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LENINS SCHRIFT »DER ›LINKE RADIKALISMUS‹, DIE KINDERKRANKHEIT IM KOMMUNISMUS« – DIE VERURTEILUNG DER KÜNFTIGEN RENEGATEN (III)


Seit über hundert Jahren ist diese Schrift das beliebteste Opfer aller opportunistischen Verdrehungen und Verfälschungen. Schon durch die Art und Weise, wie er von dieser Schrift Gebrauch macht, zeigt sich der opportunistische Verräter in seiner ganzen Niederträchtigkeit.


Content:

Lenins Schrift ›linke Radikalismus‹, die Kinderkrankheit im Kommunismus« – die Verurteilung der künftigen Renegaten – Inhaltsverzeichnis und Vorwort
I. Die Szene des weltgeschichtlichen Dramas im Jahre 1920
II. Russische Geschichte oder Weltgeschichte

III. Kardinalsteine des Bolschewismus: Zentralisation und Disziplin
Allgemeingültige Bedingungen
Die Diktatur ist ein Krieg
Solidarität unter den Bourgeoisien
Die soziale Gefahr
Geschichte des Bolschewismus
Die Theorie, erstes Fundament der Partei
Die Entstehung der revolutionären Theorie
Theorie und Aktion
Zwei Grundgedanken Lenins
Die Taktik und die Geschichte
»Letzte Worte« aus dem Westen
Die Linke in Italien
Notes
Source

IV. Hauptetappen in der Geschichte des Bolschewismus
V. Kampf gegen die zwei antibolschewistischen Fronten: den Reformismus und den Anarchismus
VI. Der Schlüssel für die »von Lenin erlaubten Kompromisse«
VII. Anhang zu den italienischen Fragen


Lenins Schrift »Der ›linke Radikalismus‹, die Kinderkrankheit im Kommunismus« – die Verurteilung der künftigen Renegaten

III. Kardinalsteine des Bolschewismus: Zentralisation und Disziplin

Allgemeingültige Bedingungen

Das zweite Kapitel des »Linksradikalismus« behandelt Grundbedingungen des bolschewistischen Erfolgs in der Oktoberrevolution, d. h. Bedingungen, die in allen Ländern Europas erfüllt werden mussten, um die proletarische Machteroberung sicherzustellen. Wir erwähnen Europa, weil 1920 die wahrscheinlichsten Erfolgsaussichten in West- und Mitteleuropa lagen. Die Sache gilt aber für jedes Land, in dem das Proletariat siegen will.

Lenin konnte, während er schrieb, auf zwei geschichtliche Errungenschaften zurückblicken: die Machteroberung im Oktober 1917 und die erfolgreiche Verteidigung dieser Macht vor massiven Angriffen während zweieinhalb Jahre. Seine Worte sind folgende:
»Sicherlich sieht jetzt schon fast jeder, dass die Bolschewiki die Macht keine 2 ½ Monate, geschweige denn 2 ½ Jahre hätten behaupten können ohne die strengste, wahrhaft eiserne Disziplin in unserer Partei, ohne die vollste und grenzenlose Unterstützung der Partei durch die gesamte Masse der Arbeiterklasse, d. h. durch alle denkenden, ehrlichen, selbstlosen, einflussreichen Menschen dieser Klasse, die fähig sind, die rückständigen Schichten zu führen oder mit sich fortzureissen«[33].

Die Rolle der Disziplin wird von vielen Seiten in Misskredit gebracht und negiert. Bevor wir aber Lenin die lebenswichtige Bedeutung der Disziplin in der Partei und in der Klasse weiter erklären lassen, möchten wir einen Absatz zitieren, der kurz danach kommt. In diesem Absatz wird der kommunistische Grundbegriff Disziplin in einem Zuge mit der ebenso wichtigen Zentralisation, diesem Kernstück jeder marxistischen Politik, hervorgehoben:
»Ich wiederhole, die Erfahrungen der siegreichen Diktatur des Proletariats in Russland haben denen, die nicht zu denken verstehen oder nicht in die Lage kamen, über diese Frage nachzudenken, deutlich gezeigt, dass unbedingte Zentralisation und strengste Disziplin des Proletariats eine der Hauptbedingungen für den Sieg über die Bourgeoisie sind«[34].

Lenin wusste, dass viele Zeitgenossen, die sich selbst als »Linke« betrachteten, vor diesen zwei ewigen »sauren Äpfeln« zurückschreckten: der absoluten Zentralisation und der eisernen Disziplin.

Es ist die bürgerliche Ideologie, die in der Kleinbourgeoisie verbreitet ist und von ihr aus mit grosser Gefahr für die Revolution auf das Proletariat übergreift, die den Widerstand gegen diese zwei Grundnormen erzeugt. Lenins klassische Schrift richtet sich gerade gegen diese Gefahr.

Die Bourgeoisie idealisierte ihre historische Aufgabe als Kampf der Freiheit gegen den Despotismus der absoluten Monarchien und die ideologische Unterdrückung durch die Kirche, die blinden Gehorsam verlangte. Jeder einzelne Staatsbürger sollte sich als Wirtschaftssubjekt frei, ohne Kontrolle seitens des zentralen Staates entscheiden und bewegen können; jeder sollte im rhetorischen Geist der bürgerlich-radikalen Gedankenfreiheit erzogen werden. Jede Forderung nach einer Disziplin der Ideen wurde als Rückkehr zur klerikalen Finsternis verworfen.

Der historische Fortschritt der kapitalistischen Produktionsweise bestand in Wirklichkeit darin, die zerstreuten Produktivkräfte zusammenzuballen und die zentrifugal zersplitterte Feudalmacht durch effektiv zentralisierte Staatsapparate zu ersetzen. Das alles lief jedoch unter der Ideologie des laissez-faire, laissez-aller, der selbständigen Privatinitiative und des Wirtschaftsliberalismus. Schon das Wort Zentralisation wurde mit einem Rückschritt auf dem Wege der Freiheit, mit einem Verrat an den Liberalismus assoziiert und verworfen. (Übrigens ist der Anarchismus – im Grunde eine überspitzte Fassung des Liberalismus; sein jahrzehntelanger Einfluss auf einige proletarische Schichten ändert nichts an dieser Tatsache).

Eine der falschen Begründungen für das Misstrauen gegenüber der Parteiorganisation lag gerade darin – die Partei zwingt alle, gleich zu denken: Sie ist also eine Kirche; in der Partei gehen alle Entscheidungen von einem Zentrum aus: Sie ist also eine Kaserne. Seit Jahrzehnten wird unsere Arbeit von solchem gefährlichen Blödsinn gestört. Darin liegt die wirkliche Kinderei, gegen die Lenin entschlossen anging, gegen die aber auch die marxistische Linke, insbesondere in Italien, nicht minder energisch kämpfte. Wohl weniger vorsichtig als der grosse Lenin und deshalb der Ausschlachtung durch Generationen von Philistern und Kettenhunden eher ausgesetzt, haben wir den Genossen immer gesagt: Jawohl, wenn ich in der Partei bin, muss ich meinen eigenen Kopf zurückstecken, muss ich den kitzelnden Zweifel beseitigen; jawohl, wenn ich in der Partei bin, werden meine Handlungen nicht von meinem persönlichen Willen diktiert, sondern vom unpersönlichen Willen der Partei: Sie werden von Notwendigkeiten der Geschichte, die sich vermittels der Partei manifestieren, diktiert.

Eine kollektive Kraft also. Und aus welchem Mikrophon kommen ihre Befehle? Wir haben immer bestritten, diese Frage könne durch eine mechanische und formalistische Regel gelöst werden. Nicht die Mehrheit + 1 hat das Recht, das Mikrophon in die Hand zu nehmen, obwohl wir uns in vielen Lagen auch dieser bürgerlichen Methode bedienen können. Als metaphysische Regel akzeptieren wir die »Stimmenabzählung« innerhalb der Partei, der Gewerkschaft, der Räte und der Klasse nicht: Manchmal wird die im Aufruhr begriffene Masse die entscheidende Stimme haben, manchmal eine einzelne Parteigruppe (wie wir sehen werden, schreckt Lenin vor dem Gebrauch des Wortes »Oligarchie« nicht zurück), manchmal schliesslich ein Einziger, ein Lenin, wie es im April 1917 und selbst im Oktober gegen die Meinung »Aller« der Fall war.

Die Diktatur ist ein Krieg

Unser Materialismus wird durch die Erfahrung bestätigt; wir werden von den Lehren der Geschichte geleitet – erzählt uns Lenin. Der Sieg in Russland war nur möglich, weil dort zwei Grundbedingungen des proletarischen Erfolgs erfüllt worden waren: Disziplin und Zentralisation. Die unbedingte Annahme der Disziplin und der Zentralisation kann im äussersten Fall dazu führen, dass Wenige oder nur ein Einzelner das Sagen haben, während die anderen trotz Mangel an Überzeugung oder Entschlossenheit gehorchen und ausführen. Das stört die revolutionäre Geschichte überhaupt nicht.

»Ich will mit meinem eigenen Kopf denken!« – sagt der typische anarchische Individualist und schleppt lauter schöne Dinge hinter sich her: Zersplitterung, Autonomie, Atomisierung der Produktion und der Gesellschaftsformen. Disziplin, Zentralisation – steht auf dem Parteibuch des Kommunisten, steht wunderschön in Lenins Schrift:
»Die Diktatur des Proletariats ist der aufopferungsvollste und schonungsloseste Krieg der neuen Klasse gegen einen mächtigeren Feind, gegen die Bourgeoisie, deren Widerstand sich durch ihren Sturz (sei es auch nur in einem Lande) verzehnfacht und deren Macht nicht nur in der Stärke des internationalen Kapitals, in der Stärke und Festigkeit internationaler Verbindungen der Bourgeoisie besteht, sondern auch in der Macht der Gewohnheit, in der Stärke der Kleinproduktion. Denn Kleinproduktion gibt es auf der Welt leider noch sehr, sehr viel; die Kleinproduktion aber erzeugt unausgesetzt, täglich, stündlich, elementar und im Massenumfang Kapitalismus und Bourgeoisie. Aus allen diesen Gründen ist die Diktatur des Proletariats notwendig, und der Sieg über die Bourgeoisie ist unmöglich ohne einen langen, hartnäckigen, erbitterten Krieg auf Leben und Tod, einen Krieg, der Ausdauer, Disziplin, Festigkeit, Unbeugsamkeit und einheitlichen Willen erfordert«[35].

Auch auf die Gefahr hin, pedantisch zu wirken, müssen wir uns bei einer Reihe von Begriffen aufhalten, die in diesen Zeilen immer wieder vorkommen, müssen über jeden dieser Begriffe genau nachdenken.

Entgegen der Auffassung der Anarchisten und der »Linksradikalen« ist es mit der Revolution weder im Nu getan, noch weniger ist sie eine einzige Schlacht, der »Kampftag« der alten bürgerlichen Ideologie. Sie ist nur die Einleitung zu einem langen Bürgerkrieg, der Diktatur des Proletariats. Hierfür gibt es Gründe verschiedener Natur: zunächst innenpolitischer oder nationaler, dann internationaler und schliesslich »sozialer« Natur.

Die Macht der Grossbourgeoisie zu stürzen, bedeutet nicht, dass man sie mit einem Schlage gleichzeitig ökonomisch zerschlagen hat, selbst dann nicht, wenn es sich um eine voll monopolistische Bourgeoisie handeln sollte: In diesem Falle wäre nur der anfängliche Sieg leichter und der Krieg kürzer. Die Bedeutung der Diktatur liegt darin, dass von nun an die bürgerlichen Parteien zertrümmert sind, und die Bourgeois weder als Klasse noch als Individuen in dem neuen Staat vertreten werden. Die Bedeutung des Terrors liegt darin, der Bourgeoisie klar zu machen, dass jeder Versuch, sich politisch wieder zu äussern, mit der Ausrottung der betreffenden Personen beantwortet wird. Das heisst aber nicht, die bürgerliche Minderheit sei von jenem Tag an abgeschafft oder verbannt. Wie in Russland während der ersten Jahre nach der Oktoberrevolution, werden viele Unternehmer, freilich unter Kontrolle ihrer Arbeiter, oder besser des proletarischen Staates, die Leitung von Betrieben beibehalten. Damit sind grosse Gefahren verbunden; eine noch grössere Gefahr würde jedoch in einem totalen Stillstand der Produktion liegen, denn die Illusion der Anarchisten, alles wäre mit dem berühmten »Kampftag« erledigt und die Produktion würde von nun an dank der spontanen Initiative der Produzenten weiterlaufen, lässt sich nicht verwirklichen.

Lenins Ausführungen sind kristallklar und schrecken nicht vor dem Vorwurf der Paradoxie zurück. Die Bourgeoisie ist politisch gestürzt, aber noch mächtiger geworden. Aus vielerlei Gründen, die wir geduldig der Reihe nach verfolgen werden, hat sich ihr Widerstand verzehnfacht! Sie kann noch z. B. die Produktion einer Munitionsfabrik sabotieren und dadurch die Niederlage an einer Front, an der man gegen andere nationale Bourgeoisien kämpft, verursachen. Das Erschiessungskommando des Betriebes wird bereitstehen und die Sache erledigen. Dafür genügen ein paar Kugeln, aber das wird unter Umständen nicht verhindern, dass eine ganze Abteilung der Roten Armee in Nachschubschwierigkeiten steckt.

Auch nachdem man die Bourgeoisie politisch entmachtet hat, bleibt sie aus Gründen der Produktion (sowohl von Lebensmitteln als auch von Waffen) gefährlich, solange man sie nicht völlig aus allen Funktionen in der Leitung und technischen Koordinierung der Produktion entfernen kann.

Solidarität unter den Bourgeoisien

Dann kommt die schwierige internationale Frage. Wir können nicht davon ausgehen, dass die Bourgeoisie simultan in verschiedenen kapitalistischen Staaten aus der Macht verjagt wird. Dies wäre Selbstbetrug und würde ausserdem direkt in die Falle der Sozialdemokraten führen, die bekanntlich der Ansicht waren, man müsse von der »Machteroberung in einem einzigen Land« Abstand nehmen. In Wirklichkeit darf man gerade diese Chance nicht verpassen, denn anders kann die Weltrevolution historisch nicht anfangen. Wir werden nach wie vor den schwächsten bürgerlichen Staat als ersten stürzen müssen. 1917 war der sehr junge russische Staat, der eben aus dem Sturz der Feudalordnung hervorgegangen war, in dieser Lage.

Das, was wir bei Lenin soeben in Klammern gelesen haben, bedeutet, dass für uns vom Standpunkt der »siegreichen Diktatur des Proletariats« der ungünstigste Fall der ist, in dem die anderen Staaten weiterhin in den Händen der Bourgeoisie sind. Sollten innerhalb einer gegebenen historischen Periode einige andere Nachbarstaaten gestürzt werden, so würde sich die Lage der ersten siegreichen kommunistischen Diktatur erheblich verbessern; Diese Erwägungen können heute abstrakt erscheinen, damals waren sie aber nahe daran, sich zu verwirklichen. Im Januar 1919 hatten die Spartakisten in Deutschland heldenhaft versucht, die Revolution zum Sieg zu führen, und wir alle hatten erwartet, sie würden es schaffen. Ebenfalls 1919 fielen wir in Ungarn, nachdem wir den Sieg errungen hatten: und wir fielen durch Fehler, die hätten vermieden werden können (Bedenken anarcho-demokratischer Natur in der Anwendung der Diktatur). Kurz darauf geschah etwas Ähnliches in Bayern. Diese schrecklichen Augenblicke standen damals lebendig vor den Augen aller Europäer, und Lenins Worte müssen vor diesem Hintergrund verstanden werden: Sollte man weiterhin vor dem Zuschlagen und der Aktion zögern, so wären weitere Misserfolge zu befürchten. Man darf nicht vergessen, dass 1920 der russisch-polnische Krieg geführt wurde. Während des I. Weltkongresses war die Rote Armee in der Nähe von Warschau. Nach der Niederlage Deutschlands und Österreichs im I. Weltkrieg hatten sich unverzüglich verschiedene Staaten in Mitteleuropa gebildet, die wie ein Trennungspuffer zwischen dem roten Russland und den Festungen von Berlin, Budapest und München fungierten. Deshalb war Russland nicht in der Lage gewesen, diesen Kommunen zu Hilfe zu eilen. Die Eroberung von Warschau, und sei es durch eine rein militärische Operation, hätte in Anbetracht der Kraft des polnischen Proletariats und seiner kommunistischen Partei das Programm der Eroberung Mittel- und Westeuropas mit geschichtlichem Leben erfüllt. Die gescheite französische Bourgeoisie hat jedoch ihre polnische Schwester, die am Rande des Zusammenbruchs stand, mit allen Mitteln und mit »heldenhaften« Generälen unterstützt, und die revolutionäre Welle konnte zurückgehalten werden. (Die Polemik zwischen Trotzki und Stalin über die unheilbringende Ablenkung des russischen Angriffs von Warschau, d. h. vom entscheidenden Ziel, sind bekannt. Ein falsches Telegramm kann den Kurs der Geschichte für Jahrzehnte ändern).

Lenin musste in seiner Schrift also darauf hinweisen, dass die russische Revolution, die als einzige einen bürgerlichen Staat gestürzt hatte, sich auf keine ausländische Hilfe hatte stützen können; dass die erste proletarische Diktatur ihren Kampf unter den ungünstigsten Bedingungen fortsetzen musste, weil die internationale Macht des Kapitals, die Festigkeit der internationalen Verbindungen der Bourgeoisie, kurzum das internationale Kräfteverhältnis die Bourgeoisie begünstigte, wofür wir oben ein Beispiel gaben.

Bevor wir zur lebenswichtigen sozialen Frage übergehen – die ohne die energischste Disziplin und Zentralisation der Diktatur nicht zu lösen ist –, möchten wir kurz auf den radikalen Unterschied eingehen, der zwischen Lenins Auffassungen und Politik einerseits und der ekelhaften »Nichteinmischung in die inneren Angelegenheiten der ausländischen Staaten mit unterschiedlicher Gesellschaftsordnung« andererseits besteht.

Lenin und alle revolutionären Kommunisten der Gründungsjahre der III. Internationale konzentrierten ihre ganzen Anstrengungen darauf, die proletarische Macht in Russland und vor allem die grossartigen Lehren, die sie in Bestätigung der Richtigkeit der marxistischen Theorie hervorgebracht hatte, als Hebel zu benutzen, um auf das innere Gleichgewicht der »anderen Länder« einzuwirken, um dieses Gleichgewicht zu sprengen, um die innere Verfassung dieser Länder zu zerreissen. In seiner Broschüre bespricht Lenin die Mittel, trifft eine Auswahl, lehrt uns, dass es metaphysisch-aprioristisch und antimarxistisch wäre, gewisse Mittel auszuklammern, weil sie hässlich, unsympathisch, unsauber oder wenig elegant seien, wie es viele kinderkranke Linksradikale taten. Zunächst muss man aber die Zielsetzung begreifen. Lenin zufolge kann die Aktion im Parlament unter gegebenen Umständen dazu beitragen, das nationale Gleichgewicht zu stören und die bürgerliche Verfassung in die Luft zu sprengen. A priori gibt es keine Gründe dafür, eine konkrete Erwägung dieser Möglichkeit abzulehnen; man kann darüber hinaus nicht einmal ausschliessen, dass in der Geschichte Situationen eintreten, wo die Antwort positiv ausfallen kann. Wenn man aber ins Parlament hineingeht, um die Verfassungsordnung zu respektieren bzw. zu verteidigen und um die Massen dazu aufzufordern, diesem, Beispiel zu folgen, dann stellt sich Lenins Frage gar nicht mehr, weil seine Zielsetzung auf den Kopf gestellt und verraten wurde.

Wir sind noch nicht dabei, die Parlamentarismusfrage zu behandeln; das wird zu seiner Zeit kommen. Auf jeden Fall: Um das Parlament so schnell wie möglich zu zerstören, sollen wir es von innen und/oder von aussen angreifen? So lautete die Frage, und wir waren über Lenins Lösung so erstaunt, wie er über unsere. Wenn aber Leute gekommen wären, um uns zu erzählen, man müsse im Gegenteil die innere Ordnung und die demokratische Verfassung Italiens oder eines x-beliebigen anderen Landes respektieren, dann hätte Lenin mit uns Kleinen um die Wette auf diese Verräterbande geschossen.

Weiter. Die Auffassung, auch nach dem Sieg der proletarischen Diktatur bleibe die Bourgeoisie ein mächtiger Feind, wird von Lenin an anderer Stelle, dort, wo er die »Kompromisse« behandelt, fast wortwörtlich wiederholt:
»Nach der ersten sozialistischen Revolution des Proletariats, nach dem Sturz der Bourgeoisie in einem Lande, bleibt das Proletariat dieses Landes lange Zeit schwächer als die Bourgeoisie, schon allein wegen der ungeheuren internationalen Verbindungen der Bourgeoisie, dann aber auch infolge der elementar und ständig vor sich gehenden Wiederherstellung, Wiederbelebung des Kapitalismus und der Bourgeoisie durch die kleinen Warenproduzenten des Landes, das die Bourgeoisie gestürzt hat«[36].

Daraus folgert die supermoderne Verräterbande, gerade Lenin hätte eine Theorie erfunden, derzufolge das Proletariat eines solchen Landes sich schwer davor hüten müsse, die Revolution in den anderen Ländern zu »stimulieren«: Es müsse vielmehr diese anderen durch und durch kapitalistischen Länder dazu auffordern, im Frieden zu leben. Die Verräter haben es insofern leicht, als von den zwei Entwicklungsmöglichkeiten, die Lenin vor vierzig Jahren genau vorzeichnete, gerade die ungünstige (für uns!) Wirklichkeit wurde. Die günstigste Entwicklungsmöglichkeit war die der internationalen Ausbreitung der Revolution: Das Land, in dem das Proletariat politisch gesiegt hat, schafft es, in vielen anderen Ländern der Revolution zum Ausbruch zu verhelfen, wodurch sich sein eigenes Proletariat gegen die inneren Widerstände stärkt. Wenn dieses Land – 2. Möglichkeit, die von Stalin verwirklicht wurde – im Gegenteil darauf verzichtet, die internationale Revolution zu stimulieren, ist es der »elementar und ständig vor sich gehenden Wiederherstellung, Wiederbelebung des Kapitalismus und der Bourgeoisie durch die kleinen Warenproduzenten« in seinem Inneren ausgeliefert, die internationale Bourgeoisie hat die Partie gewonnen. Dieses Land wird dann mit der internationalen Bourgeoisie in Klassenfrieden zusammenleben (und sei es zunächst, ohne sich dessen bewusst zu sein) und sehr bald mit ihr Bündnisse eingehen… und die Tradition des Oktober sowie Lenins Theorie aufs niederträchtigste verraten.

Wir revolutionären Kommunisten haben den Klassenkrieg verloren. Sogar die Befürchtung, die die kommunistische Linke selbst Lenin gegenüber ohne Erfolg ausgesprochen hatte, unsere internationale Parteiorganisation könnte zusammenbrechen, ging leider in Erfüllung. Die Richtigkeit unserer Theorie hat sich aber bewahrheitet. So bleiben Lenin und seine Geschichtsauffassung hoch oben, unantastbar, während die Leute, die sich heute als Leninisten ausgeben, im tiefsten Sumpf stecken.

Die soziale Gefahr

Das kommunistische Proletariat hat den Sieg errungen, und seine Partei führt die Diktatur mit eiserner Faust. Abgesehen von der Gefahr, die selbst nach siegreich geführtem Bürgerkrieg vom Ausland her droht, muss man mit einer inneren Gefahr fertig werden, die Lenin eindeutig kennzeichnete: die kleine Warenproduktion.

Vom marxistischen Standpunkt aus ist die kleine Warenproduktion vor und nach der Revolution gefährlicher als der Grosskapitalismus. Andererseits müssen die Kommunisten die Illusionen der Kleinbourgeoisie bekämpfen, sie müssen ihr zeigen, warum und wie ihre Lebensgrundlagen massenhaft vernichtet werden; diesen Prozess selbst können sie aber weder verhindern noch bekämpfen. Unzählige Male haben wir die wichtige Bedeutung dieser These, die im Werke von Marx und Engels wiederholt auftritt, hervorgehoben.

Bei Lenin erreicht die marxistische Dialektik ihren Höhepunkt, und es ist nicht leicht, ihm zu folgen. (Allerdings haben ihn die Renegaten nicht aus Unkenntnis, sondern absichtlich verraten). Das italienische Wort carogna (mit diesem Ausdruck werden die Opportunisten im Text fast durchweg bezeichnet; wir haben es mit Verräter bzw. »carogname« mit Verräterbande und »carogneria« mit Verrat übersetzt, Anm. d. Übers.) bezeichnet im ursprünglichen Sinne das Aas. Wir können das Aas nicht dafür verantwortlich machen, dass es stinkt, denn das Tier kann dem nicht wie die Menschen durch den simpelsten Brauch und Mythos, durch die Bestattung, abhelfen. Als gute Gäste unserer einheimischen Gefängnisse benutzen wir das Wort in einem übertragenen Sinne. Im allgemeinen verachtet der einsitzende Verbrecher nicht den anderen Verbrecher, geht nicht mit einem moralischen Massstab an ihn heran, sondern sieht in ihm aus Instinkt einen Leidensgefährten. Eine Kategorie wird aber ausgeschlossen: die »carogne«, d. h. die Spitzel, die Denunzianten, die mit der Alle unterdrückenden Haftanstalt zusammenarbeiten und für ein stinkendes Geld das Leben ihrer Genossen noch bitterer machen.

Kommen wir auf den zitierten Passus aus Lenins Broschüre zurück. Man wird festgestellt haben, dass die Bezeichnung kleiner Warenproduzent soviel wie Bestandteil der nichtproletarischen werktätigen Massen bedeutet. Diese gesellschaftliche Schicht umfasst die besitzenden Kleinbauern, die städtischen Handwerker und verwandte Formen. Lenin vertritt die Auffassung, dass das Proletariat diese Schichten für ein Bündnis gewinnen soll, und zwar nicht nur für den Kampf gegen den Zarismus, sondern auch für den darauffolgenden Kampf gegen die kapitalistische Industrie- und Agrarbourgeoisie. Gleichzeitig erkennt Lenin in diesen unreinen Gesellschaftsschichten, die es in Russland und gleichwohl in verschiedenem, aber immer bedeutendem Masse in vielen anderen europäischen Ländern gibt, die grösste Gefahr für die Festigung der proletarischen Diktatur. Solange die Gesellschaft in ihrer Umgestaltungsphase gezwungen ist, die Wirtschaftsform der kleinen landwirtschaftlichen und handwerklerischen Warenproduktion zu tolerieren, wird diese einen Nährboden darstellen, der – um Lenins Worte zu gebrauchen – täglich und stündlich, spontan und ständig Kapitalismus und Bourgeoisie wieder erzeugt.

Wie kann die kommunistische Diktatur diese kapitalistische Frischzellenkur verhindern? Bestimmt nicht durch die Ausrottung der Bauern, Handwerker und kleinen Warenproduzenten im allgemeinen, die in gewissen Ländern das Proletariat zahlenmässig sogar überwiegen. Selbst auf die Industriebourgeoisie wird man für geraume Zeit aus Produktionsgründen nicht verzichten können und sie demzufolge auch nicht ganz einfach physisch ausrotten, ins Gefängnis stecken oder verbannen können; um so mehr und um so länger gilt das für die angesprochenen Zwischenschichten. Während man das Privateigentum über die Grossunternehmen ziemlich schnell wird abschaffen können, wird man es in dem Bereich dieser winzigen (und nicht nur winzigen) Betriebe noch lange tolerieren müssen. In unseren verschiedenen Untersuchungen über die russische Gesellschaftsstruktur haben wir über die Dauer dieser Phasen alles gesagt. Wir konnten in diesem Zusammenhang auch klären, dass Stalins angebliche Kollektivierung bzw. die Ausrottung der Kulaken oder reichen Bauern (1928) nichts mit einer »Kürzung« einer solche Phase zu tun hatte. Siehe diesbezüglich »Dialogato coi Morti« (1956), »L’économie russe de la révolution d’Octobre à nos jours« (1963) und die Reihe, die seit dem Sommer dieses Jahres (1960) in »Il Programma Comunista« veröffentlicht wird[37].

Wie wollte Lenin sie dann bekämpfen, diese äusserst ernste Gefahr, die aus der »Koexistenz« (hier ist das Wort am Platze) des Proletariats mit den Trägern der kleinen Warenproduktion hervorgeht? Zunächst vermittels ausschliesslich politischer und parteimässiger Massnahmen, im Klartext vermittels Disziplin und Zentralisation. Die Bolschewiki sind aus einem kolossalen »Manöver« als Sieger hervorgegangen: Sie haben den Hass der Bauernschaft und einiger Schichten der werktätigen Kleinbourgeoisie gegen den Zarismus und die russische Bourgeoisie, die bis vor kurzem mit dem Zarismus verbündet gewesen war, ausgenützt und dabei die Hegemonie des Proletariats über diese Zwischenschichten, seine Führungsrolle, sichergestellt; sie haben die Führung der ganzen revolutionären Bewegung an ihre Partei gerissen, die Träger einer nicht- marxistischen und nichtproletarischen Auffassung der russischen Revolution, nämlich die politischen Repräsentanten jener Schichten, wie die menschewistische sozialdemokratische Partei und die volkstümlerische sozialrevolutionäre Partei in den Sog der Revolution gerissen und nach und nach liquidiert. Wie wäre das alles möglich gewesen, wenn sich die Bolschewiki nicht rechtzeitig die äusserste Disziplin und Zentralisation angeeignet hätten?

Wenn man klar redet, so bedeuten Zentralisation und Disziplin im Grunde ohne Zweifel eine eindeutige Unterordnung. Die Klassen der kleinen Produzenten werden dem Proletariat untergeordnet, das Proletariat ist die herrschende Klasse in der Revolution. Wenn Lenin von Disziplin in der Partei und auch im Proletariat redet, so meint er, dass die ganze proletarische Klasse sich der Führung durch ihre Avantgarde, die in der kommunistischen Partei organisiert ist, unterordnet.

Diese Spitzenstellung der Partei war mit den infantilen Vorurteilen, die Lenin im »Linksradikalismus« bekämpfte, nicht zu vereinbaren. Die »Spontaneisten«, die wir in Italien und im Ausland, damals, heute und immer bekämpfen, möchten die Richtlinien der Partei aus einem System der Befragung des Proletariats hervorgehen lassen, sie möchten den Gehorsam gegenüber diesen Richtlinien doch irgendwie demokratisch und parlamentarisch legitimieren. Wir hingegen behaupten, dass die Partei als einziges Organ, das die ganze revolutionäre Erfahrung aller Zeiten und aller Länder in sich zusammenfasst, von der Klasse und von den Massen diesen Gehorsam verlangen muss. Lenin weist in seiner Broschüre nach, dass die bolschewistische Partei dazu in der Lage gewesen ist; deshalb siegte sie, deshalb zeichnete sie allen Ländern diesen Weg vor.

Geschichte des Bolschewismus

Wie konnten die Bolschewiki die für das revolutionäre Proletariat notwendige Disziplin schaffen? Lenin verweist auf die Geschichte der bolschewistischen Partei als unentbehrliche Grundlage, um auf diese Frage antworten zu können. Die Ereignisse jenes Kampfjahres 1920 liessen ihm natürlich keine Zeit, eine vollständige Geschichte des Bolschewismus zu schreiben; die Hinweise, die er uns liefert, reichen jedoch vollkommen aus, um die Frage zu verstehen.

Die Grundlagen der Disziplin liegen zunächst im »Klassenbewusstsein der proletarischen Avantgarde«, d. h. jener Minderheit des Proletariats, die sich in der Parteivorhut organisiert. Dem folgt eine Aufzählung der Eigenschaften dieser Avantgarde. Lenin benutzt hierfür Ausdrücke eher »leidenschaftlichen« als rationalen Charakters und zeigt somit wieder, was in vielen anderen seiner Schriften (»Was tun?«, z. B.) hervorgehoben wurde: Der kommunistische Proletarier tritt der Partei aus Intuition und nicht aus rationalistischen Gründen bei. In dem Kampf zwischen »Kulturalisten« und »Antikulturalisten« (so hat man sie damals genannt), der 1912 in der Sozialistischen Jugend Italiens entbrannte, vertraten die Antikulturalisten gerade diese These gegen die Spontaneisten (letztere sind, wie die Anarchisten, immer Aufklärungsfetischisten): Mit ihrer Behauptung, dass der Parteibeitritt der jungen Revolutionäre eine Glaubens- und Gefühlssache ist, und nicht eine Sache der Schulbildung, standen sie auf dem Boden einer streng materialistischen Auffassung und einer rigorosen Verteidigung der Parteitheorie[38]. Lenin, der dabei war, Mitgliederkarteien und nicht Akademien zu eröffnen, spricht im zitierten Passus von »Ergebenheit«, »Ausdauer«, »Selbstaufopferung«, »Heroismus«. Wir, seine damals jungen Schüler, haben vor kurzem mit dialektischer Entschlossenheit gewagt, ausdrücklich von einem »mystischen« Etwas im Parteibeitritt zu reden.

Dies zunächst. Zum zweiten fordert Lenin von dieser Avantgarde:
»…die Fähigkeit, sich mit den breitesten Massen der Werktätigen, in erster Linie mit den proletarischen, aber auch mit den nichtproletarischen werktätigen Massen zu verbinden, sich ihnen anzunähern, ja, wenn man will, sich bis zu einem gewissen Grade mit ihnen zu verschmelzen«[39].

Sich verbinden heisst allerdings nicht, dass die Partei, wenn die »Temperatur« der Massen kalt, pazifistisch, versöhnlerisch ist, auf dieses Niveau hinabsteigen muss: Das ist die Lesart der opportunistischen Biedermänner. Der Sinn der Verbindung liegt gerade darin, durch die »Verschmelzung« der Partei mit den Massen die revolutionäre Temperatur der letzteren zu erhöhen.

Bereits die Abgrenzung der proletarischen Klasse gegenüber der schwammigen »werktätigen Masse« (die mit Kleinbourgeoisie infiziert ist) ist erst durch die »Organisation zur politischen Partei« möglich (wir benutzen die Formulierung dauernd, sie ist aber keine Erfindung von uns). Ohne politische Partei, vor der Entstehung der Partei, gibt es keine wirkliche proletarische Klasse als Subjekt der Geschichte und (in der Perspektive) der revolutionären Diktatur.

Der dritte Punkt ist aber von ausschlaggebender Bedeutung, denn er erhellt die anderen beiden und bildet mit ihnen einen untrennbaren Zusammenhang:
»Drittens durch die Richtigkeit der politischen Führung, die von dieser Avantgarde verwirklicht wird, durch die Richtigkeit ihrer politischen Strategie und Taktik, unter der Bedingung, dass sich die breitesten Massen durch eigene Erfahrung von dieser Richtigkeit überzeugen«[40].

Hier liegt ein wahrer Knotenpunkt. Wir werden ihn »Theorie der Richtigkeit« nennen. Wenn die Massen sich durch ihre eigene Erfahrung im realen Klassenkampf von der Richtigkeit der Strategie der revolutionären Partei des Proletariats überzeugen müssen, so heisst das, dass die Partei den Massen auf dem Weg der Geschichte vorangehen muss.

Dank ihrer Geschichtsauffassung, ihrer Einsicht in die bisherige Entwicklung der Produktionsformen und der Klassenkämpfe, ist die Partei in der Lage, auch die weitere Entwicklung des Klassenkampfes in ihren Grundzügen vorauszusehen. Sie kann im voraus sagen, warum und unter welchen Umständen eine revolutionäre Situation eintreten und die Massen in Bewegung setzen wird, welche Klasse imstande sein wird, sich mit einer richtigen Theorie und einer Partei zu bewaffnen bzw. in diesen Kämpfen die Hauptrolle zu spielen. Wenn sich die Vorhersagen der Partei erfüllen, werden auch jene Teile der Massen, deren Konturen verschwommener sind, in der Praxis erfahren können, wie sich der entschlossenste Teil für den Kampf organisiert hat, sie werden durch Erfahrung lernen, dass gerade jene Partei die Ereignisse richtig vorhersagt und die Rolle der verschiedenen Kräfte im allgemeinen Kampf richtig eingeschätzt hat. Lenin zeigt, wie die russischen Bauern seit 1905 einsehen mussten, dass das Industrieproletariat die führende Kraft des Kampfes war. Die Parteien, die die unhaltbare Auffassung vertraten, derzufolge die Bauern und im allgemeinen die kleinen Produzenten die vorherrschende Klasse der Revolution darstellen würden, konnten nur Schiffbruch erleiden und zurückgedrängt werden. Die Haltung dieser volkstümlerischen Strömung und ihre theoretischen Abirrungen lassen sich bis auf den alten Proudhon zurückverfolgen (heute treten sie in der letzten Welle des modernen Opportunismus Moskauer Observanz in krassester Form auf). Die Bauern haben gelernt, dass sie selbst im Kampf um die Befreiung vom Feudalismus nur siegen könnten, wenn an ihrer Spitze die unvergleichlich kämpferischeren Arbeiter mit ihrer bolschewistischen Partei marschierten. Indessen hatten dieselben Ereignisse die Menschewiki entlarvt, den kleinen Produzenten gezeigt, dass die polemischen Vorwürfe der Bolschewiki, jene Partei handelte als Verbündeter des Grosskapitals und selbst der Konterrevolution, den Tatsachen entsprachen.

Hier liegt ein praktisches Beispiel dafür, wie die grossen Massen durch ihre Erfahrung feststellen, dass die politische Strategie der revolutionären Partei des Proletariats richtig ist.

Dieses Zusammenspiel von günstigen Bedingungen war nur möglich, weil die Partei es in ihrer Propaganda und Vorbereitung vorweggenommen hatte, anstatt, wie die Parteien der Kleinbourgeoisie, darauf zu warten, woher der Wind wehen würde, bzw. mit immer neuer Pose zu versuchen, um die Gunst der Massen zu werben.

Die Theorie der Partei kann sich nicht auf eine wissenschaftliche Erklärung vergangener Ereignisse beschränken; sie muss im Gegenteil eine mutige Vorhersage der zukünftigen Entwicklung beinhalten. Die Massen werden sich durch Erfahrung überzeugen, es ist aber zulässig zu sagen, dass die Partei diese Erfahrung im voraus verkörpert.

Die Theorie, erstes Fundament der Partei

Lenin hat im »Linksradikalismus« doch geschrieben, die Theorie sei kein Dogma – versuchen Stalinisten und Nachfolger ihre schmutzigen Tiraden gegen die »Dogmatiker« und »Talmudisten« zu rechtfertigen. In ihrer bornierten Auffassung bedeutet dieser Satz, dass die Partei ständig willens und bereit sein muss, ihre Theorie zu ändern und durch neue Fabrikate zu ersetzen.

Der Erklärung der von uns soeben ausführlich illustrierten Bedingungen für den Erfolg der bolschewistischen Partei bei der Schaffung und Sicherung einer wahren Disziplin und Zentralisation folgt bei Lenin der Passus:
»Diese Bedingungen können andererseits nicht auf einmal entstehen«.
(Eine kurze Unterbrechung ist hier notwendig. Auch die Partei ist also ein Produkt der Geschichte. Gerade darin lag der Kern der Argumente der italienischen Linke bei allen Diskussionen, die innerhalb der Internationale über die Aufgabe und Taktik der Partei stattfanden. Man denke andererseits an jene umherirrenden Geister, die sich Marxisten wähnen und vorschlagen: Organisieren wir eine Diskussionsrunde, um die vollkommene, disziplinierte und zentralisierte Partei zu gründen!)
»Sie werden nur durch langes Bemühen, durch harte Erfahrung erarbeitet (dazu gehört die Erfahrung des opportunistischen Verrats, IKP); ihre Erarbeitung wird erleichtert durch die richtige revolutionäre Theorie, die ihrerseits kein Dogma ist, sondern nur in engem Zusammenhang mit der Praxis einer wirklichen Massenbewegung und einer wirklich revolutionären Bewegung endgültige Gestalt annimmt«[41].

Die Opportunisten, die entweder von Lenin nichts begriffen haben, oder auch oft vortäuschen, nichts begriffen zu haben, legen diesen Passus in der bekannten Art aus: Die Theorie ist nie fertig, sie ist in ständiger Verwandlung begriffen, die wissenschaftliche Ausarbeitung einer Theorie der antikapitalistischen Revolution wird erst dann möglich sein, wenn die ganze Reihe der proletarischen Revolutionen vollständig abgeschlossen sein wird. Diese Auffassung ist nicht nur falsch; sie verfolgt und erreicht vielmehr ein Ergebnis, das den Zielsetzungen, die sich Lenin bei der Niederschrift dieses berühmten »Linksradikalismus« vorgesetzt hatte, diametral entgegensteht. Die Gedankengänge der Verräter sehen in der Tat so aus: Die Revolution, die Lenin und die Bolschewiki in Russland führten, hatte bestimmte Charakteristiken, die Geschichte wird aber zeigen, dass die anderen »nationalen« Revolutionen jener Charakterzüge entbehren werden, dass sie ohne bewaffneten Aufstand, ohne Diktatur, ohne Terror, ohne Auseinanderjagung des demokratischen und gesetzgebenden Parlaments durch die Sowjetmacht und die kommunistische Partei vor sich gehen werden. Lenin seinerseits wollte im Gegenteil beweisen, dass die russische Revolution die sozialdemokratische Auffassung vom Übergang vom Kapitalismus zum Sozialismus endgültig zertrümmert hatte; er wollte zeigen, dass die genannten »russischen« Charakteristiken für alle Länder obligatorisch sind. Die »rechten« Verräter, die den I. imperialistischen Weltkrieg unterstützt hatten, waren restlos erledigt, oder mindestens waren wir damals alle dieser Ansicht. Mit den Linksradikalen musste sich Lenin befassen. Diese sagten zwar nicht: Wir können bei den anderen Revolutionen den bewaffneten und blutigen Kampf, um die bestehende Macht zu stürzen, vermeiden, wir können uns einen solchen Kampf ersparen. So weit gingen sie im Gegenteil zu den heutigen Verrätern nicht. Sie tasteten sich aber heran: Können wir uns nicht mindestens eine solche Partei ersparen, die den Meinungsstreit erstickt, alles zentralisiert, die Ergebnisse von freien Wahlen mit Füssen tritt usw.?

Bei seiner geschichtlichen Untersuchung des bolschewistischen Weges zur Revolution war Lenin von zwei wichtigen Tatsachen ausgegangen: der Disziplin und der Zentralisation. Dann zeigte er die Bedingungen auf, die zur Schaffung und Sicherung dieser Disziplin und Zentralisation führten: Verbindung mit den von der Geschichte in eine revolutionäre Bewegung getriebenen Massen, leidenschaftliche Ergebenheit der Avantgardepartei für die Revolution, Richtigkeit der Strategie und Taktik. Fehlen diese Bedingungen, so sagt er, dann gibt es auch keine wirkliche Disziplin und Zentralisation, und die revolutionäre Macht, selbst wenn sie überhaupt erobert wird, bricht in der Folge wieder zusammen. Lenin zählt dann die Bedingungen der günstigen Bedingungen auf: eine lange Vorbereitungs- und Entwicklungszeit, die Erarbeitung einer langen Erfahrung, die durch die richtige revolutionäre Theorie erleichtert wird (das Zeitwort kann schwach erscheinen, der Sinn ist aber: allein ermöglicht wird).

Bei Lenin geht es hier nicht um Behauptungen, sondern um Beweisführungen, und er beweist nicht philosophierend, sondern durch die Darlegung von Tatsachen. Er wird uns sofort erklären, wie und warum die bolschewistische Partei als einzige in Russland dazu gelangt ist, sich die richtige revolutionäre Theorie und somit die unerlässliche Disziplin und Zentralisation anzueignen. Lenin wird natürlich nicht schreiben: Ich habe die Theorie vor dreissig Jahren verkündet und deshalb habe ich die Revolution »gemacht«; denn es ist mir gelungen, bei so vielen anderen und schliesslich bei den auf Erleuchtung wartenden Massen selbst den Glauben an diese Theorie zu erwecken. In diesem Sinne ist die Theorie kein Dogma. Wir unterschreiben Lenins Satz und denken nicht einmal im Traum daran, ihn durch den Satz zu ersetzen: Die Parteitheorie ist ein Dogma. Wenn man aber jenen Satz so verstehen sollte, dass die heute unbekannten Ereignisse der Zukunft uns dazu verleiten können, morgen eine andere x-beliebige Theorie zu vertreten, dann behaupten wir, dies ist Opportunismus reinsten Wassers und kein Leninismus, dann ziehen wir einer solchen prostituierten Formel ohne weiteres die andere vor: die Parteitheorie muss man wie ein Dogma akzeptieren.

Was bedeutet Dogma? Im eigentlichen Sinne des Wortes die Wahrheit, die von einem übernatürlichen Wesen oder einem von Gott auserwählten Propheten offenbart wird. Die anderen Menschen können sie nur erkennen, wenn sie bereit sind, sie zu wiederholen und zu respektieren. Insofern sind wir auf der Gegenseite jedes Dogmatismus, und es ist schliesslich sogar Zeitverlust, darauf hinzuweisen. Selbst die Bourgeois brüsteten sich in der historischen Phase, in der sie revolutionär waren und die Kirchen die feudale Ordnung unterstützten, damit, jeden Dogmatismus überwunden zu haben. Der marxistische Antidogmatismus ist jedoch grundverschieden von dem bürgerlichen. Die bürgerliche Philosophie stellte dem religiösen Dogma das Prinzip der individuellen Freiheit der Kritik entgegen. Damit schmückt sich der typische Kleinbürger und rühmt sich, er akzeptiere nicht, dass der Pfaffe aufgrund einer kleinen, vorgefertigten Kirchendoktrin für ihn denke, er denke statt dessen mit seinem eigenen Kopf eines klassischen »Freidenkers«. Wir Marxisten haben keine offenbarte göttliche Wahrheit zu verkaufen. Wir stellen eine Klassenwahrheit der Wahrheit der Gegnerklasse entgegen und sehen in diesen Klassenwahrheiten in erster Linie nicht etwas Philosophisches oder Ideologisches, sondern Waffen des praktischen, in der Geschichte verankerten Klassenkampfes.

Mitten im Lager des proletarischen Kampfes steht eine Klassenpartei, und diese propagiert eine Klassenwahrheit. Eben weil wir an die bürgerliche Wissenschaft, die sich einbildet, ewiger und endgültiger Sieg über das »Dogma« zu sein, nicht glauben, behaupten wir, dass unsere klassenmässige Wahrheit als einzige einen »wissenschaftlichen« Charakter hat. Das bedeutet, dass die Bourgeoisie nicht in der Lage ist, eine Gesellschaftswissenschaft auszuarbeiten, dass nur die Klassenpartei und nach der Revolution das ganze Proletariat zu einer solchen Wissenschaft gelangen können, durch den Bruch mit jeglicher bürgerlichen Denkart dazu gelangen können. Das ist unsere These, und wir werden schon an anderer Stelle die Gelegenheit haben, Marx und Lenin erklären zu lassen, dass diese Ohnmacht der kapitalistischen »Zivilisation« und »Kultur«, die Gesellschaft und die Geschichte wissenschaftlich zu erfassen, gleichbedeutend ist mit einer Unfähigkeit zur Wissenschaft im allgemeinen, d. h. auch zur Erkenntnis der Natur und des Kosmos. Es gibt also keinen gemeinsamen Massstab der »Wissenschaft«, an dem sowohl unsere als auch die bürgerlichen Ergebnisse zu messen wären. Wer an so etwas glaubt, der ist ein authentischer Chruschtschowist, ein Träger des friedlichen Wettbewerbs, der Preisausschreibung »Wer hat mehr Kapital und mehr Technik«, dieses gemeinen Surrogats[42] für den Klassenkrieg.

Deshalb musste die Bourgeoisie in Sachen Gesellschaft und Politik in das diffamierte Dogma zurück flüchten, und dies vor allem, wenn sie sich in demokratischer und pazifistischer Tracht zeigt; deshalb hat sie Gott und die aprioristische Moral als Zutaten dieses Dogmas wiederherstellen müssen.

Die Entstehung der revolutionären Theorie

Die marxistische Theorie, die, wie wir sehen werden, von der bolschewistischen Partei nicht erfunden, sondern von Westeuropa übernommen wurde, ist die einzige, die die zukünftige proletarische Revolution erklärt. Sie ist aber auch die einzige, die die bürgerliche Revolution und überhaupt alle Revolutionen, insbesondere die doppelten Revolutionen, erklärt. Von einer solchen Revolution – d. h. vom Ineinandergreifen zweier Revolutionen, wie es in der zeitgenössischen Geschichte vorkommt – lieferte Russland das erste siegreiche Beispiel. Dieses war aber nicht das erste Beispiel eines solchen revolutionären Kampfes überhaupt. 1905 hatte Russland selbst ein Beispiel dieses Kampfes geliefert; schon damals hatte das Proletariat die Hauptrolle gespielt, damals konnte der Sieg jedoch nicht einmal im bürgerlichen Sinne errungen werden.

Dieser Umstand verwandelte die Rückständigkeit Russlands aus einem Hindernis in eine günstige Bedingung. Wenn man diesen geschichtlichen Rahmen nicht genau berücksichtigt, wird man Lenin umsonst lesen. Man kann ihn sogar umgekehrt verstehen. Wer ihn aber als käuflicher Fälscher liest, der kann auch zum Teufel gehen.

»Wenn der Bolschewismus in den Jahren 1917–1920 unter unerhört schweren Bedingungen die strengste Zentralisation und eine eiserne Disziplin schaffen und erfolgreich verwirklichen konnte (es gibt keinen Bruch in der dialektischen Kette, IKP), so liegt die Ursache dafür ganz einfach in einer Reihe historischer Besonderheiten Russlands«[43].
An diesem Punkt täuscht der Verräter sofort vor, vergessen zu haben, dass Lenin dabei ist, die Grundzüge der russischen Revolution zu erläutern, die im engsten Sinne des Wortes eine internationale Bedeutung haben. Er wird den Satz lesen und ausrufen: So ist es; ausserhalb Russlands sind Zentralisation und Disziplin nicht so wichtig.

Aber um welche »historischen Besonderheiten Russlands« geht es hier denn? Gerade um die Bedingungen, die die russischen Revolutionäre dazu zwangen, sich den Marxismus als einzige revolutionäre Theorie anzueignen, eine Theorie, die sich nicht erst in Russland, sondern im Westen und hier nicht in Bücherstuben, sondern im Klassenkampf gebildet hatte, eine Theorie, die, wie Lenin sagt, von den Kämpfen und Revolutionen des XIX. Jahrhunderts bestätigt wurde und demzufolge nicht erst 1920 vollständige Gestalt annahm, sondern diese bereits 1871 bzw. 1850, seitdem Marx sie gezeichnet, besessen haben muss.

»Einerseits ist der Bolschewismus im Jahre 1903 auf der festen Grundlage der marxistischen Theorie entstanden. Dass aber diese – und nur diese revolutionäre Theorie richtig ist, haben nicht nur die internationalen Erfahrungen des ganzen XIX. Jahrhunderts, sondern insbesondere auch die Erfahrungen mit den Irrungen und Wirrungen, mit den Fehlern und Enttäuschungen des revolutionären Denkens in Russland bewiesen. Im Laufe ungefähr eines halben Jahrhunderts, etwa von den vierziger und bis zu den neunziger Jahren des vorigen Jahrhunderts, suchte das fortschrittliche Denken in Russland, unter dem Joch des unerhört barbarischen und reaktionären Zarismus, begierig nach der richtigen revolutionären Theorie und verfolgte mit erstaunlichem Eifer und Bedacht jedes ›letzte Wort‹ Europas und Amerikas auf diesem Gebiet. Den Marxismus als die einzig richtige revolutionäre Theorie hat sich Russland wahrhaft in Leiden errungen, durch ein halbes Jahrhundert unerhörter Qualen und Opfer, beispiellosen revolutionären Heldentums, unglaublicher Energie und hingebungsvollen Suchens, Lernens, praktischen Erprobens, der Enttäuschungen, des Überprüfens, des Vergleichens mit den Erfahrungen Europas. Dank dem vom Zarismus aufgezwungenen Emigrantenleben verfügte das revolutionäre Russland in der zweiten Hälfte des XIX. Jahrhunderts über eine solche Fülle von internationalen Verbindungen, über eine so vortreffliche Kenntnis aller Formen und Theorien der revolutionären Bewegung der Welt wie kein anderes Land auf dem Erdball«[44].

Wir mussten der Versuchung widerstehen, die entscheidenden Stellen dieses Absatzes hervorzuheben. Der Leser wird aber verstanden haben, dass die Theorie der Revolution der Erfahrung eines grossen Massenkampfes bedurfte, um sich definitiv zu festigen, und dass diese Erfahrung im Laufe der Revolutionen des neunzehnten Jahrhunderts bereits ausreichend gesammelt werden konnte bzw. am Ende des vorigen Jahrhunderts als definitiv anzusehen war. Wir könnten Hunderte von Zitaten von Marx und Lenin bringen, aus denen hervorgeht, dass die grosse französische Revolution des achtzehnten Jahrhunderts bereits ein Zusammenstoss von Volksmassen in der Grössenordnung von Millionen Menschen war und eine solche Fülle von Material lieferte, dass unsere Theorie aus einem Guss entstehen konnte: Diese ist für uns in der Tat seit 1848 unveränderlich.

Es gab darüber hinaus andere günstige besondere Bedingungen in Russland. Erstens die Notwendigkeit einer antifeudalen und antidespotischen Revolution, die die Massen zu einer unaufhaltbaren Bewegung zwang. Zweitens die Fehler der nichtmarxistischen Parteien und die damit zusammenhängenden Enttäuschungen riesigen Ausmasses (die italienische Linke hat sich wiederholt, insbesondere aber 1918, noch bevor sie Lenin gelesen hatte, der »Kritik der anderen Schulen« gewidmet, nicht zuletzt des Anarchismus, Syndikalismus und auch des betriebsbornierten »Rätekommunismus«) und selbst die Niederlagen im proletarischen Kampf. Drittens Umstände eindeutiger internationaler und internationalistischer Natur, nämlich die Feststellung, dass die politische Schule, die Arena, und besser noch, das Schlachtfeld des blutigen revolutionären Kampfes keineswegs national waren, keineswegs russisch oder deutsch, englisch, französisch oder italienisch waren, sondern europäisch und mit einem Wort, das Lenin – selbst im Feuer des Gefechtes tadellos – nicht zufällig sagt, weltweit. Und gerade das bezeichneten die schmutzigen Gegner seit damals als asiatische, mongolische, tartarische usw. Umstände.

Der ganze »Linksradikalismus« wird von der Zielsetzung getragen, die Grösse der russischen Revolution nicht als Entstehungsprozess eines »sozialistischen Landes« – eine elende Formel –, sondern als typischen und bisher unübertroffenen Beweis für die weltweite Dynamik der kommunistischen Revolution hervorzuheben.

Theorie und Aktion

Lenin hat gezeigt, dass die bolschewistische Partei auf der Grundlage einer Theorie entstand, deren Ursprünge weder russisch noch lokal, sondern europäisch und international im Weltmassstab waren, dass die Verbreitung dieser im internationalen Massstab einzig richtigen Theorie, des Marxismus, in Russland. von der »Emigration« der Revolutionäre infolge der zaristischen Verfolgungen begünstigt wurde. Um 1900 gab es in jeder westeuropäischen und amerikanischen Stadt richtige Kolonien von russischen Flüchtlingen, die wegen ihrer politischen Positionen vertrieben worden oder ausgewandert waren. Sie standen in einer engen Verbindung zu den fortschrittlichen Parteien des Auslandes und haben selbst einen grossen Beitrag zur Entwicklung dieser Parteien geliefert; was Italien angeht, so genügt es, an Kulischow, Balabanoff und andere zu denken.

In diesen Kolonien gab es einen unaufhörlichen und äusserst lebhaften ideologischen Kampf, der zu einem ständigen Vergleich mit den Kämpfen zwischen den politischen Strömungen des Gastgeberlandes führte.

In der Folge fängt Lenin damit an, eine Entwicklung zu beschreiben, die mit der ersten zusammenhängt und sie ergänzt, aber sozusagen in umgekehrter Richtung läuft. Russland hat sich die Theorie aus dem Westen geholt; als es aber darum ging, diese Theorie in der Praxis anzuwenden, als es also um die berühmte »Taktik« ging, überholte es sehr schnell seine Meister. Bald verfügte es auf diesem Gebiet über eine eigene Erfahrung, auf die später die Länder, die unter der Herrschaft der Bourgeoisie verblieben waren, hätten wiederum zurückgreifen müssen.

Wir wollen hier das Problem nicht auf einfache und schematische Formeln reduzieren, es ist aber angebracht, diese beiden Ströme etwas zu verfolgen, die aus zwei verschiedenen Himmelsrichtungen kamen und es dann verfehlt haben, sich im Laufe der Geschichte so weit zu beeinflussen, dass aus diesem Ineinandergehen der Sieg der Weltrevolution hervorgegangen wäre.

Infolge des Überlebens der Selbstherrschaft, deren Widerstandes auf innere Angriffe und des Zustroms der revolutionären Avantgarde ins Ausland, infolge dieser besonderen Bedingungen konnte sich die russische Bewegung sehr schnell und tief das revolutionäre Denken des Westens aneignen.

Im wesentlichen infolge derselben besonderen Lage konnte sie nicht weniger schnell strategische und taktische Erfahrungen sammeln: Russland war das letzte Land in Europa, in dem die grosse liberale Revolution, genauer ausgedrückt die restlose Abschaffung des Feudalismus und Absolutismus noch nicht vollendet war. Diese historische Lage teilte es lediglich mit der Türkei, diese war aber, obwohl ihre Hauptstadt damals in Europa lag, eine asiatische Gesellschaft.

Eine baldige politische »demokratische« Revolution wurde also für Russland von allen Seiten vorhergesagt. Es stand auch im allgemeinen fest, dass diese Revolution sich nicht mit der Form einer vom Zaren zugestandenen konstitutionellen Monarchie parlamentarischer Art zufrieden geben würde.

Seit langem hatten alle Sozialisten festgestellt, dass die proletarische Bewegung in Russland viel stärker und fortgeschrittener war als im revolutionären Europa der Mitte des neunzehnten Jahrhunderts. Man konnte deshalb vorhersagen, dass die proletarische Revolution binnen einer kurzen Frist der bürgerlichen Revolution folgen würde, sich ihr sozusagen »aufpfropfen« würde. Schon Marx und Engels hatten darauf ausdrücklich hingewiesen, mehr noch, sie hatten gesagt, dass die zaristische Macht in Russland die Rolle einer wahrhaft europäischen Polizei gegen das Proletariat des ganzen Kontinents spielte und dass die liberale Revolution im Zarenreich zur proletarischen Revolution nicht nur in Russland, sondern in ganz Europa führen könnte.

Vergessen wir für einen Augenblick, was danach geschah. Zunächst aber ein Hinweis: diese Theorie des Ineinandergreifens von zwei Klassenrevolutionen wurde bereits 1848 im Hinblick auf Deutschland vollständig ausgearbeitet. Wir müssen aber noch etwas Wichtiges hervorheben. Lenin erklärt in diesen Seiten, dass ein solchen strategischer »Plan« nicht nur im Fall eines Sieges reich an Lehren ist. Lenin ist zwar dabei, das einzige günstige historische Beispiel zu erläutern, er weist aber auf die wichtigen Lehren der revolutionären Niederlagen hin, namentlich auf die russische Revolution von 1905. Dasselbe gilt aber für alle proletarischen Niederlagen, so für die Niederlagen in fast ganz West- und Mitteleuropa 1848, so für die Pariser Kommune von 1871. Letztere war für Marx und Lenin eine wichtige Quelle für die Vervollkommnung der Theorie, der Strategie und der Taktik der proletarischen Revolution. Auch 1871 hatte das Pariser Proletariat wie 1830 und 1848 versucht, eine demokratische Revolution bzw. den Zusammenbruch einer dynastischen Macht als Sprungbrett für den Sieg der eigenen Klasse zu benutzen.

Diese Hinweise sind immer wieder nützlich, selbst wenn wir sie oft wiederholen und sie ohnehin allgemein bekannt sind. Sie einmal vorausgeschickt, können wir den letzten Absatz des zweiten Kapitels, des Kapitels über die Bedingungen des bolschewistischen Erfolgs, lesen:

Zwei Grundgedanken Lenins

»Andererseits hatte der Bolschewismus, der auf dieser granitnen theoretischen Grundlage entstanden war (wir haben bereits gesehen, dass es sich um die marxistische Theorie handelt. die hier als granitne bezeichnet wird, d. h. als ein zum unwandelbaren Gestein kristallisiertes Fundament, das nicht mehr plastisch oder elastisch ist, um das Modewort der opportunistischen Verfälscher des Leninismus zu benutzen, IKP), eine fünfzehnjährige (1903–1917) praktische Geschichte hinter sich, die an Reichtum der Erfahrung nicht ihresgleichen kennt. Denn kein anderes Land hatte in diesen 15 Jahren auch nur annähernd soviel durchgemacht an revolutionärer Erfahrung, an rapidem und mannigfaltigem Wechsel der verschiedenen Formen der Bewegung (auch im allgemeinen hat keine Partei in einer Zeitspanne von 15 Jahren soviel Erfahrung sammeln können, IKP), der legalen und illegalen, der friedlichen und stürmischen, der unterirdischen und offenen, der Zirkelarbeit und Massenarbeit, der parlamentarischen und der terroristischen Form der Bewegung. In keinem anderen Lande war in einem so kurzen Zeitraum ein solcher Reichtum an Formen, Schattierungen und Methoden des Kampfes aller der modernen Gesellschaft konzentriert gewesen, und zwar eines Kampfes, der infolge der Rückständigkeit des Landes und des schweren Jochs des Zarismus besonders schnell heranreifte und sich besonders begierig und erfolgreich das entsprechende 'letzte Wort' der amerikanischen und europäischen politischen Erfahrungen zu eigen machte«[45].

Lenin stützt sich im Jahre 1920 auf diese zwei Beiträge: Der Westen hat den Russen die Theorie geliefert, und Russland liefert dem Westen den praktischen Beweis, dass positive »Testergebnis«, dass die Theorie richtig ist und aus Granit. Es handelte sich um eine Erprobung durch eine soziale Bewegung, die sich über anderthalb Jahrzehnte erstreckte, riesige Menschenmassen aller Klassen ergriff und zum ersten Mal in der Geschichte zur festen Errichtung der proletarischen Diktatur über ein ganzes Land führte. Russland war also weit mehr als ein Testgelände gewesen, und das Ergebnis beschränkte sich nicht auf die Bestätigung: unsere marxistische Theorie war die richtige. Es ging nicht mehr um die Lehren aus den Niederlagen, sondern um die Bestätigung dieser Lehren durch den Sieg im Klassenkrieg, und das erlaubte uns, universelle Regeln für unsere Strategie und Taktik festzulegen.

Man hat nicht das Recht zu sagen, erst nach dem Siege könne die Theorie als fest gelten, zuvor seien alle Theorien unsicher und wandelbar gewesen. Selbst wenn dies stimmen sollte, müssten die Leute, die Lenin entstellen, zuallererst beantworten, warum sie denn ausgerechnet gegen die Theorie Front machen, derzufolge bewaffneter Aufstand, Diktatur, Terror, Auseinanderjagung der parlamentarischen und demokratischen Einrichtungen Wesenszüge der politischen Lehre und des Programms darstellen, warum sie gerade dieser Theorie den internationalen (für alle Länder!) und obligatorischen Charakter abstreiten und sie zu einem Sammelsurium lokalbedingter taktischer Mittel abstempeln.

Mit seinem berühmten Satz, die Theorie sei kein Dogma, wollte Lenin nicht sagen, sie sei vor dem Oktober 1917 ein unbeschriebenes Blatt gewesen, und noch weniger wollte er damit den Stalins und Chruschtschows aller nachfolgenden Generationen die Theorie zur beliebigen Verfügung stellen. Im Gegensatz zum Dogma sucht der Marxismus keine Legitimation in angeblich heiligen Schriften, in Produkten der Offenbarung Gottes an einen auserwählten Ausnahmemenschen; er ist aber auch kein Dogma des aufgeklärten Zeitalters, sieht seinen Ursprung nicht in Entdeckungen eines genialen Autors oder Führers. Die alten Klassenvorurteile und überlieferten Denkschemata konnten nur überwunden werden, nachdem die Geschichte erschüttert worden war durch grosse Bewegungen riesiger Menschenmassen. Erst nach diesen Bewegungen, als Folge dieser Bewegungen; mit den Lehren dieser Bewegungen konnte somit die neue Theorie entstehen. Das wollte Lenin sagen.

Nun hat die kapitalistische Bourgeoisie gewissermassen zum ersten Mal in der Geschichte Revolutionen entfesselt, in denen die grossen Massen aktiv und als Motor an der Bewegung teilnahmen. Abgesehen vielleicht von den Bankiers und Fabrikherren, von den »Managern« jener Zeit, haben sich alle an den Kämpfen der französischen Revolution beteiligt. Bauern, Landsknechte, Handwerker, Pfahlbürger, Studenten, Intellektuelle, Poeten, erste Manufakturarbeiter, sie alle reihten sich für den revolutionären Krieg ein; das bereits vorhandene Proletariat der Industrie und Landwirtschaft liess sich nicht bloss von bürgerlicher Ideologie durchtränken, sondern unternahm seine ersten Versuche gegen die neue, sich vorschiebende herrschende Klasse und seine äusserste Avantgarde verpflichtete sich bereits dem Kommunismus, dem primitiven, aber grossartigen Kommunismus Babeufs und Buonarrotis.

Marx’ Entdeckungen wären ohne die Erfahrungen dieser riesigen Massenkämpfe der bürgerlichen Revolutionen undenkbar. Erst nach jener Welle geschichtlicher Ereignisse konnte man behaupten, das Bild, das die Revolution von sich selbst zeichnete, sei falsch, eine neue Theorie müsse her, um sie überhaupt zu verstehen. Mit dem Aufbau einer kritischen Theorie der bürgerlichen Revolution entsteht dialektisch die Theorie der proletarischen, ihres Gegensatzes. Hatten die Ideologen der Aufklärung behauptet oder geglaubt (ist egal), die Revolution, deren Vorläufer sie gewesen waren, würde die Befreiung der ganzen Menschheit bedeuten, so wurde diese Revolution jetzt in ihrer Klassennatur entlarvt.

Von unserer Einsicht in die Geschichte der Jahrhunderte würde nichts zurückbleiben – oder sie würde dank ihrer harmonischen und konsequenten Vollkommenheit lediglich als »Kunstwerk« fortbestehen –, wenn es nicht wahr wäre, dass das moderne Proletariat als erste Klasse den Schlüssel der Geschichte besitzt und diesen Schlüssel nicht erst nach dem Sieg seines eigenen und titanischen Weltkampfes in die Hand bekommt, sondern vorher, bereits bei der Geburt, bereits, als es sich in den ersten Kämpfen erprobt, in jenen Kämpfen, die es aus historischer Notwendigkeit nicht für sich, sondern für die Klasse seiner Ausbeuter, der unbewussten Schöpfer der Bedingungen seines eigenen späteren Sieges, mitführte.

Es steht jedem frei – wiederholen wir immer – Marx und Engels über den Haufen zu werfen, den Glanz ihrer Theorie mit dem idiotischen Aberglauben des Erst-hinterher-wird-man-klug zu überdecken. Wer aber bestreitet, dass Lenins Theorie und für Lenin die Theorie aus einem Granitblock entstand, dass ihr die Lehren der ungeheuren Kämpfe der ersten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts zugrundelagen, dass sie bereits der I. Arbeiterinternationale die Grundlage lieferte – wer das bestreitet, ist nicht einmal ein Widersacher, nicht einmal ein Klassengegner, der ist ganz einfach ein Aas.

Dank jener Lehre konnten aber Lenin und seine Partei das grossartigste Ereignis des gesellschaftlichen Dramas, die Oktoberrevolution, beschreiben - bevor sie sich ereignete.

Die Taktik und die Geschichte

Parteilehre und -programm bestimmen das Endziel unseres Kampfes und fixieren die grundlegenden Etappen, die dieser Kampf in seiner Entwicklung durchlaufen muss. Der bewaffnete Aufstand gegen den bestehenden bürgerlichen Staat, die Zerstörung des bürgerlichen Macht- und Verwaltungsapparates, die Auflösung der demokratisch-parlamentarischen Institutionen, die Diktatur des Proletariats und somit die herrschende Funktion der Arbeiterklasse in der Gesellschaft über und gegen alle anderen Klassen, die erstrangige Funktion der politischen Partei bei all diesen Wendepunkten der grossen Entwicklung – dies alles sind theoretische und programmatische Richtlinien. Zu diesen gehören ausserdem die Strukturmerkmale der kommunistischen Gesellschaft ohne Klassen und ohne Staat, sowie diejenigen der kapitalistischen Gesellschaftsformation, welche die Revolution zum geeigneten Zeitpunkt von Grund auf zerstören wird, um zu jenem Endziel zu gelangen.

Um diese Reihe von Etappen durchlaufen zu können, müssen die Partei und das Proletariat angemessene Mittel anwenden. So sind die friedliche Propaganda und die noch nicht bewaffnete Agitation Mittel und Methoden, die vor der revolutionären Phase eine durchaus vorgesehene und zulässige breite Anwendung finden, und dasselbe gilt auch für die Intervention in den Organen der bürgerlichen Gesellschaft wie Parlamenten u. dgl. in den dazu geeigneten historischen Phasen. Und natürlich darf die Anwendung dieser Mittel nicht in einen Widerspruch zu den Richtlinien des Programms geraten.

In den Jahren um die letzte Jahrhundertwende entfaltete sich ein unaufhörlicher Kampf zwischen Parteien und oft zwischen Tendenzen und Flügeln innerhalb ein und derselben Partei. Dieser Kampf rutschte fast immer auf den Boden des vom Opportunismus und Revisionismus verbreiteten Missverständnisses ab, dass man sich nicht nach vorgegebenen Zielsetzungen, sondern nach einer Wertskala der Mittel auszurichten habe. Darin liegt übrigens der Kern des Revisionismus und Opportunismus.

Bernstein, gegen den Lenin hier wie überall vorgeht, prägte die Formel, derzufolge das Endziel nichts und die Bewegung alles bedeute. Auf den ersten Blick könnte es scheinen, diese Formel sei nur zynisch und machiavellistisch. Sie scheint ja sagen zu wollen: Alle Mittel sind gut – und andererseits wissen wir nichts über den Zielpunkt, den erst die Zukunft uns zeigen wird. Sehr bald musste sich aber der Opportunist total entlarven und sein schändliches Gesicht zeigen. Der Agnostizismus auf der Ebene der höchsten Zielsetzungen wurde durch eine Einstufung der Zwecke und Mittel in »an sich« gute und »an sich« schlechte begleitet. Sollten Prinzipien im Bereich des Programmatischen keinen Wert haben, so verhielt es sich im Bereich der taktischen Entscheidungen ganz anders: Hier führten die Opportunisten prinzipielle Überlegungen wieder hinein. Lenin gehörte nicht zu denen, die sagten: Man kann alles machen, was man will. Der grosse Lenin war im Gegenteil derjenige, der zeigte, dass die Opportunisten bei der Wahl der Mittel von den Prinzipien ausgingen, die die Interessen der Konterrevolution verkörperten – und dadurch brandmarkte er sie als Verräter. Früher hatte man die Revisionisten und Reformisten als Leute betrachtet, die langsamer, gemächlicher gehen wollten. Für Lenin und seit Lenin – und so auch für uns, seine letzten Schüler – gelten diese Leute als reaktionär, als Vertreter der Erhaltung bzw. der Restauration der bürgerlichen Macht. Ihre Unterscheidung zwischen den verschiedenen taktischen Mitteln war dieselbe, die heute von den moskauhörigen Parteien der ganzen Welt gemacht wird: friedliche Propaganda ja, bewaffneter Kampf nein; Demokratie ja, Diktatur niemals (für Lenin und den Oktober gibt es einen Sündenablass: dieser arme Kerl… dieser Geschichtsunfall…); Wahlen und Verfassungen ja, Auseinanderjagen von Parlamenten nein, zu keinem Zeitpunkt, nimmer.

Nun, wie Lenin hier und im historischen Abriss des IV. Kapitels zeigt, wurden im Laufe jener fünfzehn Jahre, in denen sich die aufgelisteten, entgegengesetzten taktischen Lösungen ablösten, und zwischen zehn Parteien und noch zahlreicheren Parteigruppen die Auseinandersetzungen tobten, alle »Mittel« aufs Spiel gesetzt und auf die Probe gestellt: vom Pietismus der Fabier (um ein Beispiel für ein… »letztes Wort aus dem Westen« zu nennen) bis hin zum Sprengstoffanschlag. Zwar natürlich nicht alle, aber fast alle diese Mittel hat die bolschewistische Partei selbst erprobt, was damit zusammenhängt, dass diese Partei im Laufe jener fünfzehn Jahre von 1903 bis zum Oktober im weltgeschichtlichen Massstab hundertachtzig Jahre durchschritten hat. So schreibt Lenin etwas weiter, dass in der Periode 1905–07 ein Monat einem Jahr gleichkam.

In Vorbereitung der Untersuchung des taktischen Arsenals der internationalen kommunistischen Bewegung lag der Sinn von Lenins Arbeit in Folgendem: Es gibt historische Etappen, die man aus Prinzip ausschliesst, es gibt jedoch keine taktischen Mittel, die man aus Prinzip ausschliessen könnte. Heute, vierzig Jahre danach, können wir wohl behaupten, dass allein unsere Linke bewiesen hat, diesen Unterschied verstanden und sich zu eigen gemacht zu haben.

»Letzte Worte« aus dem Westen

Zweimal, in zwei aufeinanderfolgenden Absätzen, weist Lenin darauf hin, dass man in Russland infolge der geschilderten Gegebenheiten sich immer wieder mit dem »letzten Wort« der europäischen und auch amerikanischen Erfahrung auseinandergesetzt hatte.

Wir sollen dabei nicht vergessen, dass Lenin ein höchstkarätiger Polemiker und Ironiker war. Die Verleumdungswelle, die sich damals gegen ihn entfesselte, und von der wir Kommunisten in jenen grossen Jahren glaubten, wir hätten sie endgültig entlarvt und zurückgeschlagen, jene Welle stützte sich auf das bekannte Hauptargument: Russland ist doch rückständig oder, wie man es im heutigen Sprachgebrauch sagen würde, ein unterentwickeltes Land. Ihr Russen hättet also ruhig, demütig und still zu sein. Höchstens hättet ihr unsere vergangenen, grossen demokratischen und liberalen Revolutionen wiederholen und nachahmen können. Wer hat euch denn erlaubt, in Sachen proletarische und sozialistische Revolution vorzustürmen? Ihr hättet doch zunächst unsere Erfahrung, die Erfahrung der fortgeschrittenen, entwickelten usw. Länder (alles verächtliche, idiotische Ausdrücke einer lächerlichen Bewunderung für einen Kapitalismus, der bereits seit einem halben Jahrhundert seine nützliche Rolle für die Wirtschaft, die Gesellschaft, die Wissenschaft und die Technik ausgespielt hat, und dessen Ausbreitung im übrigen nur Erstickung und Niedertracht mit sich brachte) abwarten müssen; erst dann hättet ihr lernen können, wie man in den reifen Ländern (für uns sind sie ekelhaft und durch und durch verfault) zum Sozialismus fortschreitet, um später, wenn ihr dran wäret, diesen Weg ehrfürchtig nachzulaufen.

Unsere Gegner waren vulgäre Opportunisten, sie gehörten der Bande der Prinzipienschacherer an, die vor Jahrzehnten gerade von Marx und Engels erledigt worden waren. Um so grösser war die Unverfrorenheit, mit der sie den Marxismus entstellten, um diese angebliche Hierarchie und Chronologie der Revolutionen zu begründen.

Auch der junge Gramsci hatte in seiner Naivität eine solche Auffassung vom Marxismus und freute sich als guter Idealist, weil Lenin die »Regel« des Marxismus, bzw. das, was er in seiner Unwissenheit dafür hielt, verletzen konnte.

Als Lenin sagte, das »letzte Wort« aus dem Westen wäre von Russland bereits übernommen, verwendet und geprüft worden, meinte er jedoch gerade, dass kein »kulturelles« Bedürfnis mehr bestand, in Europa oder Amerika in die Schule zu gehen, um sich dort etwaige Zeugnisse zu erwerben, die Russland erlaubt hätten, auf den Vorposten zu rücken (abgesehen natürlich von der richtigen materialistischen und dialektischen Einstellung zur Frage des »sozialistischen Vorbilds«, auf die wir im Einklang mit Lenin am Anfang dieser Arbeit eingingen).

Lenin macht also kein Zugeständnis an die idiotische Mode des kleinbürgerlichen opportunistischen Denkens, derzufolge man sich den sogenannten »neuesten« und »modernsten« Erkenntnissen anzupassen hat. Er erklärt im Gegenteil offen und mutig, dass die Bolschewiki seit langem alles Nützliche wussten, was es im Westen zu lernen gab und dass sie mit ihren Anhängern aller Länder, den linken Marxisten, in der Lage waren, auf das Pult zu steigen und die Normen zu diktieren.

Der krankhafte Opportunismus, der für die kleinbürgerliche Denkweise bzw. für die »Linksradikalen«, von denen Lenin spricht, charakteristisch ist, äussert sich gerade in der Manie der letzten Mode, des jüngsten Patentrezepts, der neuesten Erfindung.

In den Jahren, die der hier behandelten geschichtlichen Periode vorausgegangen waren, hielten sich die Anarchosyndikalisten aus der Schule Sorels für die Träger der letzten Mode. Sie waren im romanischen Europa stark vertreten (in Italien z. B. durch Arturo Labriola, Orano, Olivetti, Leone, De Ambris usw. usf.), aber auch in Nordamerika, durch die Gewerkschaftsbewegung der IWW, die in Opposition zum bürgerlich-reformistischen Gewerkschaftsverband stand. Dies schien damals das »letzte Wort« zu sein, und sicherlich waren die »Slogans« dieser Schule im Vergleich zu denjenigen der revisionistischen Sozialisten sehr verlockend. Aber die Bolschewiki liessen sich von diesem Schein nicht trügen. Sie hielten am Vorbild des linken Flügels der deutschen Sozialdemokratie fest (die revolutionäre Klassenpartei hat später, wie Marx und Engels verlangt hatten, die Benennung Sozialdemokratie abgelegt) und bis zu den Ereignissen des Weltkrieges (in dem übrigens fast alle Sorelianer Bankrott machten) standen sie Kautsky nahe, wohlgemerkt dem Kautsky der Jahrhundertwende, der ein hervorragender Vertreter des Marxismus war.

Die Anbeter des »letzten Wortes« räsonierten ihrerseits nach dem Denkmuster, das für die Rechts- und Linksopportunisten kennzeichnend ist: Statt von den programmatischen Grundlagen und Richtlinien gingen sie von den taktischen Mitteln aus.

Da sie, wie alle radikalen Bourgeois, im Grunde vom Weltbild des Evolutionismus und des Fortschrittlertums geprägt wurden, sahen sie in der Geschichte unentwegt einen »neuen Kurs« auf den anderen folgen. Das Schema liesse sich wie folgt wiedergeben: Mit der Französischen Revolution wären die politischen Clubs entstanden, aus denen später die Parteien hervorgingen. Die proletarische Bewegung wäre von den kleinen Verschwörerclubs zu den grossen parlamentarischen Parteien nach dem Muster der deutschen Sozialdemokratie übergegangen und bildete sich dann ein, mit solchen Parteien die Macht friedlich erobern zu können (sogar dem vollkonsequenten revolutionären Engels haben sie eine solche Illusion vorgeworfen!). Doch hätten die Massen erkannt, dass Parteiorganisationen unvermeidlich in den Rechtsopportunismus entarten. Sie hätten deshalb eine andere, rein ökonomische Organisationsform, die »revolutionäre Gewerkschaft«, ins Leben gerufen und die Wahlen durch den Massenstreik und die direkte Aktion, d. h. den Kampf ohne Vermittlung der Partei (die nach Marx’ genialer Formel Menschen aller Klassen erfasst) ersetzt. Den Anarchosyndikalisten zufolge hatten die Parteien seitdem keinen Nutzen mehr für das Proletariat.

Von den Fehlern in der Geschichtsbetrachtung, die hier haufenweise auftreten, sowie von dem falschen Revoluzzertum, das sie begleitet, hielten sich die Bolschewiki dank jener zweifachen Bedingung fern: Sie waren einerseits an den klassischen, ursprünglichen Marxismus, dessen Grundlehre die Sorelianer und Konsorten bekämpften, gebunden, und sie hielten andererseits an den Ergebnissen der russischen Erfahrung fest, welche am Beispiel der Nihilisten, Anarchisten, Bakunisten und Volkstümler die Unhaltbarkeit solcher kleinbürgerlichen Haltungen erwiesen hatte. Lenin zeigt hier, wie der ideologische Kampf den bewaffneten Kampf der Massen vorwegnahm und wie die Marxisten, die Bolschewiki, im Laufe jenes Kampfes mit »Ökonomisten«, »legalen Marxisten« und »Liquidatoren« zu tun hatten, wie sie bei all diesen Strömungen im Grunde die Tendenz bekämpfen mussten, die den politischen Kampf und die gegen den mächtig gepanzerten zaristischen Staatsapparat auftretende Partei liquidieren wollte, die Tendenz, die antizaristische Revolution beiseite zu lassen und sich auf den ökonomischen Kampf der Industriearbeiter gegen die Kapitalisten zu beschränken, was allerdings nichts Neues war, handelte es sich gewissermassen um eine Wiederholung des von Marx vor Jahrzehnten bekämpften Fehlers von Lassalle.

In diesen Absätzen der Leninschen Schrift wird geschildert, dass Theorie und Geschichte den Bolschewiki den richtigen revolutionären Weg beigebracht haben. Ihre Ideologie und ihre Aktion waren imstande, sich aller Formen zu bedienen und sie mit Leben zu erfüllen: den kleinen Zirkel und die grossen Massen, die Gewerkschaftsarbeit und die Parlamentstätigkeit selbst in der reaktionären Duma, die Verschwörung und den Massenstreik bis hin zum Aufstand. Aber an den Prinzipien wurde nie gerüttelt. Die Frage des Staates, ob es sich noch um den feudalen oder schon um den bürgerlichen Staat handelte, wurde niemals verdrängt; die primäre Rolle der Partei niemals in Frage gestellt; es wurde nie vergessen, dass der Massenstreik erst dann einen revolutionären Charakter annimmt, wenn er aufhört, einen ökonomischen Kampf darzustellen, wenn er nicht mehr von den Gewerkschaften, sondern zusammen mit diesen Gewerkschaften selbst von der revolutionären Partei geführt wird, und ebensowenig wurde je vergessen, dass die soziale Bewegung der Massen die entscheidende Frage der Macht nur stellen kann, wenn das Industrieproletariat seine politische Partei besitzt und von ihr geführt wird.

Die Linke in Italien

[46] Unter der Wirkung geschichtlicher Umstände wurde der linke Flügel der italienischen sozialistischen Partei zu Positionen geführt, die denen der russischen Marxisten, die wir oben schilderten, weitgehend glichen. Diese Positionen erklären, warum man einen Schutz gegen die Einflüsse des Spontaneismus und Linksopportunismus, derentwegen Lenin besorgt war, hatte errichten können, was ja nicht allein dadurch zustande kommt, dass man die Texte gut liest bzw. fähige Leser aufgetrieben werden.

Sieht man von kleineren oder schnell und fast spurlos aus dem Kampffeld verschwundenen Gruppen ab, so teilte sich um 1905 die sozialistische Bewegung in Italien deutlich in zwei Flügel, den reformistischen und den anarcho-syndikalistischen. Letzterer hat sich schliesslich von der Partei abgespalten, was im übrigen gewissermassen eine Konsequenz seiner Ideologie war. Er konzentrierte seine Aktion auf die »Unione Sindacale Italiana« (»Italienische Gewerkschaftsunion«) und organisierte sich in »Syndikalistischen Gruppen«, freilich ohne ein eigentliches Netz im nationalen Massstab zu bilden. Diese zwitterhaften Gruppen wollten ihren politischen Charakter verschleiern und gaben sich nicht nur als Parlaments- und Wahlgegner, sondern auch als Gegner von Parteien überhaupt aus. Allerdings hinderte sie dieser Agnostizismus nicht daran, in manchem Ort äusserst merkwürdige Wahlexperimente zu machen, die bis zur Bildung von linken Koalitionen für Kommunalwahlen reichten.

Was den anderen Flügel angeht, so rutschte die Partei immer mehr nach rechts ab. Sie wurde von offenen Reformisten geführt, die zum »Possibilismus« neigten, d. h. im Sprachgebrauch der damaligen Epoche zur Übernahme von Ministerposten in bürgerlichen Regierungen nach dem Beispiel Frankreichs. So weit ging man in Italien freilich nicht, doch beherrschten die reformistischen Führer die Parlamentsfraktion der Partei und die »Confederazione Generale del Lavoro« (CGL, »Allgemeiner Arbeiterverband«), der die Mehrheit der ökonomischen Organisationen angehörte, und sie verfolgten eine mehr als minimalistische Taktik und verabscheuten den offenen Kampf und den Streik.

Nun gut, rechtzeitig erkannte in Italien eine orthodox-marxistische Strömung der Partei, dass Syndikalisten und Reformisten, diese zwei scheinbar so entgegengesetzten und sich heftig befehdenden Flügel, in Wirklichkeit viele gemeinsame Seiten hatten, nämlich all jene negativen Seiten, die dem Klassenkampf des in Industrie und Landwirtschaft von einer linksgerichteten nationalen Bourgeoisie stark ausgebeuteten Proletariats die Spitze kappten.

Wie die russischen Marxisten, so haben auch die italienischen die falsche Auffassung gemieden, die Partei und Klassenkollaboration auf der einen, Gewerkschaft und Klassenkampf auf der anderen Seite einander gegenüberstellt. Die gewerkschaftliche Organisation war nicht weniger, sondern mehr als irgendeine andere Organisationsform anfällig für die Abweichung vom Klassenkampf und von der revolutionären Aktion. So stützte sich der parlamentarische Reformismus auf die Gewerkschaften, welche politische Interessenvertreter innerhalb des bürokratischen Netzes der bürgerlichen Ministerien brauchten.

Die Gewerkschaftsbewegung ist in der Tat nicht gefeit gegen die Krankheit des Interessenausgleichs zwischen den Klassen, vielmehr greift diese Krankheit von ihr aus auf die Partei über. Die Lösung besteht nicht in einer Wahl zwischen diesen beiden Organisationsnetzen, und deshalb konnte man von den anarchistischen und sorelianischen Syndikalisten der Unione Sindacale keinen Sieg über den Reformismus erwarten. Als Antonio Graziadei, ein sehr intelligenter und gebildeter Mensch, der zu einem späteren Zeitpunkt vor der Losung der Diktatur nicht zurückschreckte, in Italien vor dem Krieg den »reformistischen Syndikalismus« theoretisierte, schien diese Formel eine contradictio in adjecto[47] zu sein, war es aber nicht. Sie war übrigens in der englischen Bewegung mit der Labour Party entstanden, der die Gewerkschaften als Basissektionen beitraten, während die Partei für diese die parlamentarische Aktion durchführt und (wovor sie ja nie gezögert hat) sich am Kabinett beteiligt.

Jeder reine Ouvrierismus in der Organisationsform kann leicht in Klassenkollaboration ausarten, So liegt die Rettung auch nicht in Erwägungen über eine andere unmittelbare Organisationsform, die Fabrikräte, was ja in Italien allein die reinste marxistische Strömung gut verstand. Anders als die »Ordine-Nuovo-Gruppe«, die sich mit grosser Geschmeidigkeit als Anhängerin des Leninismus und der Oktoberrevolution tarnte, deren Perspektive ursprünglich aber darin bestand, über ganz Italien ein »unmittelbar« der Betriebsstruktur der kapitalistischen Produktionsweise entsprechendes Netz von Räten zu spannen, das an die Stelle der reformistischen Confederazione del Lavoro treten sollte. Die Kritik an den Fehlern der sozialistischen Partei war richtig, aber es fehlte das Verständnis für die Notwendigkeit der Gründung der revolutionären Partei, weil das Rätesystem bzw. die Rätebewegung als ein neuer Parteiersatz angesehen wurde, d. h. – wie gehabt – als ein neues Rezept für einen neuen Kurs. Alte, aber unsterbliche Illusion!

Die Leute, die Marx nur vom Hörensagen und Lenin nur aus Zeitungsmeldungen kannten, haben nach den ersten Nachrichten über die Oktoberrevolution nun in den Sowjets eine solche »patentierte Erfindung« erblickt.

Wenn wir aber den Leninschen Text aufmerksam verfolgen – nicht allein die Worte oder die Seiten, was zu wenig wäre, sondern die echte Lehre aus den geschichtlichen Ereignissen der Oktoberrevolution –, dann müssen wir die Schlussfolgerungen ziehen, die die italienische Linke sich seit einem halben Jahrhundert zu eigen gemacht hat. Die grundlegende Organisation für die proletarische Revolution ist die politische Partei, ebenso wie der bewaffnete Kampf für die Eroberung der Macht ein politischer Kampf ist. Der Boykott der traditionellen, von den Reformisten geführten Gewerkschaften ist ein Fehler, wie die westliche Erfahrung am Beispiel des Scheiterns der »radikalen« Syndikalisten in Frankreich und Italien, welche die Parteiorganisation ablehnten, erwiesen hat. Das Verlassen der Gewerkschaften zugunsten der neuen Organisationsform, der Betriebsräte, wäre ein gleichartiger Fehler. Wie Lenin erklärt, wäre es ebenso falsch, die Sowjets, die freilich im Gegensatz zur spontaneistischen Auffassung kein System von Betriebsräten, sondern ausgesprochen politische Organe darstellen, für einen Parteiersatz zu halten. So sind die Bolschewiki mit der Forderung »Alle Macht den Sowjets« sehr vorsichtig vorgegangen, da eine Regierung von Sowjets, deren Mehrheit menschewistisch oder sozialrevolutionär wäre, keine revolutionäre Lösung darstellen würde, sondern ganz im Gegenteil: Keine Organisationsformel, bzw. keine organisatorische Aufbauformel ist an sich revolutionär. Der wahre Inhalt der bolschewistischen Agitation, welche Worte sie auch immer benutzte, bestand in folgendem: Alle Macht der Kommunistischen Partei; und so warteten die Bolschewiki ab, bis sie die Sowjets in ihren Händen hatten, um den Aufstand zu beginnen. Es handelte sich dabei nicht um eine Taktik mit zwei Gesichtern, sondern um eine bruchlose Linie, die vor den Ereignissen mit einer bislang einmaligen Klarheit gezeichnet worden war. Im Juli 1917 war die Mehrheit der Sowjets opportunistisch, und Lenin bremste den Aufstand ab (und schon werden die Herren Opportunisten bei Gelegenheit sagen, auch Lenin habe die Massen zurückgehalten!!!). Im Oktober war die Zeit reif, die Sowjets standen links, man konnte sich auf sie stützen, um die gewählte Konstituante zu zerschlagen. Gegen die Meinung des Zentralkomitees der Partei selbst (sofortiger Zwischenruf jedes philisterhaften Formalisten: »Gegen die Partei und ihre legale Führung!«) ruft Lenin zur totalen Aktion auf und brandmarkt jeden, der auch nur eine einzige Sekunde zögern will, als Verräter.

Schliessen wir diese Parenthese über Italien ab. Vor dem ersten Weltkrieg hatte die marxistische Linke begriffen, dass sowohl der reformistische wie der syndikalistische Weg theoretisch falsch waren, und sie hatte sich die richtige Position zu eigen gemacht – für die revolutionäre Partei. Allerdings fand diese Formel vor dem Krieg einen unzulänglichen Ausdruck in der alleinigen Unnachgiebigkeit bei den Wahlen, selbst wenn sie am Vorabend und während des Krieges (1914–1918) dazu beitrug, der italienischen Partei das schändliche Ende der grossen westeuropäischen Parteien zu ersparen.

Seit den Parteitagen der Vorkriegszeit beschränkte sich die Linke in Italien aber nicht darauf, die Klassenkollaboration in der parlamentarischen Politik zu bekämpfen.

Sie hat auch die Frage des Staates richtig gestellt. Sie bekämpfte die Reformisten als Vertreter der Möglichkeit, den demokratischen Staat friedlich zu erobern, und sie bekämpfte die Anarcho-Sorelianer, die obwohl sie richtigerweise die Zerschlagung des bürgerlichen Staatsapparates forderten, die Notwendigkeit eines aus dem Aufstand hervorgehenden proletarischen Staates bestritten. Die Frage stand damals nicht als taktisches Problem auf der Tagesordnung der Geschichte. Sie musste aber, wie 1903 bei den Bolschewiki, auf der Ebene der Theorie gelöst werden, um eine richtige, aus der korrekten Anwendung des ökonomischen Determinismus sich ergebenden Vorhersage des Übergangs vom Kapitalismus zum Sozialismus zu ermöglichen. Und damit kommen wir wieder auf die Substanz von Lenins Buch über den »Linksradikalismus«: Der Machtübergang, d. h. der Übergang im militärischen und politischen Sinne, kennt keine Zwischenstufen. Hier erfolgt ein einmaliger, absoluter Bruch, während die ökonomische Umgestaltung und soziale Entwicklung nach der Machteroberung je nach dem bis dahin erreichten Stand, der z. B. damals in Russland äusserst rückständig, in Italien halbmodern und in England hochmodern war, mehr oder weniger langwierig und kompliziert ausfallen wird.



Notes:
[prev.] [content] [end]

  1. LW, Band 31, S. 8; EA, Dietz, S. 8. [⤒]

  2. LW, Band 31, S. 8; EA, Dietz, S. 8. [⤒]

  3. LW, Band 31, S. 8; EA, Dietz, S. 8. [⤒]

  4. LW, Band 31, S. 56; EA, Dietz, S. 62. [⤒]

  5. Bei der erwähnten Reihe handelt es sich um »Struttura economica e sociale della Russia d’oggi«, Buchausgabe bei Edizioni »Il Programma Comunista«, Mailand 1976. Zur selben Frage siehe in deutscher Sprache vor allem »Bilanz einer Revolution« in »Kommunistisches Programm« Nr. 15/16, Oktober 1977, namentlich S.66 ff.
    »Dialogato coi Morti« (»Zwiesprache mit den Toten«) (1956) liegt noch nicht in einer fertigen deutschen Übersetzung vor. [Mittlerweile gibt es eine Übersetzung unter dem etwas verzerrenden Titel »Dialog mit den Toten«, als pdf hier abrufbar.]
    »L’économie russe de la révolution d’Octobre à nos jours« (»Die Wirtschaft Russlands von der Oktoberrevolution bis heute«) (1963) findet sich inhaltlich im letzten Teil der Artikelserie »Bilanz einer Revolution« unter dem Titel »Die sowjetische Wirtschaft vom Oktober bis heute« (sinistra.net). [⤒]

  6. Siehe »Storia della Sinistra Comunista«, Edizioni »Il Programma Comunista«, Mailand, S.183–88. [⤒]

  7. LW, Band 31, S. 9; EA, Dietz, S. 9. [⤒]

  8. LW, Band 31, S. 9; EA, Dietz, S. 9. [⤒]

  9. LW, Band 31, S. 9; EA, Dietz, S. 9/10. [⤒]

  10. Surrogat = Ersatz, Ersatzstoff. [⤒]

  11. LW, Band 31, S. 9; EA, Dietz, S. 10. [⤒]

  12. LW, Band 31, S. 9/10; EA, Dietz, S. 10. [⤒]

  13. LW, Band 31, S. 10; EA, Dietz, S. 10/11. [⤒]

  14. Siehe »Storia della Sinistra Comunista«, Edizioni »Il Programma Comunista«, Mailand, S.183–88. [⤒]

  15. Contradictio in adjecto = lat. »Widerspruch im Hinzugefügten«, also der Widerspruch zwischen der Bedeutung des Hauptworts und dem zugefügten Adjektiv. Mit einem Wort: »Reformismus« und »Gewerkschaft« erschien damals unvereinbar (sinistra.net). [⤒]


Source: »Kommunistisches Programm«, Nr. 19, August 1978. Der ursprüngliche Text datiert auf das Jahr 1964.

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