Teilnahme der Massen am politischen Leben mittels der berühmten Presse-, Vereinigungs- und Versammlungsfreiheiten und des allgemeinen Wahlrechtes drehen, genauso wie um die Aufhebung der Diskriminierungen, die die nationalen Minderheiten, die Frauen und natürlich die Arbeiterklasse und die Bauernschaft treffen.[23]

Aus einem Unverständnis der Haltung des Proletariats zu diesen Reformen rühren mehrere klassische Fehler her, die sich alle von denen ableiten, die wir schon im Zusammenhang mit denForderungen der bürgerlichen Revolution im Allgemeinen erwähnt haben, deren Verlängerung und »historische Nachgeburt« die Reformen in der Tat nur sind. Der Erste, der vom Frontismus abgeleitet ist, ist eine »Etappentheorie«, die vom Menschewismus in die Welt gesetzt und danach vom Stalinismus und vom Maoismus auf die Spitze getrieben wurde. Danach hätte das Proletariat überhaupt keine eigenen Forderungen vorzubringen, solange es noch unbefriedigte nationale oder demokratische Forderungen gibt. Es kann bestenfalls zum Testamentsvollstrecker dieser Forderungen werden, wenn die Bourgeoisie sich gegen ihre Aufgaben wehrt. Im Grunde unterscheidet sich die vom Stalinismus verursachte Verwirrung zwischen bürgerlicher und sozialistischer Revolution kaum vom alten Reformismus, gegen den Rosa Luxemburg einen grossartigen theoretischen und praktischen Kampf geführt hat: während ersterer das Programm der sozialistischen Revolution auf ein rein bürgerliches (d. h. auf ein demokratisches und nationales) Programm herabwürdigte, sah letzterer in der Erfüllung der bürgerlich-demokratischen Forderungen die Verwirklichung des Sozialismus. Der andere Fehler leitet sich vom Indifferentismus ab; er macht wohl der revolutionären Theorie das Zugeständnis, die bürgerliche Revolution als eine Art kleineres Übel hinzunehmen, weigert sich aber hartnäckig, nicht unmittelbar kommunistische Forderungen aufzustellen, sobald der Staat bürgerlich ist, als wenn der Kapitalismus und die bürgerlichen Forderungen keine Notwendigkeit der historischen Entwicklung wären, sondern ein blosser Betrug der Geschichte.

Die Methode des kommunistischen Proletariats besteht darin, die für die volle Entwicklung der modernen Produktivkräfte notwendigen dringenden Forderungen aufzustellen, vor allem um den Weg zum Klassenkampf zwischen ihm selbst und der Bourgeoisie freizulegen. Dazu ist das Proletariat verpflichtet, radikale Lösungen zu fordern, gerade auch da, wo die Bourgeoisie zögert, ihre Macht gegen die alten Klassen und die Reste ihres Einflusses im Staat wie auch in den gesellschaftlichen Verhältnissen einzusetzen. Während die Bourgeoisie versucht, aus diesen dringenden Bedürfnissen der Massen einen Hebel zur Vervollkommnung ihres Staatsapparates zu machen, nicht nur gegen die alten Klassen, sondern auch schon und hauptsächlich gegen das Proletariat, macht das letztere aus der Agitation für diese Forderungen ein Instrument der revolutionären Vorbereitung und Mobilisierung. Es betrachtet sie als eine Gelegenheit zur Sammlung und Übung der proletarischen Kräfte, eine Gelegenheit zur Abgrenzung von den verschiedenen Klassen und den entsprechenden Parteien im politischen Kampf gegen den bürgerlichen Staat und als einen Hebel für seine eigene Revolution.

In dieser ganzen Periode, die hinsichtlich der Ausrichtung der bürgerlichen Kräfte und ihres Verhältnisses zum Staat eine Übergangsperiode ist, kann man nicht mehr wirklich von doppelter Revolution sprechen, zumindest nicht in dem Sinne, wie wir diesen Begriff auf Deutschland 1848 oder Russland 1917 angewandt haben. Wenn sie zu Ende geht, ist die einzige Perspektive, die zählt, die proletarische Revolution, die indessen noch nicht kommunistische politische und soziale Aufgaben übernehmen kann.

Wann hört die Bourgeoisie auf, eine aufsteigende Klasse zu sein?

Es geht nun darum, die allgemeinen Grenzen festzustellen, wo das Proletariat, das schon die für die Massen günstigste Verwirklichung dieser Reformen an seine eigene Revolution knüpft, praktisch nur noch allein die Geschichte vorwärtstreiben kann und somit der Erbe der noch nicht verwirklichten bürgerlichen Aufgaben wird.

Zu diesem Zweck sollen wir auf Lenins Text zurückkommen, dem wir schon die Einteilung der klassischen historischen grossen Epochen entnommen haben:
»Selbstverständlich sind die Grenzen hier, wie überhaupt alle Grenzen in Natur und Gesellschaft, bedingt und beweglich, relativ und nicht absolut. Auch wir nehmen die besonders hervorstechenden und ins Auge springenden geschichtlichen Ereignisse nur annähernd als Marksteine der grossen geschichtlichen Bewegungen«.[24]

Was sind nun die »ins Auge springenden Ereignisse«, die es uns erlauben, die revolutionäre Phase im europäischen Gebiet zu beschranken und zu begrenzen? Die »Grosse Revolution« 1789 und die Pariser Kommune 1871 mit dem niedergeschlagenen Schwung von 1848 dazwischen, wo sich in Paris zwischen dem revolutionären Proletariat und der bürgerlichen Demokratie ein blutiger Graben öffnete. Wie man sehen kann, wurden die besonders hervorstechenden geschichtlichen Ereignisse von den Klassenkämpfen in Frankreich hervorgebracht. Das ging natürlich nicht ab, ohne den französischen Chauvinisten den Kopf zu verdrehen: Frankreich als das »auserwählte Volk« betrachtend, wollten sie der Welt die Revolution bringen, wie sie sich rühmten; aber immerhin machten sie der Welt das Wort Chauvinismus zum Geschenk.

Für uns, die wir an keine moralische Mission und keinen Messianismus glauben, haben französische Ereignisse die Geschichte des ganzen europäischen Gebietes zumindest bis 1871 deshalb begleitet, weil die Revolution in Frankreich rechtzeitig kam. Sie kam in einem Augenblick, wo die Bourgeoisie schon genügend entwickelt war, um all ihre Talente entfalten zu können. Und sie stützte sich auf die angehäufte Erfahrung der englischen Revolution des 17. Jahrhunderts und der amerikanischen Unabhängigkeit, deren direktes Echo sie war, d. h. dass sie mit einem schon vollständigen und erprobten Programm auftrat. Sie hatte folglich gleichzeitig Kühnheit der Jugend und schon die durch ihre Vorläufer gegebene Reife. Die deutsche Bourgeoisie ihrerseits kam verspätet für ihr Gebiet: sie richtete sich in dem Augenblick auf, wo das Proletariat dank der Erfahrung seiner Brüder in den andren Ländern schon seine eigene Revolution ansteuerte.

Um nun auf die Revolutionen des 20. Jahrhunderts zu sprechen zu kommen, so hatte Lenin schon vorausgesehen, dass die chinesische Bourgeoisie weit bessere revolutionäre Qualitäten unter Beweis stellen würde als die russische.[25] Unsre Diagnose war dieselbe, schrieben wir doch 1953:
»Die bürgerliche Revolution in China ist eine Revolution, die für ihren Erdteil rechtzeitig kam, wie die französische Revolution.
Die kapitalistische Revolution Russlands kam verspätet im Hinblick auf die Entwicklung ihres Erdteils: sie hat ihren Weg mit höchster Eile durchlaufen müssen, und gelangte zum ›Staatskapitalismus‹«.
[26]

In gewisser Hinsicht kann man dasselbe von der algerischen Revolution sagen, die am andren Ende des kontinentalen Gebietes der alten Welt, im Herzen der Jagdreviere des europäischen und insbesondere französischen Imperialismus zur rechten Zeit kam und Schwarzafrika im Schlepptau führte. Ohne Zweifel ist eine der Eigenarten jener rechtzeitig kommenden Revolutionen der Einbruch der bäuerlichen Massen in die geschichtliche Arena, obwohl es hier Unterschiede in Frankreich, China und Algerien gegeben hat.

Aus all dem ergibt sich, dass die chinesischen Ereignisse eine beträchtliche Wichtigkeit für ganz Asien haben, dessen Geschichte sie stark prägen. Das hatte sich schon anhand der Revolutionen von 1911 und 1919 bestätigen lassen, mehr noch anhand der Niederlage 1926–1927, die das Ende der revolutionären Welle nach dem Ersten Weltkrieg bedeutete. Der Sieg der chinesischen Revolution 1949 seinerseits erschütterte ganz Asien und darüber hinaus auch noch Afrika und Lateinamerika.

Wenden wir uns nun der wesentlichen Frage zu. Kam es in der Folge in China zu grossen Ereignissen, die uns das Ende einer historischen Phase erkennen lassen? Wir schrieben 1975 anlässlich des Rückzugs der amerikanischen Truppen aus Vietnam: »Der Zyklus des Erwachens Asiens hat sich geschlossen, nur um auf grösserer Stufenleiter wieder eröffnet zu werden«.[27] Das war keine eilfertig gestellte Diagnose: alle späteren Ereignisse bestätigen sie. Die vietnamesische Revolution war lediglich die Verlängerung der chinesischen. Der Abzug der Amerikaner war sicherlich der entschlossenen nationalen Haltung der vietnamesischen Bourgeoisie zu verdanken, aber gleichermassen der Zusicherung Chinas, inskünftig in der ganzen Region eine stabilisierende Rolle zu spielen. Es ist ein ergötzliches Schauspiel, wie die chinesische Bourgeoisie, die während einer ganzen Epoche den amerikanischen Imperialismus als den Hauptfeind dargestellt hat – und der es auch tatsächlich war, weil der eigentliche Sieger sich schliesslich nicht nur mit ihm versöhnt, sondern sich auch noch in die gleiche imperialistische Front einreiht. Die Lage ist, wenn auch in geringerem Masse, vergleichbar mit der am andren Ende des Gebietes, wo die algerische Bourgeoisie über eine widersprüchliche Laufbahn zur Versöhnung mit dem gestrigen Gegner, dem französischen Imperialismus, getrieben wird.

Dieses Ereignis muss mit der Haltung der französischen Bourgeoisie gegenüber Russland im letzten Jahrhundert verglichen werden. Engels sah in der französisch-russischen Allianz 1891 ein sicheres Indiz für den unaufhaltsamen politischen Niedergang der französischen Bourgeoisie, die ein ganzes Jahrhundert lang der stärkste – aber nicht immer der bewussteste und mutigste – Stützpfeiler im Kampf gegen die zaristische Reaktion gewesen war. Die Parallele zwischen der Einreihung des gestrigen Frankreich und des heutigen China in die herrschende Ordnung ist schlagend und gibt ein sicheres Kriterium in die Hand.

Eine andre bedeutende Tatsache, die wir als Ankündigung des Endes eines historischen Zyklus interpretierten, hängt mit dem Nahen Osten zusammen. Während einer ganzen geschichtlichen Periode sahen wir die arabischen Bourgeoisien die Fahne der Einheit der arabischen Nation hochhalten. Sie beanspruchten sie auf eine unsrer Ansicht nach vollkommen undurchführbare Art und Weise, weil sie sie von oben, durch eine Reform, durch ein Bündnis der bestehenden Staaten verwirklichen wollten, während das Interesse des Proletariats und der ausgebeuteten armen Massen in Stadt und Land eine Vereinigung von unten, durch die Zerstörung aller bestehenden Staaten erfordert hätte.[28] Das hätte nicht nur eine radikale Agrarrevolution bedeutet, sondern auch den offenen und allgemeinen Zusammenstoss mit den imperialistischen Monstern, was zweifelsohne sehr schwierig gewesen wäre und einen äusserst zweifelhaften Ausgang hätte nehmen können angesichts des in den Metropolen herrschenden sozialen Friedens. Aber vor allem wollten die schwachen und feigen arabischen Bourgeoisien diesen Weg um jeden Preis vermeiden.

Wie dem auch sei, nach dem Krieg von 1973 verständigte sich die ägyptische Bourgeoisie direkt mit Israel, d. h. mit dem Brückenkopf des Imperialismus in der Region, der vollkommen zu Recht während der ganzen vorhergehenden Periode als der zu vernichtende Feind gebrandmarkt worden war. Der konterrevolutionäre Einmarsch der syrischen Truppen in den Libanon 1976 zeigte dann auch denjenigen, die noch Illusionen in den progressiven Charakter der syrischen Bourgeoisie hatten, dass dieser Verfechter par excellence der arabischen Nation die Ordnung und den sozialen status quo doch der Einheit vorzog. Zu jener Zeit sammelte die PLO selbst die palästinensische Bourgeoisie und die palästinensischen Notabeln hinter sich und liess faktisch die Forderung der Zerstörung des Kolonialstaates Israel fallen. Sie zeigte damit, dass sie die herrschende imperialistische Ordnung der sozialen »Unruhe« vorzog, die durch den Kampf für eine von nun an zu radikale Forderung hervorgerufen würde. Stattdessen versuchte sie lieber, sich in dieser imperialistischen Ordnung einen kleinen Platz an der Sonne zu sichern, und die ursprüngliche Forderung wird nur noch an Festtagen hervorgekramt, um die Massen zu täuschen.

Wenn die Bourgeoisie selbst die Forderung fallen lässt, die sie während einer ganzen historischen Periode in den Mittelpunkt ihres Programms gestellt hat, dann ist das keine unbedeutende Angelegenheit. Indem Lenin sich auf die Tatsache stützte, dass die polnische Bourgeoisie selbst die Forderung nach der nationalen Einheit nicht mehr vorbrachte, konnte er damals nach Mehring, Luxemburg und Kautsky zeigen, dass die geschichtliche Rolle der Bourgeoisie im europäischen Gebiet zu Ende war.[29]

Die Herrschaft der Bourgeoisie als Klasse

Durch Äusserungen der oben untersuchten Art bildet sich eine gemeinsame gesellschaftliche Front der herrschenden Klassen. Damit diese Front stabil und nicht nur zeitweilig ist, muss die Bourgeoisie die Gesellschaft im wesentlichen schon nach ihrem Bilde geformt haben, müssen die Gegensätze zwischen den verschiedenen bürgerlichen Fraktionen durch die mehr oder minder vollständige Verwirklichung des bürgerlichen Reformprogramms auf ein Minimum begrenzt sein. Die Angst vor dem Proletariat tut das Übrige.

Wie Engels anlässlich der Klassenkämpfe in Frankreich feststellte, hatten die verschiedenen bürgerlichen Fraktionen schon ihre Fähigkeit, ihre Gegensätze angesichts der proletarischen Gefahr zum Schweigen zu bringen, unter Beweis gestellt, namentlich 1849–51, aber diese »Regierung der gesamten Klasse der Bourgeoisie« war ihrer »ganzen Natur nach vorübergehend«.[30] Nach der Niederlage des Boulangismus 1889 sieht die Sache anders aus: die Gegensätze erloschen und die alten Fraktionen mussten ihre Privilegien und ihre eigenständigen politischen Bestrebungen aufgeben, wie das schon in England geschehen war, kurz, Engels konnte sagen:
»Nun werdet Ihr zum ersten Male eine wirkliche Regierung der gesamten Bourgeoisie bekommen«[31], die »Herrschaft der französischen Bourgeoisie als Klasse«.[32]

Es ist klar, dass das Proletariat diesem Kampf bürgerlicher Fraktionen nicht gleichgültig gegenüber steht und dass es daraus umso mehr Gewinn ziehen kann, wenn es ihm gelingt, auf einer unabhängigen Klassenposition zu verbleiben, ohne die Konzessionen dieser oder jener Fraktion als einen Beweis einer Sympathie ihm gegenüber aufzufassen. Diese Gegensätze zwischen Fraktionen haben indessen auf das Proletariat eine trügerische Wirkung, die verschwindet, wenn die Gegensätze selbst verschwinden. Umgekehrt bedarf diese Vereinheitlichung, um sich trotz der noch ungelösten sozialen Probleme und der zu heiklen Reformen zu verwirklichen, eines Anstosses: des proletarischen Kampfes. Und wenn die früheren »Vorstösse« vom Juni 1848 und vom März 1871 noch auf eine nur »vorübergehende« Einheit stiessen, so musste das regelmässige Wachstum des Proletariats als schlagkräftig organisierte soziale Bewegung am Ende des 19. Jahrhunderts dazu beitragen, die gemeinsame Front der herrschenden Ordnung zu festigen.
»Am meisten beglückwünsche ich Euch dazu, dass sich auch in Frankreich die ›eine reaktionäre und kompakte Masse‹ Lassalles zu formieren beginnt, die Koalition aller Parteien gegen die Sozialisten«, schrieb Engels an Paul Lafargue 1892. »Das ist das beste Zeichen des Fortschritts, das ist der Beweis, dass man Euch fürchtet, nicht als Kraft, die zu zufälligen Aktionen aufwiegelt, sondern als reguläre, organisierte politische Kraft«.[33]

Eine solche politische »Vereinheitlichung« bedeutet keineswegs, dass jede Reibung zwischen den bürgerlichen Parteien verschwunden wäre, die ja noch unterschiedliche Absichten verfolgen, weil sie unterschiedliche kapitalistische Interessen zum Ausdruck bringen: »Hier in England haben wir die Herrschaft der gesamten Bourgeoisie; doch das bedeutet nicht, dass Konservative und Radikale sich vereinigen, im Gegenteil, sie lösen sich gegenseitig ab«.[34] In der Tat bleiben die wirklichen Gegensätze bestehen, beruhen sie doch auf auseinander strebenden ökonomischen Interessen, die der chaotische Gang des Kapitals tendenziell gegeneinanderstellt anstatt sie zu verbinden. Aber alle Fraktionen versuchen zumindest, ihr gemeinsames Interesse, ihr gesellschaftliches Privileg über ihre Zänkereien zu stellen. Hier haben wir den »Parlamentarismus in voller Blüte: zwei Parteien, die um die Majorität kämpfen und abwechselnd die Rolle der Ins and Outs spielen, der Regierung und der Opposition«[35], alle beide folglich gleich unentbehrlich für das Funktionieren der Staatsmaschine.

Um zu erklären, wie sich heute in den Ländern des jungen Kapitalismus diese vereinigte soziale Front bildet, müssen wir noch zwei Erscheinungen analysieren: zuerst die Rolle des Imperialismus als Vereinheitlichungs- und Zentralisierungsfaktor in der Geschichte der alten Kapitalismen, und danach sein Einfluss in dem politischen Stabilisierungsprozess der jungen Bourgeoisien.

Zur Zeit von Engels Briefen konnte die Erscheinung der politischen und sozialen Vereinheitlichung der Bourgeoisie sozusagen im Reinzustand beobachtet werden, ohne die Intervention des Finanzkapitals, dieses zentralisierenden Agenten, der den Zusammenhalt der bürgerlichen politischen Kräfte noch verstärkt, indem er sich auf die kapitalistische Konzentration selbst stützt. Dank der Teilnahme aller Fraktionen der Bourgeoisie an einem Staat, dessen Handhabung immer ausschliesslicher einigen kapitalistischen Grossinteressen zukommt, gelang es der Bourgeoisie in der Folge, sich gleichzeitig sowohl mit einer wahrhaftigen eisernen Hand auszustatten, um die wachsenden gesellschaftlichen Gegensätze im Zaum zu halten als auch dank der Illusion des »Pluralismus« und des »demokratischen Regierungswechsel« mit wirksamen politischen Stossdämpfern zu versehen.

Dieses System wurde zu seinen äussersten Konsequenzen getrieben durch die Teilnahme der Arbeiterbürokratien am Staat, die mit den vom Tisch der imperialistischen Gelage fallenden Krümeln gekauft sind und der herrschenden Ordnung eine durch den Reformismus zur Ohnmächtigkeit verurteilten Arbeiterklasse ausliefern. Diese Tendenz wurde auf brutale und gewaltsame Weise durch die klassischen faschistischen Bewegungen dort verwirklicht, wo sie die Arbeiterklasse mit Gewalt niederschmettern mussten. Aber sie wurde auf noch vollkommenere Weise in den imperialistischen Demokratien des Westens vollendet, die die faschistischen Staaten zwar besiegt, sich deren Lehren jedoch zueigen gemacht haben. Sie verwirklichte sich gleichermassen, wenn auch in besonderen Formen, in den Ländern Osteuropas. Die stalinistische Konterrevolution konnte die proletarische Revolution nur besiegen, indem sie sich deren Waffe, die Diktatur der Einheitspartei zueigen machte, welche dann auf der Spitze der Bajonette in die »Volksdemokratien« eingeführt wurde, genauso wie im Westen die »liberale Demokratie« Teil der Ausrüstung der Patton-Tanks war.

Die Tendenz zur Bildung einer bürgerlichen Einheitspartei, die die Bildung einer gemeinsamen sozialen Front der Bourgeoisie vollendet, ist schon vollständig in der Demokratie als Klassendiktatur enthalten, wie das aus den Kommentaren von Engels zum Wechselspiel von Konservativen und Radikalen hervorgeht: »Wenn die Dinge ihren langsamen, klassischen Verlauf nähmen, dann würde sie schliesslich das Aufkommen der proletarischen Partei zweifellos dazu zwingen, sich gegen diese neue und unparlamentarische Opposition zu vereinigen. Doch das wird kaum geschehen, denn es wird eine stürmische Beschleunigung der Entwicklung geben«.[36]

Verhältnis zwischen jungen Bourgeoisien und Imperialismus

Das Phänomen der Vereinheitlichung der bürgerlichen Kräfte in den Ländern des jungen Kapitalismus braucht nicht den langen Weg zu durchlaufen, den wir soeben in den Ländern des alten Kapitalismus nachgezeichnet haben. Der Prozess ist dort gleichzeitig kürzer und komplizierter.

Wir haben schon gesehen, dass die neuen Gebiete den vollen Kapitalismus schneller erreichen als die alten, weil das Gewicht des Imperialismus sie dazu zwingt, ihren Rückstand in Eilmärschen aufzuholen.[37] Aber das ist nicht alles. Die Kräfte, die auf diesem veränderten Gelände zusammentreffen, sind ebenfalls verwandelt. Im 19. Jahrhundert war der Zarismus, das feudale Russland der Hort der Reaktion, der der politische, aber viel stärker noch der soziale Feind der europäischen Bourgeoisien war: zwischen ihm und ihnen lag der Graben einer Produktionsweise.

Im 20. Jahrhundert existiert zwar das feudal-patriarchalische Element noch. Aber erstens hat es weltweit und lokal ein weniger grosses Gewicht, und zweitens ist es dort, wo es fortbesteht, nunmehr dem Imperialismus untergeordnet, der sich die alten Klassen politisch unterworfen hat. Nun ist der Imperialismus zwar für die aufsteigenden Bourgeoisien ein hartnäckigerer politischer und militärischer Gegner, als es vormals der Zarismus sein konnte, er steht aber in einem vollkommen anderen sozialen Verhältnis zu ihnen: natürlich in einem ökonomischen Konkurrenzverhältnis, vor allem in einem Verhältnis der politischen Gegnerschaft, solange die nationale und koloniale Unterdrückung existiert, aber es besteht kein sozialer Gegensatz. Die alten imperialistischen Bourgeoisien haben keine andere Produktionsweise als die jungen. Sie sind das vollendete und senile Produkt einer Produktionsweise, deren jugendlicher, wenn auch deformierter Ausdruck die neuen Bourgeoisien noch sind. Zwischen ihnen gibt es eine Art »Generationskonflikt«, aber ihre Gesellschaften sind identisch.

Schon zwischen der bürgerlichen Klasse und der alten Feudalklasse gab es trotz des radikalen Gegensatzes der Produktionsweisen ein Element sozialer Komplizenschaft, nämlich weil sie alle beide ausbeutende Klassen sind und die Bourgeoisie teilweise die Unterdrückungsmethoden der vorhergehenden Staaten übernimmt und vervollkommnet. Diese Komplizenschaft ist noch tausendmal grösser zwischen den jungen und den alten Bourgeoisien, die, obwohl die Gegner der ersteren, auch deren klassenmässige Verbündete und deren Vorbilder gegenüber den »gefährlichen Klassen« sind.

Dieses stillschweigende Einverständnis zeigte sich überall, wenn auch in unterschiedlichem Ausmass, und der nationale Kampf endete oft mit einem Kompromiss, um eine soziale Radikalisierung zu vermeiden. Das war der Fall in Indien 1947, in China 1949, in Algerien 1962 und in jüngerer Vergangenheit in Palästina 1974–1976. Es ist klar, dass der Stalinismus und die Sozialdemokratie hierbei eine aktive Rolle als direkte Agenten der imperialistischen Weltordnung gespielt haben. Desweiteren haben die Tage nach dem Sieg und die Erfahrung der Unabhängigkeit immer und überall gezeigt, dass die jungen Bourgeoisien, selbst die radikalsten unter ihnen, sehr schnell ihre Vorbehalte gegenüber ihren älteren Geschwistern vergassen und den Massen gegenüber die guten alten Methoden anwandten, die bis dahin als Eigenarten des Kolonialismus galten.

Man muss hinzufügen, dass die imperialistische Herrschaft, vor allem ihre direkte, offen koloniale Form, in diesen Gebieten Staaten errichtete, deren Funktion darin bestand, die Bedingungen für eine Akkumulation von Kapital herzustellen, auch wenn dazu nur von sehr archaischen sozialen Formen ausgegangen werden konnte. Solche im Dienste des Imperialismus stehende Staaten ermöglichen ihm unvergleichliche ökonomische und politische Privilegien, gegen die die lokale unterdrückte Bourgeoisie gezwungen ist vorzugehen. Indessen geben sich diese Staaten sofort zentralisierte Formen der Verwaltung und der sozialen Kontrolle und errichten viel schneller als in Europa Kommunikationsnetze, moderne Verwaltungen, die allgemeine Schulpflicht, eine soziale Gesetzgebung usw. In gewissem Sinne sind sie der Entwicklung der Gesellschaft und der Bourgeoisie selbst voraus und verwirklichen dank des sozialen Einflusses des Finanzkapitals Reformen, die die europäische Bourgeoisie, um sich entwickeln zu können, den alten Klassen durch einen politischen Kampf aufzwingen musste. Auf diese Art und Weise hat der Imperialismus den jungen Bourgeoisien ihre soziale Aufgabe beträchtlich »vorgekaut«, wenn letztere auch notwendigerweise mit der kolonialen Form des Staates und den politischen Privilegien des Imperialismus zusammenstossen müssen. Anstatt eine »Gesellschaft nach ihrem eignen Bild« formen zu müssen, beeilen sie sich, sich einer zumindest teilweise schon bestehenden Gesellschaft anzupassen, und nehmen so erst Gestalt an.

Daraus folgt, dass ihr nationaler Gegensatz zum Imperialismus sie zwar oft zu ungeheuren Massenmobilisierungen in nationalen Kriegen riesigen Ausmasses gezwungen hat, wie z. B. in Indochina oder in Algerien, dass sie aber weit weniger sozialen Kampfwillen unter Beweis stellen mussten als ihre älteren Geschwister aus dem 19. Jahrhundert. Wenn man hierzu noch die Enge ihrer gesellschaftlichen Grundlage, ihr ungeheures Handicap in der Konkurrenz mit den alteingesessenen Bourgeoisien und die sich daraus ergebende Furcht gegenüber den alten patriarchalisch-feudalen Klassen hinzufügt, versteht man, dass sie sich letztendlich weniger soziale und politische Konzessionen von den ausgebeuteten Massen entreissen liessen als ihre älteren Geschwister.[38]

Mühsame, aber beschleunigteVereinigung der jungen bürgerlichen Klassen

Die rapide Erschöpfung der fortschrittlichen Fähigkeiten der Bourgeoisie bringt andauernde Streitigkeiten zwischen den bürgerlichen Fraktionen mit sich, die unfähig sind, aus sich selbst heraus die für den Gang der Gesellschaft unentbehrlichen Reformen durchzuführen. Unter diesen Bedingungen werden diese Reformen von mehr oder weniger offenen Militärdiktaturen ins Werk gesetzt, die sich auf das Finanzkapital und den Imperialismus, diese Faktoren der Zentralisation und Disziplin, abstützen. Diesen »starken Regierungen« gelingt es umso besser, die Widerstände der verschiedenen bürgerlichen Fraktionen zu besiegen, als sie sie alle von der Angst einer sozialen Explosion und eines Einbruchs der ausgebeuteten Massen in die politische Arena befreit.

Das Lateinamerika der letzten 20 Jahre gibt uns zu dieser Erscheinung eine fast verwirrende Vielzahl von Beispielen, zweifellos weil der Prozess dort sehr fortgeschritten ist in Anbetracht dessen, dass das Eindringen des Kapitalismus in diesem Gebiet vorzeitiger erfolgte und die Bourgeoisien dort gerade nicht mehr so jung sind. Einerseits klammern sich die alten halbkolonialen, mit der Gesellschaft und dem Staat verkrusteten Kasten angesichts des Volkszornes verzweifelt an ihre Privilegien und ein strenger Verweis ihrer imperialistischen Herren ist notwendig, damit sie die elementarsten Zugeständnisse machen, wie es das Beispiel El Salvadors zeigt. Andrerseits geht die Kleinbourgeoisie, auch die, die zum Guerillakampf neigt, dazu über, die dringendsten Bedürfnisse der Massen zu verraten, namentlich im Bereich der Agrarfrage oder in dem der politischen Freiheiten: so mächtig ist die Notwendigkeit für die Gesamtheit der bürgerlichen Fraktionen, vor allem anderen die Verstärkung der Staatsmaschine zu sichern, wie es das Beispiel Nicaraguas bestätigt.

Es ist unbestreitbar, dass sich die Tendenz der Verschmelzung aller bürgerlicher Parteien zu einer einzigen heute beträchtlich verstärkt hat. Die bürgerliche Einheitspartei war unter dem Faschismus die Vollendung und die Ergänzung der Bildung einer bürgerlichen sozialen Front. Unter dem Stalinismus wurde sie das Mittel, das Proletariat von der Macht zu verdrängen. In der grossen antikolonialen Welle hat sie sich nunmehr in ein Instrument der Vereinheitlichung verwandelt, mit dessen Hilfe die Anstrengungen der Bourgeoisie in ihrem Kampf einerseits gegen den Imperialismus und andererseits gegen die tendenziell weitergehenden radikalen Interessen der ausgebeuteten Massen zusammengefasst wurden: sie wurde zu einem Beschleuniger der »Herrschaft der Bourgeoisie als Klasse«.

Dieser Prozess wird noch durch die Notwendigkeit verstärkt, alle Kräfte der ganzen bürgerlichen Gesellschaft anzuspannen, um der nationalen Wirtschaft auf einem schon ultra-konzentrierten Weltmarkt einen Platz zu schaffen. Die Funktion des Staates als »ökonomische Macht«, um einen Ausdruck von Marx zu benutzen, ist dort folglich grösser noch als sonstwo. Und da diese Macht von einer selbst schon konzentrierten Kraft in Händen gehalten werden muss, ist oftmals die Armee mit ihrer stark hierarchisierten Struktur für diese Aufgabe prädestiniert; dort, wo die soziale Bewegung noch keine Einheitspartei hervorgebracht hat, ist es das Militär, das den Platz einer solchen Partei einnimmt oder gar eine schafft, die jedoch nur sein Schatten ist.

So bricht sich die Tendenz zur Bildung einer bürgerlichen Einheitspartei auch über die Militärdiktaturen Bahn. Indem sie die Einflüsse der archaischen Klassen im Staat, wenn nicht gar in der Gesellschaft vernichtet, macht die Armee den Weg frei für die stabile Vereinheitlichung der Bourgeoisie. Und unter diesen Umständen werden die Militärdiktaturen tendenziell vom »demokratischen Konsens« der bürgerlichen Parteien unterstützt, wie in Argentinien oder Brasilien, was sie beträchtlich verstärkt.

Man erhält dann eine ganze Reihe politischer Formen, die sich nur durch das entsprechende Gewicht der Militärhierarchie und der Einheitspartei unterscheiden sowie durch die Art und Weise, wie sich diese noch enger zusammenschliessen.

Die ideale Herrschaftsform der Bourgeoisie als »einige und unteilbare Klasse«, die zum Ende des 19. Jahrhunderts der »Parlamentarismus auf seinem Höhepunkt« war, ist also heute tendenziell für die jungen Bourgeoisien des imperialistischen 20. Jahrhunderts eine Art von plebiszitärem Militarismus oder von einer auf einem Konsens beruhenden Militärdiktatur.

Es ist klar, dass es sich, wenn wir von der Bourgeoisie sprechen, um die ganze Palette von bürgerlichen Klassen und Unterklassen handelt: das bürgerliche Grundeigentum, die mehr oder weniger mit dem Imperialismus verbundene Handels- und Finanzbourgeoisie, die mittlere und kleine Industriebourgeoisie, welche mit dem Nationalstaat verbunden ist, Ausführende für die internationalen Grosskonzerne sein kann oder auf dem lokalen, nationalen oder gar internationalen Markt selber etwas zu sagen hat, aber auch die städtische und die intellektuelle Kleinbourgeoisie, die kleine Handels- und Handwerksbourgeoisie, die mit der Verwaltung des Kapitals verbundenen lohnarbeitenden Mittelschichten, die reiche und mittlere Bauernschaft sowie die Kleinbesitzer. Wie stellen nirgends die Kleinbourgeoisie der Bourgeoisie vom Standpunkt der Durchführung der bürgerlichen Aufgaben entgegen. Auf politischer Ebene erweist sie sich höchstens als extremste bürgerliche Fraktion. Wenn man sich die bedeutsamsten, weil radikalsten Revolutionen – wie die chinesische oder algerische – tatsächlich anschaut, wird man feststellen, dass nirgendwo die liberale Bourgeoisie vorne stand, sondern immer die Kleinbourgeoisie; wie im jakobinischen Frankreich war letztere es, die die Partei der bürgerlichen Revolution hervorgebracht hat. Diese Feststellung ist heute von grosser Wichtigkeit wo zahlreiche Strömungen ohne weiteres zugeben, dass die Bourgeoisie ihre revolutionäre Rolle ausgespielt hat, die aber predigen, sich bei der Kleinbourgeoisie für die Beendigung der antifeudalen und antiimperialistischen Aufgaben einzuhaken, selbst in Ländern, wo sie schon auf die eine oder andre Weise am Staat teilnimmt.[39]

Es war folglich zwar richtig, wenn man sich zu Anfang des Jahrhunderts auf einen glänzenderen bürgerlich-revolutionären Zyklus im Osten gefasst machte, als man ihn im russischen Gebiet beobachten konnte. Aber die Bourgeoisie hat dort dennoch die charakteristische Feigheit der Nachzügler gezeigt, die nach den grossen euroamerikanischen älteren Bourgeoisien die geschichtliche Arena betreten haben.

An der Grenzscheide zweier Epochen

Es ist offensichtlich heute, dass wir dem Ende der auf den Zweiten Weltkrieg folgenden grossen Welle der antiimperialistischen Bewegung beiwohnen, die durch die Bildung grosser Nationalstaaten im weiten geografischen Gebiet zwischen Korea und Nordafrika, mit China als Zentrum, gekennzeichnet war, deren Erschütterungen jedoch bis nach Schwarzafrika und Lateinamerika hineinwirkten. Die apokalyptische Vereinigung der indochinesischen Halbinsel, der konterrevolutionäre Einmarsch der syrischen Truppen in den Libanon, das Versiegen der Guerilla-Bewegung in Lateinamerika und die erwiesene Impotenz des Sandinismus, die Unfähigkeit der »islamischen Revolution«, die sozialen Probleme zu lösen, welche die iranischen Massen in Bewegung gesetzt hatten, und das hinter einer antiimperialistischen Maske angerichtete Blutbad in Kurdistan, der Kniefall der Guerilla, die es sich in Zimbabwe gefallen lässt, als Schutzmäntelchen der weissen Macht zu fungieren, all diese tragischen Ereignisse stellen Anzeichen für diese Wende dar.

Die Frage, die sich nun stellt, ist die folgende: Welchen Charakter wird die neue soziale Welle haben, die die Kontinente des neuen Kapitalismus erschüttern wird? Wird sie denselben, im wesentlichen bürgerlichen, d. h. antifeudalen und antiimperialistischen Charakter haben wie die erste Welle, die den Osten zwischen 1905 und 1927 erschütterte, und die grosse Welle nach dem Zweiten Weltkrieg, die grob gesagt zwischen 1945 und 1975 abrollte? Die ganze hier durchgeführte Untersuchung sollte zeigen, dass das Ende dieser Welle in einem Augenblick kommt, wo die ökonomisch »rückständigen« Kontinente vom kapitalistischen Standpunkt aus gerade beträchtlich herangereift und »fortgeschritten« sind. Wir haben in einer Tafel einige die Reife der kapitalistischen Entwicklung kennzeichnenden Gegebenheiten zusammengestellt. Man kann sehen, dass sie alle darin übereinstimmen, aus dem Anteil der nichtlandwirtschaftlichen Erwerbsbevölkerung an der Gesamtbevölkerung ein relativ zuverlässiges Kriterium für den Grad der kapitalistischen Umwandlung des sozialen Gewerbes zu machen.

Vergleich des Grades der kapitalistischen Entwicklung in den verschiedenen Gebieten
  Bevölkerung Bruttosozialprodukt Anteil der nichtlandwirtschaftlichen Erwerbsbevölkerung an der gesamten Erwerbsbevölkerung BSP/Einwohner Energieverbrauch/Einwohner
1977
Mio.E.
1977
Mrd.$
1977
 %
1977
 %
1976
kg. SKE
Nordamerika 240 2091 97 8710 11 364
Westeuropa 371 2102 88 5670 4268
Osteuropa 108 354 70 3280 5336
UdSSR 259 861 81 3320 5233
Japan 113 737 87 6520 3679
Australien/Ozeanien 22 121 93 5500 4818
 Norden 1113 6266 86 5630 6081
           
Südafrika 27 38 71 1410 3345
Lateinamerika 342 437 64 1280 1030
Naher Osten 220 316 50 1440 851
Ferner Osten 978 453 39 460 759
Südostasien 330 115 37 350 238
Indischer Subkontinent 832 129 33 155 187
Zentralafrika 300 100 27 330 111
 Süden 3029 1588 39 525 540
           
Welt 4142 7854 53 1900 2057
Quelle: World Bank, »1979 World Bank Atlas« (Washington 1979) für die Bevölkerungszahlen, das Bruttosozialprodukt und das Bruttosozialprodukt pro Einwohner; FAO, »Production Yearbook«, Vol. 31, 1977 (Rom 1978) für die landwirtschaftliche Erwerbsbevölkerung; United Nations, »World Statistics in Brief«, 1978, (New York 1978); Banque Mondiale, »Rapport sur le developpement dans le monde«, 1978 (Washington 1978) für den Energieverbrauch pro Einwohner.

Im 19. Jahrhundert erreichten Länder wie die Vereinigten Staaten, Deutschland und Frankreich in der Periode 1860–80 einen Anteil der nichtlandwirtschaftliche Erwerbsbevölkerung von 50 %, also etwa zu dem Zeitpunkt, wo die revolutionäre Umwandlungsphase des Kapitalismus als abgeschlossen betrachtet werden kann. Um 1870 war Italien noch bei 40 %, Spanien und Ungarn bei 30 %. Japan seinerseits erreichte die 50 %-Marke um 1930 und Russland in den 1950er-Jahren, als der Stalinismus gerade dem Chruschtschowismus das Feld überliess. Die Parallele mit den neuen kapitalistischen Gebieten ist sehr lehrreich, auch wenn der Vergleich berücksichtigen muss, dass Zonen äusserst fortgeschrittener und konzentrierter kapitalistischer Entwicklung neben weiten archaischen und oft noch halbfeudalen und patriarchalischen Sektoren existieren. Lateinamerika in seiner Gesamtheit erreicht die 50 %-Marke in den 1950er-Jahren, also zum Zeitpunkt der kubanischen Revolution, der Nahe Osten (von Marokko bis zum Iran, einschliesslich der Türkei) in der Mitte der 1970er-Jahre.

Vergleichen wir nun die Länder, die im 19. und 20. Jahrhundert im Mittelpunkt der politischen Erschütterungen standen. Der Prozentsatz der chinesischen landwirtschaftlichen Erwerbsbevölkerung 1975 ist mit dem der französischen von 1848–50 vergleichbar, und wenn das gegenwärtige Entwicklungstempo andauert, wird er im Jahre 2000 auf das französische Niveau von 1880 absinken. Der indische Subkontinent und Südostasien befinden sich heute in einer Situation, die mit der Deutschlands oder der Vereinigten Staaten um 1850 vergleichbar ist, Schwarzafrika wäre mit dem Südeuropa der selben Periode vergleichbar, Schwarzafrika ist weltweit das rückständigste Gebiet. Es hat heute dennoch eine nichtlandwirtschaftliche Erwerbsbevölkerung, die derjenigen des indischen Subkontinents, Südostasiens oder Chinas zu Beginn der 1960er-Jahre gleicht oder auch derjenigen Russlands von 1927–28 am Vorabend der grossen stalinistischen Industrialisierung.

Schon heute stellt sich das Problem der sozialistischen Umwandlung dieser Gebiete anders dar als für Russland 1917. Die Überentwicklung der reichen Länder wird es erlauben, diese Umwandlung zu beschleunigen, die mehr und mehr das Werk des Proletariats aller Kontinente sein wird.

Wir haben gesehen, dass sich die ökonomischen Zyklen zwar beschleunigen, dass die politischen Zyklen sich aber tendenziell noch stärker verkürzen und dass die fortschrittliche Fähigkeit der Bourgeoisien der »Sturmzone« im Begriff ist, sich zu erschöpfen. Kann man sich unter diesen Umständen vorstellen, dass eine neue revolutionäre Welle – d. h. nicht eine einfache Episode, sondern eine sich über zwanzig oder dreissig Jahre erstreckende Bewegung – den Charakter einer neuen »eruptiven Phase der antikolonialen Bewegung« annehmen wird, vor allem, wenn man noch die durch die Krise ausgelösten proletarischen Kämpfe, die sich schon am Horizont abzeichnen, berücksichtigt? Am Ende-dieser Untersuchung zeigt schon die einfache Erwähnung einer solchen Hypothese, wie unwahrscheinlich sie ist. Wenn die grossen historischen Phasen durch »grosse historische Ereignisse« bestimmt werden, dann ist es klar, dass das Ende einer revolutionären Welle ein solches Ereignis ist. Deshalb können wir sagen, dass das Ende des Indochinakrieges diese Phase, die vom »Erwachen Asiens« gekennzeichnet ist, abschliesst. Sie erstreckte sich folglich von 1905 bis 1975. Das Zusammentreffen des Abschlusses dieses grossen historischen Zyklus mit dem Ende der Akkumulationsphase der Nachkriegszeit und dem Eintritt in eine Ära kapitalistischer Krisen jeder Art ist von gewaltiger Wichtigkeit: Die proletarischen Kämpfe in den Ländern des jungen Kapitalismus werden gerade in dem Augenblick angestachelt, wo wir von der Krise die Rückkehr des unabhängigen Klassenkampfes in den imperialistischen Metropolen erwarten, aus denen die stalinistische Konterrevolution ihn mehr als 50 Jahre vertrieben hatte.

Man darf diese Betrachtung nicht starr und mechanisch auffassen: In der kommenden revolutionären Welle wird gewiss die grössere Reife bestimmter Regionen sichtbar werden, aber auch der Rückstand anderer, wo sich noch eine Art von antikolonialem Wiedererwachen äussern könnte; ferner wird man natürlich unvermeidliche Vorstösse und Rückzüge in den lokalen und partiellen Bewegungen beobachten können. Diese revolutionäre Welle wird sich ihren Weg unvermeidlicherweise in einem Gebiet bahnen müssen, wo es eine Vielzahl noch bürgerlicher Aufgaben gibt, die vom Gewicht der alten Gesellschaftsverhältnisse und von der in mehr oder weniger archaische Formen gekleideten imperialistischen Herrschaft herrühren. Aber im ganzen gesehen wird diese Welle in den Ländern des jungen Kapitalismus einen ausgeprägten proletarischen Charakter aufweisen. Während wir auf ihren Aufschwung warten, befinden wir uns »an der Grenzscheide zweier Epochen«, wie die politische Impotenz der kleinbürgerlichen Parteien zeigt, die die soziale Bewegung in Iran wie auch in Zentralamerika einzudämmen versuchen.

Das wirkliche Ergebnis der bürgerlichen Revolutionen ist das Auftreten des Proletariats

Während Jahrzehnten kämpften wir gegen alle Strömungen, die in den nationalen Schlachten der »Sturmzonen« nichts andres sahen als den immerwährenden Kampf für »Freiheit«, »Nation«, »Demokratie« und andere bürgerliche »ewige« Werte und die mit ihnen ausschliesslich auf dieser Ebene sympathisierten. Wir mussten gleichermassen die Strömungen bekämpfen, die den nationalen, demokratischen und somit bürgerlichen Charakter dieser Schlachten zum Vorwand nahmen, um sie zu verurteilen. Für uns revolutionäre Marxisten hingegen legten diese Kämpfe den Weg frei nicht nur für die Herrschaft neuer Bourgeoisien, sondern auch für ein modernes, starkes, junges, kühnes und revolutionäres Proletariat, das unter der Fahne der »Nation« und der »Demokratie« nur marschierte, um umso schneller seine eigene zu ergreifen, sobald das soziale und politische Terrain dafür vorbereitet sein würde. Die Bourgeoisie »produziert vor allem ihren eigenen Totengräber«, proklamierte schon das »Manifest«.[40] Das sind die Früchte, die die Klassenkämpfe des 20. Jahrhunderts in den ökonomisch verspäteten Kontinenten trugen.

Es ist schwierig, die Entwicklung der Arbeiterklasse in den verschiedenen Gebieten genau zu beziffern. Selbst da, wo es bürgerliche Statistiken gibt, benutzen sie veränderliche und schwankende Kriterien. Eine annähernde Schätzung (die win später einmal zu präzisieren versuchen werden) erlaubt indessen, Grössenordnungen anzuzeigen. Während die Anzahl der Fabrikarbeiter nur in den industrialisierten Ländern zwischen Ende der 1920er-Jahre und dem der 1970er-Jahre von 50 auf 100 Millionen angestiegen ist, ist ihre Anzahl in den neuen Kontinenten ungefähr von 10 auf 50 Millionen gewachsen. Das Wachstum der Arbeiterklasse war hier also sehr stark, denn die Zahl der Fabrikarbeiter hat sich verfünffacht, während sie sich in den industrialisierten Ländern nur verdoppelte. Und wir betrachten hier nur die Arbeiter, die in der verarbeitenden Industrie arbeiten, während wir die in Bergwerken, in der Bauindustrie, im öffentlichen und in anderen Sektoren arbeitenden unberücksichtigt lassen mussten. Wenn man alle diese Industriearbeiter, ihre Familien und die Arbeitslosen, die sie miternähren, berücksichtigen würde, könnte man gewiss die Schlussfolgerung ziehen, dass jetzt schon die industrielle Arbeiterklasse in den Ländern des jungen Kapitalismus Asiens, Afrikas und Lateinamerikas zahlenmässig mindestens genauso wichtig ist wie in den Ländern des senilen Kapitalismus. Gewiss ist die Durchschnittsgrösse der Industrien dort kleiner, aber das wird durch das relativ grössere Gewicht der riesigen städtischen und industriellen Ballungszentren ausgeglichen.

Desweiteren verpassen die jungen Arbeiterklassen keine Gelegenheit, ihre Existenz unter Beweis zu stellen: nach den Unruhen von Kairo im Januar 1977, den Zusammenstössen vom Januar 1978 in Tunesien, den grossen Streiks 1978 und 1979 in Peru und Brasilien, dem Erwachen der iranischen Arbeiterklasse, die zu besänftigen die »islamische Revolution« nicht schafft, brachte jeder Monat des Jahres 1980 Zeichen proletarischer Lebenskraft. Das Proletariat tritt in den Kampf ein, sei es in die von den Studenten geschlagenen Breschen, wie in Tizi Ouzou im April 1980 oder in Kwangju im Mai 1980, sei es neben ihnen wie am Kap oder in Durban im Juni 1980, oder alleine wie in der mächtigen Revolte von Izmir im Februar 1980 oder im grossartigen Streik der Metallarbeiter in São Paulo im April/Mai 1980. Sogar China ist von der Arbeiterunruhe betroffen, selbst wenn man sich offiziellerseits diesem Problem gegenüber sehr verschlossen zeigt.[41]

Ferner hat der grosse bürgerlich-revolutionäre Zyklus auch riesige Staaten geschaffen, wie China z. B., das allein fast ein Viertel der Menschheit umfasst. Er vereinfacht so die Aufgabe des Proletariats, weil er es davor bewahrt, seine Kräfte in vielen lokalen politischen Schlachten aufzusplittern, wie das noch in anderen Regionen der Fall ist. Aber selbst in den Zonen, wo die Bourgeoisie nicht die Kraft hatte, die Balkanisierung zu überwinden, welche durch das Spiel des Imperialismus, die separatistischen Tendenzen der alten Klassen und wegen ihrer eigenen Feigheit gefördert wurde, (z. B. im arabischen Mittleren Osten), selbst dort ist die Vermischung der verschiedenen Bevölkerungsgruppen durch die Aktion des Kapitals derart, dass der Weg langsam, aber sicher frei wird für die Verschmelzung aller Nationalitäten zu einer einzigen. Darüber hinaus war der grosse Strom der internationalen Wanderungsbewegungen niemals so massiv wie heute. Zwischen den Ländern des jungen Kapitalismus und den alten imperialistischen Metropolen der Alten wie der Neuen Welt ist so ein ununterbrochener Fluss gesichert, der den alten Arbeiterklassen, die noch von den vergangenen Niederlagen und vom Gewicht der »sozialen Garantien« gelähmt sind, das frische Blut der sozialen Revolte bringt.

Mit dem Ende der antiimperialistischen Welle schliesslich, und das ist das wichtigste, untergraben die jungen Bourgeoisien selbst durch ihre Einreihung in die internationale herrschende Ordnung die anti imperialistischen Rechtfertigungen, mit denen sie vom Proletariat die Aufopferung seiner eigenen Forderungen verlangen konnten. »Die Arbeiterklasse hatte, hat und wird immer ihre eigenen Probleme haben, aber während der Revolution hat sie ihre eigenen Forderungen in einem Akt ausserordentlichen Glaubens vergessen«, erklärte Khider, Generalsekretär des FLN, anlässlich der algerischen Unabhängigkeit.[42] Können diejenigen, die sich am Elend der arbeitenden Massen bereichert haben, zwanzig Jahre später noch solche »Glaubensakte« erwarten? Die Repression, die in Algerien seit dem Aufruhr von Tizi Ouzou wütet, und die seitdem nicht nachlassenden Kämpfe geben auf diese Frage eine eindeutige Antwort.

Wir haben es in den letzten Jahren oft mit Enthusiasmus verzeichnet[43]: Diese Arbeiterklasse, die noch von der revolutionären Spontaneität durchpulst wird, welche sie sich im Kampf gegen den Imperialismus erworben hat, wird durch die Krise schon gezwungen, eigene Forderungen vorzutragen, sei es auch nur im unmittelbaren Bereich, und sie mit Begeisterung und Heldenmut zu verteidigen. Das alles unter Bedingungen, wo sie alles zu erobern hat, angefangen mit der Vereinigungs-, Streik- und Pressefreiheit, die die Bourgeoisie sich wohl gehütet hat, ihr für ihre Beteiligung am nationalen Kampf zuzugestehen. Wir sehen in der Revolte dieser jungen Arbeiterklassen das Bild der Zukunft, welche früher oder später die gesamte Arbeiterklasse der »fortgeschrittenen« Länder erwartet, wenn die »Sicherheiten« und die »Garantien« endgültig zusammengebrochen sein werden, die die imperialistische Bourgeoisie gewährte, um das Proletariat der alten kapitalistischen Gebiete mit Hilfe der reformistischen und sozialimperialistischen »Arbeiter«-parteien einschläfern zu können.

Welches »Erbe« uns die Bourgeoisie hinterlässt

1907 knüpfte Lenin bei Engels an, die Erfahrungen der Revolutionen von mehr als einem Jahrhundert betrachtend: »Es hat sich ferner bestätigt, dass die Revolution ein grosses Stück über ihre unmittelbaren, nächsten, bereits völlig herangereiften bürgerlichen Ziele hinausgeführt werden muss, sollen diese Ziele tatsächlich erreicht, sollen die minimalen bürgerlichen Errungenschaften ein für allemal fest verankert werden. Danach kann man beurteilen, wie verächtlich Engels die Achseln gezuckt hätte über die Spiesserrezepte, die Revolution im voraus in einen rein bürgerlichen, eng bürgerlichen Rahmen zu zwängen, ›damit die Bourgeoisie nicht abschwenke‹, wie die kaukasischen Menschewiki in ihrer Resolution von 1905 sagten, oder um eine ›Garantie gegen die Restauration‹ zu schaffen, wie Plechanow in Stockholm meinte!«[44], und wie es heute noch die Erben Stalins und Maos bis zum Erbrechen wiederholen, überhaupt wie alle sich »sozialistisch« gebärdenden Demokraten, die das Proletariat in »nationale Fronten« einschmelzen wollen, selbst wenn letztere jeden Schein eines revolutionären Potentials verloren haben.

Lenins Bemerkung wurde durch die Erfahrung der fünfzig letzten Jahre mehr als bestätigt, in deren Verlauf das Proletariat nicht imstande gewesen ist, die bürgerlichen Revolutionen über ihre bürgerlichen Ziele hinauszutreiben: sie blieben oftmals unterhalb dessen, was man theoretisch von ihnen hätte erwarten können. Das ist der Grund, weshalb uns die Bourgeoisie am Ende ihres Zyklus’ eine Menge noch nicht durchgeführter Aufgaben als »Erbschaft« hinterlässt, um die sich das Proletariat nun kümmern muss. Wir bringen gleich eine kurze Aufstellung dieser Aufgaben in den verschiedenen Gebieten und Untergebieten des jungen Kapitalismus. Man sollte indessen nicht meinen, dass die Abgrenzung der verschiedenen Gebiete endgültig und die Aufzählung dieser Aufgaben – von denen wir nur die wichtigsten in jedem Gebiet erwähnen – vollständig und unveränderlich sei.

Lateinamerika

(Mittel- und Südamerika)

Staatsformen: verschiedene Kombinationen bürgerlicher Fraktionen, von der Vorherrschaft halbkolonialer Schichten bis zur Teilung der Macht zwischen Teilen der grundbesitzenden und industriellen Grossbourgeoisie, die mit dem Imperialismus eng verknüpft ist; wachsende Tendenz zur »demokratischen« Vereinigung der Fraktionen um starke Regierungen.
Bürgerliche Forderungen: aufständische Bauernbewegung gegen den archaischen Grossgrundbesitz (Andenstaaten, Brasilien, Karibik, Mexiko); Reste antikolonialer Bewegungen (Mittelamerika).

Ferner Osten

(China, Korea, Mongolei)

Staatsformen: starke Tendenz zur Stabilisierung und politischen Vereinigung der Bourgeoisie in Form der Einheitspartei durch Beseitigung der kleinbürgerlich-romantischen Schlacke aus der revolutionären Periode (China); an den Imperialismus gebundene bürgerliche Cliquen (Mongolei, Korea, Taiwan).
Bürgerliche Forderungen: ausser denen, die weiter unten für alle Gebiete genannt werden, so gut wie keine, ausser in der Mongolei, in Korea, Taiwan und zweifellos in einigen Gebieten Westchinas.

Südostasien

(Indonesien, Malaysia, Philippinen, Indochinesische Halbinsel)

Staatsformen: grosse Reihe von Formen, von der Militärdiktatur von Cliquen, die vom Imperalismus an die Macht gebracht worden sind und sich auf Kombinationen mehr oder weniger archaischer oder moderner Klassen abstützen (Thailand, Indonesien) bis hin zur Herrschaft der Bourgeoisie in Form der Einheitspartei (Vietnam).
Bürgerliche Forderungen: Bauernrevolten gegen das alte Grundeigentum, das von oben nur ungleich umgewandelt wurde; Revolten gegen die imperialistischen Privilegien und in zweiter Linie Revolten unterdrückter nationaler Minderheiten.

Indischer Subkontinent

(Indien, Sri Lanka, Pakistan, Bangladesch, Afghanistan und verschiedene kleine Staaten)

Staatsformen: vielfältige und noch unstabile Kombinationen aus mehr oder weniger umgewandeltem Grundbesitz, industrieller Mittel bourgeoisie, Finanzgrossbourgeoisie mit halbarchaischen Staatsformen (Himalayastaaten) oder vom Imperialismus an die Macht gebrachten bürgerlichen Cliquen (Afghanistan).
Bürgerliche Forderungen: Revolten gegen den alten Grundbesitz und die Reste der Leibeigenschaft; soziale und politische Gleichheit (Problem der Kasten); Frage der Religion, der Frauen, der nationalen unterdrückten Minderheiten (Nordostindien, Pakistan) in zugespitzter Form; antikoloniale Revolten (Afghanistan).

Naher Osten

(Iran, Türkei, Israel und arabische Länder vom Irak bis Nordafrika)

Staatsformen: Kombinationen bürgerlicher Fraktionen mit beginnender Tendenz zur Stabilisierung und politischen Vereinigung in einigen Ländern, aber auch wichtige Reste alter Klassen in anderen (arabische Halbinsel).
Bürgerliche Forderungen: Revolten gegen die Reste des alten Grundeigentums; Frage der Religion und Weltlichkeit des Staates; Frage der Republik, Gleichheit der Rechte, sehr zugespitzte Religions- und Frauenfrage, Revolte unterdrückter nationaler Minderheiten (Kurdistan) und gegen die Reste direkten Kolonialregimes (Israel).

Südafrika

Staatsformen: Bündnis der Finanzgrossbourgeoisie mit Formen des Bergwerks- und Grundbesitzes, kolonial-sklavenhalterische Verhältnisse benutzend.
Bürgerliche Forderungen: Ausmerzung der Apartheid und der weissen Herrschaft; einheitlicher Staat, Gleichheit der Rechte; Vernichtung der Reste der Sklaverei und der archaischen Stammesverhältnisse usw.

Zentralafrika

(Afrika südlich der Sahara unter Ausschluss Südafrikas)

Staatsformen: Von der kaum verschleierten Kolonialherrschaft bis zu Formen des Bündnisses mit dem Imperialismus, die den alten, lokalen, von oben umgewandelten Kasten und vor allem den entstehenden bürgerlichen Klassen mehr Raum geben.
Bürgerliche Forderungen: Revolten gegen die Reste der Leibeigenschaft und der Kolonialsklaverei, gegen das Gewicht der Stammesprivilegien und die ethnische Ungleichheit; Revolte gegen die Privilegien des Imperialismus und die ganze Reihe mehr oder weniger altertümlicher Herrschaftsformen, für die Befreiung der schwarzen Rasse vom Joch des weissen Imperialismus.

• • •

Diesem kurzen Überblick, der der Arbeit der Partei als Grundlage dienen soll, muss sofort die Forderung nach der Nationalisierung des Grund und Bodens hinzugefügt werden, eine zentrale Forderung für den Agrarbereich und ihres Inhalts wegen authentisch bürgerlich, aber die die bürgerlichen Revolutionen des 20. Jahrhunderts ebenso wenig verwirklicht haben wie die des 19. Jahrhunderts. Und dann müssen wir noch die Forderung nach den politischen Freiheiten hinzufügen, d. h. den Versammlungs-, Vereinigungs-, Presse- usw. -rechten, die theoretisch Teil des Programms der bürgerlichen Demokratie sind, aber die die bürgerlich-revolutionäre Welle des 20. Jahrhunderts im allgemeinen dem Proletariat und den ausgebeuteten städtischen und ländlichen Massen nicht zugestanden hat, im Gegensatz zum 19. Jahrhundert.

Es ist nicht ausgeschlossen, dass die Bourgeoisie zu gegebener Zeit noch einige dieser Forderungen vorbringt, insbesondere die den Staat betreffenden wie die Einführung der Republik oder der politischen Freiheiten. Aber sie würde sie von den anderen abtrennen und ihnen jegliche revolutionäre Schärfe nehmen. Mehr noch, sie begreift sie als blosse Reformen, die gewährt werden, um das Proletariat zu betrügen und dessen Unterstützung für den solcherart demokratisierten Staat zu erlangen, kurz: als ein Instrument für eine weitere Verstärkung ihrer Klassenherrschaft. In jedem Falle macht das Proletariat aus diesen Forderungen, seien sie nun politischer oder sozialer Natur, einen Hebel seiner eigenen revolutionären Befreiung und erwartet ihre vollständige Befriedigung nur von seiner eigenen Klassendiktatur. All diese Forderungen sind von nun an Teil des unmittelbaren Programms der proletarischen Weltrevolution.

Sechzig Jahre nach Baku

Eine ganze geschichtliche Periode geht also in der sozialen Bewegung zu Ende, aber gleichermassen auch im Leben unsrer kleinen Partei, deren Neubildung in den 1950er Jahren mit der Wiederherstellung der Gesamtheit der marxistischen Lehre einschliesslich ihrer historischen Perspektiven einherging. Was den Osten betrifft, musste sie bei der Perspektive anknüpfen, die im Juli 1920 in Moskau definiert und im September desselben Jahres vom Kongress der Ostvölker in Baku vervollständigt worden war.

Die Perspektive damals war »die Vereinigung der hunderte Millionen Bauern des Ostens mit den Proletariern des Westens« für die Zerstörung des Weltimperialismus und die Errichtung der weltweiten Sowjetrepublik.[45] Inzwischen ist die Perspektive die Vereinigung der hunderte Millionen von Proletariern der alten und der neuen Welten, die im Kampf gegen die imperialistischen Festungen und die ganze weltweite Kette der bürgerlichen Staaten die ebenso zahlreichen armen und ausgebeuteten Bauern der beherrschten Kontinente hinter sich ziehen.

Das unmittelbare Ziel ist der proletarische Staat, den man unter den Bedingungen des Jahres 1920, d. h. in einer Epoche, die bis jetzt die höchste Form dieses Staates hervorgebracht hat, »Weltrepublik der Sowjets der Arbeiter und der armen Bauern« genannt hätte. Indessen ist er ein Kampfinstrument in einer revolutionären Übergangsperiode, und so wird er seine organisierende Kraft morgen genausowenig wie gestern aus Verfassungsregeln oder Delegationsmodellen ziehen können, sondern einzig und allein aus seinem Wesen als Klassendiktatur, die dank der ungeteilten Führung durch die kommunistische Weltpartei auf internationaler Ebene zentralisiert sein wird.

Der proletarische Staat wird sich nicht damit zufrieden geben, die alten feudal-patriarchalischen Verhältnisse und die imperialistische Unterdrückung in den beherrschten Kontinenten rasch zu vernichten, Er wird überall all die Sofortmassnahmen ergreifen müssen, die die volle Beteiligung der Proletarier und armen Bauern am Gang der Staatsmaschine sichern sollen, sowie all die sozialen und ökonomischen Massnahmen, die von jeher im proletarischen Arsenal enthalten sind und die breiten Massen dem vom Kapitalismus erzeugten Elend entreissen sollen.

Eine der dringenden Aufgaben wird die despotische Einsetzung eines einheitlichen Weltplans sein, der, die Marktgesetze verletzend, der Gesamtheit der Welt die Gesamtheit der Reichtümer zur Verfügung stellen wird, die heute in einer Handvoll überprivilegierter Länder akkumuliert sind auf Kosten der riesigen Mehrheit der ökonomisch beherrschten Länder. Die ungeheuren Produktionskapazitäten, die die reichen Länder sowohl im landwirtschaftlichen als auch im industriellen Bereich im Besitz haben, werden in dem Dienst der ganzen Menschheit gestellt werden. Das wird der proletarischen Diktatur die Mittel an die Hand geben, die dringendsten Bedürfnisse der notleidenden Massen der armen Länder mit Nahrung und Produkten des täglichen Bedarfs zu befriedigen, lange bevor mit der gewaltsamen Übertragung der heute usurpierten Produktionsmittel die Grundlagen für eine rationelle Organisation der Produktion auf der Ebene des Planeten gelegt werden wird. Diese Aktion wird harmonischer und bewusster werden im Masse, wie der Markt wird verschwinden können und wie die kommunistische Umgestaltung der Gesellschaft vor sich gehen wird.

Anmerkungen:
[prev.] [content] [end]

  1. »Die Nachkriegsperspektiven im Lichte der Parteiplattform« (1946), »Kommunistisches Programm« Nr. 19.[⤒]

  2. Wir nennen hier die wichtigsten mit der zugänglichsten Quelle: »Pour mettre les point sur les i« (1952), »Programme communiste« No. 55;
    »Facteurs de race et de nation dans la théorie marxiste« (Generalversammlung von Triest 1953), Édition Promethée, Paris 1979;
    »Die vielfachen Revolutionen« (Generalversammlung von Genua 1952), »Kommunistisches Programm« Nr. 25/6, S. 36/7;
    »Pression ›raciale‹ sur la paysannerie, pression de classe des peuple de couleur« (1953), »le prolétaire« No. 165;
    »Les luttes de classes et d’États chez les peuples de couleur, champ historique vital pour la critique révolutionnaire« (Generalversammlung von Florenz 1958), »Il Programma Comunista« No. 3–6, 1958;
    »Rapport de la Réunion générale de Turin« (1958), »le prolétaire« No. 166;
    »L’éclatant réveil des ›peuples de couleur‹ dans la vision marxiste« (Generalversammlung von Bologna 1960), »Il Programma Comunista« No. 1 und 2, 1961;
    »La question nationale et coloniale« (Generalversammlung von Paris 1972), »le prolétaire« No. 143.[⤒]

  3. Was China betrifft, siehe besonders den Bericht auf der Generalversammlung von Florenz 1959, auf den schon in Anmerkungen [2] hingewiesen wurde.[⤒]

  4. »Russia e rivoluzione nella teoria marxista«, »Il Programma Comunista« No. 21, 1954, No. 8, 1955 und »Struttura economica e sociale della Russia d’oggi« (1955), Edizione Il Programma Comunista, Mailand 1976.[⤒]

  5. »Die Nachkriegsperspektiven im Lichte der Parteiplattform« (1946), »Kommunistisches Programm« Nr. 19, S. 15.[⤒]

  6. »Die vielfachen Revolutionen« (Generalversammlung von Genua 1952), »Kommunistisches Programm« Nr. 25/6, S. 37.[⤒]

  7. Wir verweisen den Leser auf die berühmte »Ansprache der Zentralbehörde an den Bund« vom März 1850 (MEW, Bd. 7), wo diese Taktik von Marx für das damalige Deutschland genau bestimmt wurde und die Lenin als gewissenhafter Schüler für Russland zu Beginn des Jahrhunderts nur wieder aufgenommen hat.[⤒]

  8. Siehe hierzu »Richtlinien zur Wiederherstellung der marxistischen Lehre« und »Der historische Zyklus der kapitalistischen Wirtschaft« in »Kampf gegen…«, Texte der IKP Nr. 3.[⤒]

  9. Nachdem wir eine Reihe von weniger befriedigenden Begriffen Revue passieren liessen, schrieben wir in »Russia e rivoluzione nella teoria marxista«: »Obwohl uns der Ausdruck ›historisches Feld‹ weniger missfällt, werden wir also den Begriff ›Area‹ (Gebiet) weiter verwenden. Dieser Begriff wurde von den Amerikanern eingeführt, um die Teile der bewohnten Welt zu bezeichnen, die Geltungsbereich einer Volkswirtschaft, einer Währung und eines politischen Einflusses sind. Uns geht es in jedem einzelnen Fall darum, ein bestimmtes geographisches Gebiet mit einer bestimmten Zeitspanne zu verbinden« (op. cit., s. 7).[⤒]

  10. »Leçons des contre-révolutions«, 1951, »Programme communiste« No. 63.[⤒]

  11. Lenin, »Unter fremder Flagge«, LW, Bd. 21, S. 134.[⤒]

  12. Lenin, »Unter fremder Flagge«, LW, Bd. 21, S. 135.[⤒]

  13. Lenin, »Unter fremder Flagge«, LW, Bd. 21, S. 138. Wir verweisen den Leser, der die Frage zu vertiefen wünscht, auf den ganzen Artikel von Lenin.[⤒]

  14. Wir erzählen keine Märchen: »Die eurozentristische Sicht, mit der Marx und Engels das Problem der Kolonien analysierten, bleibt in der Serie der Imperialismustheorien, die in der Folge in der sozialistischen Bewegung heranreiften, fortbestehen, zumindest bis zu den Schriften von Lenin, die vom Beginn des ersten Weltkrieges herrühren. […] Natürlich hütete sich Marx davor, in eine banale Rechtfertigung des Kolonialismus zu verfallen«, schreibt Renato Monteleone in der Einleitung zu Kautskys Schriften, die in dem »La questione coloniale« betitelten Band erschienen sind (Ed. Feltrinelli, Milano 1979). Kurz, es wird zu verstehen gegeben, dass Marx zwar nicht in die »banale« Rechtfertigung des Kolonialismus verfiel, aber dass der Marxismus dennoch nicht ganz von diesem Vorwurf befreit werden könnte. Wir werden in einer nächsten Arbeit auf die Widerlegung dieser lächerlichen und Mode gewordenen Anschuldigung zurückkommen müssen.[⤒]

  15. Lenin, »Unter fremder Flagge«, LW, Bd. 21. Wir müssen auch darauf hinweisen, dass es selbst so grossen Marxisten wie Rosa Luxemburg nicht gelang, diese Art von Irrtum zu überwinden. Sie sah insbesondere im Ende des revolutionären Zyklus’ der Bourgeoisie in Polen nicht nur die Überwindung der »alten Lösung« von Marx für die polnische Frage, sondern geradezu das Ende der nationalen Forderung überhaupt. Diesen Fehler bekämpfte Lenin gegen die grosse revolutionäre Militantin selbst.[⤒]

  16. Wir verweisen den Leser auf den Artikel »Der Marxismus und Russland«, erschienen in »Revolution und Konterrevolution…«, »Texte der Internationalen Kommunistischen Partei« Nr. 2.[⤒]

  17. Wir verweisen den Leser auf den Artikel »Marxisme et sous-développement«, erschienen in »Programme communiste« No. 53/54.[⤒]

  18. Hier kann man besonders nennen »Pour mettre les points sur les i«, »Facteurs de race et de nation dans la théorie marxiste« und »Die vielfachen Revolutionen«, auf die schon in der Anmerkung [2] hingewiesen wurde, oder »Leçons des contre-révolutions«, aufgeführt in Anmerkung [10].[⤒]

  19. »Russia e rivoluzione nella teoria marxista«, op. cit..[⤒]

  20. »Der grosse Fehler bei den Deutschen ist, sich die Revolution als ein über Nacht abzumachendes Ding vorzustellen. In der Tat ist sie ein mehrjähriger Entwicklungsprozess der Massen unter beschleunigenden Umständen. Jede Revolution, die über Nacht abgemacht, beseitigte nur eine schon von vornherein hoffnungslose Reaktion (1830) oder führte unmittelbar zum Gegenteil des Erstrebten (1848 Frankreich).« (Brief von Engels an E. Bernstein, 27. 8. 1883, MEW Bd. 36, S. 55).[⤒]

  21. Zum Abschluss des nationalen Zyklus in Europa siehe den Artikel »Die Rolle der Nation in der Geschichte«, »Kommunistisches Programm« Nr.27, und vor allem »Facteurs de race et de nation dans la théorie marxiste«, op. cit.[⤒]

  22. Selbst in Frankreich nach 1870 schloss der Kampf für die Reformen keineswegs neue »konstitutionelle Revolutionen« aus, zumindest nicht vor 1889. Was Deutschland betrifft, so erwartete Engels noch 1885, dass in der kommenden Revolution, genauso wie 1850, die »reine Demokratie« zuerst den Vordergrund der Bühne einnehmen wird. Er erklärt das besonders in »Zur Geschichte des Bundes der Kommunisten« (MEW, Bd. 21, S. 220).[⤒]

  23. Wir verweisen den Leser auf das berühmte »Erfurter Programm« von 1891 und dessen Kritik durch Engels (»Zur Kritik des sozialdemokratischen Programmentwurfs 1891«, MEW 22).[⤒]

  24. Lenin, »Unter fremder Flagge«, LW, Bd. 21, S. 135.[⤒]

  25. Lenin beschrieb 1912 die chinesische Bourgeoisie und ihren Repräsentanten Sun Yat-sen als eine Klasse, »die aufsteigt und nicht abwärts geht, die die Zukunft nicht fürchtet, sondern an sie glaubt und mit Selbstverleugnung für sie kämpft«. Und er fügte hinzu: »Verfault ist die Bourgeoisie des Westens, vor der schon ihr Totengräber steht – das Proletariat. Aber in Asien existiert noch eine Bourgeoisie, die fähig ist, die ehrliche, streitbare und konsequente Demokratie zu vertreten, eine würdige Gefährtin der grossen Verkünder und grossen Tatmenschen am Ende des 18. Jahrhunderts in Frankreich«. (»Demokratie und Volkstümlerideologie in China«, LW, Bd. 18, S. 154).[⤒]

  26. »Stalin – Malenkow: toppa non tappa«, »Il Programma Comunista« No. 6, 1954.[⤒]

  27. »le prolétaire«, No. 196.[⤒]

  28. »La chimère de l’unité arabe réalisée par l’entente entre les États«, »Il Programma Comunista« No. 10, 1957 und »Les causes historiques du séparatisme arabe«, »Programme Communiste«, No. 4.[⤒]

  29. Siehe besonders den Artikel von Lenin »Die nationale Frage in unserem Programm«, LW, Bd. 6, S. 452–461.[⤒]

  30. Brief an Laura Lafargue, 8. Oktober 1889, MEW, Bd. 37, S. 285.[⤒]

  31. Brief an Laura Lafargue, 8. Oktober 1889, MEW, Bd. 37, S. 284 f.[⤒]

  32. Brief an Laura Lafargue, 29. Oktober 1889, MEW, Bd. 37, S. 295.[⤒]

  33. Brief an Paul Lafargue, 9. Mai 1892, MEW, Bd. 38, S. 345.[⤒]

  34. Brief an Laura Lafargue, 29. Oktober 1889, MEW, Bd. 37, S. 295.[⤒]

  35. Brief an Laura Lafargue, 29. Oktober 1889, MEW, Bd. 37, S. 295.[⤒]

  36. Brief an Laura Lafargue, 29. Oktober 1889, MEW, Bd. 37, S. 295 f.[⤒]

  37. Siehe den mit »Phasen, Prinzipien und Taktik« überschriebenen Abschnitt.[⤒]

  38. Siehe die Artikelreihe »La question des libertés politiques« in den Nummern 6 und 7 unsres zweisprachigen Organs für den Magreb »El Oumami«.[⤒]

  39. Das haben wir insbesondere in den Artikeln »Die Volksfedajin oder die Grenzen des Demokratismus«, »Kommunistisches Programm« Nr: 24, und »Entwicklung und Rolle des kleinbürgerlichen Antiimperialismus am Beispiel der FSLN in Nicaragua«, »Kommunistisches Programm« Nr. 25/26 gezeigt.[⤒]

  40. K. Marx und F. Engels, »Manifest der Kommunistischen Partei«, MEW Bd. 4, S. 474.[⤒]

  41. Im »Courrier des Pays de l’Est« (Nr. 219 vom Juni 1978) kann man folgendes lesen: »Die chinesischen Unternehmen scheinen im Laufe der letzten zwei Jahre auf allen Ebenen schwere Disziplinprobleme gekannt zu haben: Streiks, verschiedene Verschwörungen, Arbeitsunterbrechungen ohne genaue Gründe [sic!], verlangsamtes Arbeitstempo. Die Gegenmassnahmen betrafen Veränderungen auf der Ebene der Führung […], aber auch die Wiedereinführung von Arbeitsregeln und -vorschriften.«[⤒]

  42. Zitiert von François Weiss in »Doctrine et action syndicale en Algérie«, Ed. Cujas, Paris 1970, S. 87.[⤒]

  43. Wir verweisen den Leser besonders auf die Artikel »Izmir – Bonn, Hin und Zurück« in »Proletarier« Nr. 8, April 1980, »Die Parteiaufgaben im Lichte der Entwicklung der historischen Lage« in »Programme communiste« Nr. 12, Januar 1981 und in französischer Sprache »Leçons des luttes ouvrières récentes«, in »le prolétaire« Nr. 312, 1980.[⤒]

  44. Lenin, »Zur Einschätzung der russischen Revolution«, LW, Bd. 15, S. 48.[⤒]

  45. Siehe »Le Premier Congrès des Peuples de l’Orient«, Reprint von François Maspéro, Paris 1971.[⤒]


Source: »Kommunistisches Programm«, 1981, Nr.28, S. 10–29

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