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THESEN DER KOMMUNISTISCHEN WAHLBOYKOTTISTISCHEN FRAKTION DER SOZIALISTISCHEN PARTEI ITALIENS


Content:

Thesen der kommunistischen wahlboykottistischen Fraktion der Sozialistischen Partei Italiens – Mai 1920
I
II
III
Source


Thesen der kommunistischen wahlboykottistischen Fraktion der Sozialistischen Partei Italiens

I

1. Der Kommunismus ist die Lehre dar sozialen und historischen Bedingungen für die Befreiung des Proletariats.
Die Ausarbeitung dieser Lehre begann in der Zeit der ersten proletarischen Bewegungen gegen die Folgen der bürgerlichen Produktionsweise. Sie nahm ihre endgültige Gestalt an in der marxistischen Kritik der kapitalistischen Wirtschaftsform, in der Methode des historischen Materialismus, in der Theorie des Klassenkampfes und, in der Auffassung, wie der historische Prozess der proletarischen Revolution, des Sturzes der kapitalistischen Gesellschaftsordnung, verlaufen wird.

2. Diese Lehre, deren erster und grundlegender systematischer Ausdruck das »Manifest der Kommunisten« von 1847 ist, liegt der Bildung der kommunistischen Partei zugrunde.

3. Die bürgerlichen Produktionsverhältnisse, die auf dem Privatbesitz an Produktions- und Tauschmitteln, der privaten Aneignung der Produkte der kollektiven Arbeit, der freien Konkurrenz und dem privaten Handel beruhen, zwingen dem Proletariat eine in der heutigen geschichtlichen Periode immer unerträglichen Lebenslage auf.

4. Die politischen Einrichtungen des Kapitalismus, d. h. der Staat mit seinem demokratisch-repräsentativen System, entsprechen diesen ökonomischen Verhältnissen. In einer in Klassen geteilten Gesellschaft ist der Staat die organisierte Macht der ökonomisch privilegierten Klasse. Obwohl die Bourgeoisie die Minderheit der Gesellschaft darstellt, bildet der demokratische Staat das System der organisierten Waffengewalt zur Erhaltung der kapitalistischen Produktionsverhältnisse.

5. Der Kampf des Proletariats gegen die kapitalistische Ausbeutung nimmt in der Geschichte verschiedene Formen an: von der gewaltsamen Zerstörung der Maschinen zur Berufsorganisation für die Besserung der Arbeitsbedingungen, zu den Betriebsräten und den Versuchen von Besitzergreifung der Betriebe.

Durch alle diese einzelnen Aktionen nimmt das Proletariat Kurs auf den entscheidenden revolutionären Kampf gegen die Macht des bürgerlichen Staates, welcher die Zerstörung der bestehenden Produktionsverhältnisse verhindert.

6. Dieser revolutionäre Kampf ist der Kampf der ganzen proletarischen Klasse gegen die ganze bürgerliche Klasse. Sein Instrument ist die politische Klassenpartei, die kommunistische Partei. Die kommunistische Partei verwirklicht die bewusste Organisation jener Vorhut des Proletariats, die begriffen hat, dass man die Interessen einzelner Gruppen, Berufszweige oder Nationalitäten überwinden muss, dass man die begrenzten Vorteile und Errungenschaften, die das Wesen der bürgerlichen Struktur nicht verletzen, unter das Endziel des Kampfes unterordnen muss, um die eigene Aktion zu vereinigen.
Erst die Organisation als politische Partei ermöglicht folglich die Bildung des Proletariats zur Klasse, die für ihre Befreiung kämpft.

7. Ziel der Aktion der kommunistischen Partei ist der gewaltsame Sturz der bürgerlichen Herrschaft, die Eroberung der politischen Macht durch das Proletariat und dessen Organisation als herrschende Klasse.

8. Die Organisation der Bourgeoisie als herrschende Klasse nimmt die Form der parlamentarischen Demokratie an, in der Bürger aller Klassen vertreten werden. Die Organisation des Proletariats als herrschende Klasse wird dagegen in der Diktatur des Proletariats ihren Ausdruck finden, d. h. in einer Staatsform, deren Vertretungsorgane (System der Arbeiterräte) ausschliesslich von den angehörigen der Arbeiterklasse (Industrieproletariat und arme Bauern) bestimmt werden. Die Bourgeoisie wird vom Wahlrecht ausgeschlossen.

9. Nach der Zertrümmerung des alten Verwaltungs-, Polizei- und Militärapparates wird der proletarische Staat die bewaffneten Kräfte der Arbeiterklasse in einer Organisation vereinigen, die dazu bestimmt ist, einerseits alle konterrevolutionären Bestrebungen der entmachteten Klasse zu unterdrücken, andererseits die despotischen Eingriffe in die bürgerlichen Produktions- und Eigentumsverhältnisse durchzuführen

10. Der Übergang von der kapitalistischen zur kommunistischen Wirtschaftsform wird einen sehr komplexen Prozess darstellen; seine Phasen werden je nach den gegebenen Bedingungen der ökonomischen Entwicklung verschieden sein. Dieser Prozess führt zum kollektiven Besitz und zur kollektiven Nutzung der Produktionsmittel durch die ganze vereinte Menschengemeinschaft, zur zentralen und rationalen Aufteilung der Produktivkräfte auf die verschiedenen Produktionszweige und zur zentralen kollektiven Leitung der Verteilung der Produkte.

11. Sobald die kapitalistischen Produktionsverhältnisse völlig abgeschafft sind, wird die Aufhebung der Klassen eine vollendete Tatsache sein; auch der Staat als politischer Machtapparat wird nach und nach durch die rationale gemeinschaftliche Koordinierung der wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Tätigkeiten ersetzt sein.

12. Der Prozess der Umgestaltung der Produktionsverhältnisse wird von einer umfangreichen Reihe sozialer Massnahmen begleitet werden, die auf dem Prinzip beruhen, dass die Kollektivität sich um die materielle und geistige Existenz aller ihrer Mitglieder zu kümmern hat. So werden nach und nach alle degenerativen Merkmale verschwinden, die das Proletariat von der kapitalistischen Welt erbt, und – um es mit den Worten des »Manifests der Kommunisten« zu sagen – »an die Stelle der alten bürgerlichen Gesellschaft mit ihren Klassen und Klassengegensätzen wird eine Assoziation treten, worin die freie Entwicklung eines jeden die Bedingung für die freie Entwicklung aller sein wird«.

13. Die Bedingungen für den Sieg der proletarischen Macht im Kampf für die Verwirklichung des Kommunismus bestehen nicht so sehr in der rationellen Verwendung der Fachleute für die technischen Aufgaben, als vielmehr darin, die politischen Kontrollposten des Staatsapparates denjenigen anzuvertrauen, die die allgemeinen Interessen und den Endsieg des Kommunismus den Einflüssen der beschränkten und besonderen Gruppeninteressen voranstellen.
Da die kommunistische Partei eben die Organisation jener Proletarier ist, die ein solches Klassenbewusstsein haben, wird sie das Ziel verfolgen, durch Propagandaarbeit ihren Mietgliedern die Wahlämter der Gemeinwesen zu sichern. Die Diktatur des Proletariats wird folglich die Diktatur der Partei sein. Diese wird aber keine Regierungspartei im althergebrachten Sinn sein, da die Kommunisten im vollkommenen Gegensatz zu den Regierungsparteien der alten Oligarchien sich jene Ämter aufbürden werden, die die grössten Entsagungen und Opfer verlangen; sie werden den härtesten Teil der revolutionären Arbeit auf sich nehmen, die dem Proletariat in dem ungeheuren Kampf um eine neue Welt bevorstehen.

II

1. Die aufgrund ihrer spezifischen Methode ununterbrochen entwickelte kommunistische Kritik und die Propagierung der durch sie gewonnenen Erkenntnisse verfolgen das Ziel, den Einfluss auszurotten, den die Ideologien anderer Klassen und Parteien auf das Proletariat ausüben.

2. Der Kommunismus räumt zunächst mit den idealistischen Auffassungen auf. Diese Auffassungen erblicken in der Welt des Geistes und der Gedanken die Ursache und nicht das Resultat der wirklichen Lebensverhältnisse der Menschheit und ihrer Entwicklung. Sie gehören zum ideologischen Arsenal der Klassen, die vor der Bourgeoisie herrschten. Die Herrschaft dieser Klassen beruhte auf einer kirchlichen, adligen oder dynastischen Organisation und liess sich nur mit vorgeblichen göttlichen Berufungen rechtfertigen.
Die Bourgeoisie führte zunächst einen Zerstörungskampf gegen diese alten Ideologien, um sie später in neuen Formen in ihre eigenen Reihen wiederaufzunehmen. Darin liegt ein Zeichen für den Verfall der modernen Bourgeoisie.
Ein auf idealistischer Basis gründender Kommunismus ist also eine unannehmbare Sinnlosigkeit.

3. In noch bezeichnenderer Weise stellt der Kommunismus die kritische Zerstörung der Weltanschauung des Liberalismus und der bürgerlichen Demokratie dar. Die juristische Behauptung der Gedankenfreiheit und der politischen Gleichheit aller Bürger sowie die Auffassung, dass die auf dem Mehrheitsprinzip und dem allgemeinen Wahlrecht beruhenden Institutionen die Grundlage für einen unbegrenzten und stufenweisen Fortschritt des Gemeinwesens darstellen, bilden in der Tat die typische Ideologie einer auf Privatwirtschaft und freier Konkurrenz beruhenden Gesellschaftsordnung.

4. Zu den Illusionen der bürgerlichen Demokratie gehört die Auffassung, dass die Lebensbedingungen der Massen verbessert werden können, wenn die herrschenden Klassen und ihre Organe die Erziehung und Bildung fördern. Bedingung für die Hebung des geistigen Niveaus grosser Massen ist jedoch ein sehr hoher materieller Lebensstandard, der mit der bürgerlichen Gesellschaftsordnung unvereinbar ist. Andererseits sucht die Bourgeoisie durch ihre Schulen eben jene Ideologien zu verbreiten, die die Massen davon abhalten, in den bestehenden Institutionen das Hindernis ihrer Befreiung zu erkennen.

5. Eine weitere Grundbehauptung der bürgerlichen Demokratie ist das Nationalitätsprinzip. Die Bildung nationaler Staaten entspricht den Klasseninteressen der Bourgeoisie. Sie kann sich dadurch bei der Errichtung ihrer eigenen Macht der nationalen und patriotischen Ideologien bedienen, um den Gegensatz zwischen dem kapitalistischen Staat und den proletarischen Massen zu mildern und von der Tagesordnung zu entfernen, zumal diese Ideologien in der Anfangsperiode des Kapitalismus gewisse gemeinsame Interessen der Menschen gleicher Rasse, Sprache und Sitten zum Ausdruck bringen.
Der heutige nationale Irredentismus (Heim-ins-Reich-Bewegungen) beruht im wesentlichen auf bürgerlichen Interessen.
Die Bourgeoisie zögert nicht davor, das Nationalitätsprinzip mit Füssen zu treten, sobald die Entwicklung des Kapitalismus sie zur meistens gewaltsamen Eroberung der ausländischen Märkte zwingt und folglich zwischen den grossen Staaten den Kampf um diese Märkte auslöst. Der Kommunismus überwindet das Nationalitätsprinzip. Er zeigt, dass die besitzlosen Arbeiter sich gegenüber ihren Arbeitgebern in derselben Lage befinden, unabhängig von der Nationalität der einen oder der anderen. In der kommunistischen Auffassung wird die Organisationsform des Proletariats nach der Machteroberung eine internationale Vereinigung sein.

Im Licht der kommunistischen der Kritik wurde der Weltkrieg (1914 – 1918) vom kapitalistischen Imperialismus hervorgerufen. Die Versuche, diesen Krieg vom Standpunkt des einen oder des anderen bürgerlichen Staates als Verteidigung der nationalen Rechte einiger Völker, als einen Krieg der demokratisch fortgeschrittenen Staaten gegen andere, in vorkapitalistischen Formen organisierte Staaten oder schliesslich als Verteidigungskrieg gegen einen feindlichen Angriff zu rechtfertigen, stürzen somit ins Bodenlose.

6. Der Kommunismus steht auch in Opposition zu den Ansichten des bürgerlichen Pazifismus und zu den Wilson’schen Illusionen über die Möglichkeit eines auf Abrüstung und Schiedsgerichten beruhenden Staatenbundes, der von der Utopie einer Unterteilung der Staatseinheiten je nach Nationalität genährt wird. Erst die Ablösung der kapitalistischen Gesellschaftsordnung durch die Internationale Kommunistische Republik wird die Kriege unmöglich machen und die nationalen Fragen lösen.

7. Andererseits stellt der Kommunismus die Überwindung der Anschauungen des utopischen Sozialismus dar. Um die Mängel der bestehenden Ordnung zu beheben, entwarfen die Utopisten detaillierte Pläne einer Zukunftsgesellschaft, die durch die Initiative der Mächtigen und das Sendungsbewusstsein der Philanthropen verwirklicht werden sollten. Sie brachten ihre Pläne und die Untersuchung ihrer Durchführungsmöglichkeit in keinen Zusammenhang zur realen geschichtlichen Entwicklung.

8. Im Rahmen der Ausarbeitung einer eigenen theoretischen Auffassung der Gesellschaft und der Geschichte durch das Proletariat, einer Auffassung, die imstande sei, als Leitfaden für seine Aktion gegen die Lebensverhältnisse der kapitalistischen Welt zu dienen, entstehen immer wieder Schulen und Strömungen, die mehr oder weniger den Einfluss der unreifen Kampfbedingungen oder der verschiedensten bürgerlichen Vorurteile widerspiegeln. Die Folge davon sind Fehler und Misserfolge der proletarischen Aktion.
Dieses Erfahrungsmaterial dient jedoch der kommunistischen Bewegung dazu, die Theorie und die Taktik immer genauer zu formulieren, sie von allen anderen, im Schoss des Proletariats spriessenden Strömungen klar zu unterscheiden und letztere offen zu bekämpfen.

9. Die Bildung von Produktionsgenossenschaften, deren Kapital der Belegschaft gehört, stellt keinen Weg für die Abschaffung des kapitalistischen Systems dar. Der Ankauf der Rohstoffe und der Absatz der Produkte werden in solchen Betrieben nach den Gesetzen der Privatwirtschaft abgewickelt. Das Genossenschaftskapital wird also unvermeidlich dem Kredit und folglich der Kontrolle durch das Privatkapital unterworfen.

10. Die Kommunisten betrachten die ökonomischen Berufsorganisationen weder als ausreichendes Instrument des revolutionären proletarischen Kampfes, noch als grundlegende Organe der kommunistischen Wirtschaft.
Die Organisation in Berufsgewerkschaften dient dazu, die Konkurrenz unter den Arbeitern des gleichen Berufes auszuschalten, um eine Senkung der Löhne auf ein sehr niedriges Niveau zu verhindern. Sie kann aber weder die Abschaffung des kapitalistischen Profits durchsetzen, noch die Arbeiter aller Berufszweige gegen die Privilegien der bürgerlichen Macht vereinigen. Andererseits würde auch die einfache Übertragung des Betriebseigentums von den Händen der privaten Unternehmer auf die der Arbeitergewerkschaft keineswegs das ökonomische Programm des Kommunismus erfüllen. Das Eigentum muss auf die gesamte Kollektivität des Proletariats übertragen werden. Das ist der einzige Weg, um den privatwirtschaftlichen Charakter der Aneignung und Verteilung der Produkte abzuschaffen.
Die Kommunisten betrachten die Gewerkschaft als Kampfplatz für die ersten Erfahrungen des Proletariats, das dadurch voranschreiten kann, um sich auf die Ebene der Theorie und der Praxis des politischen Kampfes, dessen Instrument die Klassenpartei ist, zu stellen…

11. Die Auffassung, die Revolution sei eine Frage der Organisationsform des Proletariat nach dem Muster der Gruppierungen, sich aus einer gemeinsamen Lage bzw. gemeinsamen Interessen im Netz der kapitalistischen Produktion unmittelbar ergeben, ist im allgemeinen falsch.
Das wirksame Instrument für die Befreiung des Proletariats entsteht daher nicht aus einer Änderung der Struktur der ökonomischen Organisationen.

Die Betriebsgewerkschaften oder Betriebsräte entstehen, um die Interessen der Proletarier in den einzelnen Betrieben zu verteidigen, sobald die Möglichkeit auftaucht, die Unternehmerwillkür einzuschränken. Der Erwerb eines mehr oder minder ausgedehnten Rechtes zur Produktionskontrolle durch diese Organisationen lässt sich jedoch mit dem kapitalistischen System vereinbaren und könnte daher als konservatives Mittel dienen.
Selbst wenn die Betriebsführung in die Hände der Betriebsräte überginge, so würde das (im Einklang mit dem, was wir über die Gewerkschaften sagten) nicht den Anbruch des kommunistischen Systems bedeuten. Der echten kommunistischen Auffassung zufolge wird sich die Arbeiterkontrolle über die Produktion erst nach dem Sturz der bürgerlichen Macht verwirklichen, und zwar als Kontrolle der Produktton aller Betriebe durch das gesamte, im Rätestaat vereinigte Proletariat. Die kommunistische Produktionsleitung wird alle Produktionszweige und -einheiten erfassen; sie wird von rationellen kollektiven Organen getragen werden, die die Interessen aller für den Aufbau des Kommunismus vereinigten Arbeiter vertreten.

12. Die kapitalistischen Produktionsverhältnisse können durch den Eingriff der bürgerlichen Staatsmacht nicht verändert werden.
Die Übernahme von Privatbetrieben durch den Staat oder die Gemeinden entspricht daher keineswegs der kommunistischen Auffassung. Diese Überführung wird immer von der Entschädigung des alten Besitzers begleitet, der somit sein Ausbeuterrecht voll bewahrt. Die Betriebe selbst funktionieren weiterhin als Privatbetriebe im Rahmen der kapitalistischen Wirtschaft. Dar bürgerliche Staat benutzt sie oft als geeignetes Mittel für die Erhaltung und Verteidigung des Kapitalismus.

13. Wer die Auffassung vertritt, dass die kapitalistische Ausbeutung unter dem Druck der Vertreter der proletarischen Partei innerhalb der Staatsorgane oder unter dem Druck von Massenkundgebungen durch Gesetzesänderungen und Reformmassnahmen der bestehenden politischen Institutionen schrittweise gemildert und schliesslich abgeschafft werden kann, macht sich zum Komplizen der Bourgeoisie, zum Komplizen der Verteidigung ihrer Privilegien – denn zuweilen gibt die Bourgeoisie einen winzigen Teil ihrer Privilegien scheinbar ab, um die Unzufriedenheit der Massen zu beschwichtigen und deren revolutionären Kampf von den Fundamenten des kapitalistischen Regimes abzulenken

14. Die Eroberung der politischen Macht durch das Proletariat stellt das eigentliche Ziel des Kampfes dar, sie kann aber nicht durch die Eroberung von parlamentarischen Mehrheiten erzielt werden.
Die Bourgeoisie stützt sich in erster Linie auf den Exekutivapparat des Staates, der ihr auch dazu dient, sich die Mehrheiten in den gewählten Institutionen zu sichern. Diese Mehrheiten setzen sich zusammen aus ihren direkten Delegierten und aus Leuten, die sich in ihre Hände und unter ihre Kontrolle begeben haben, um in diese Institutionen hineinzukommen. Wenn man diesen Institutionen angehört, muss man sich ausserdem verpflichten, die rechtlichen und politischen Grundlagen der bürgerlichen Verfassung zu respektieren. Diese Verpflichtung hat zwar nur einen formalen Wert. Die Bourgeoisie wird aber nicht ohne weiteres die Macht aus den Händen geben und ihren bürokratischen und militärischen Herrschaftsapparat zerstören lassen. Sie wird sie im Gegenteil mit wirklichen Mitteln – mit Waffen – verteidigen und den Eid der proletarischen Abgeordneten als Alibi benutzen, um sich von der sie ohnehin nicht sonderlich beeindruckenden Beschuldigung des Legalitätsbruches rein zu waschen.

15. Es genügt nicht, die Notwendigkeit des bewaffneten Aufstands für die Eroberung der Macht anzuerkennen. Der zentrale kommunistische Begriff ist die Diktatur des Proletariats. Das Programm der proletarischen Macht sieht daher kein Vertretungsrecht für die Bourgeoisie in den neuen politischen Organen vor, z. B. in Form einer verfassunggebenden Versammlung oder einer Kombination aus einer solchen Versammlung mit dem Rätesystem – dies wäre unannehmbar. Die Bourgeoisie darf keine Anknüpfungspunkte behalten, von denen aus sie die Zusammensetzung der Organe des expropriierenden proletarischen Staates in irgendeiner Form beeinflussen könnte. Der Prozess der Expropriation der Bourgeoisie wäre sonst sofort gefährdet. Die Bourgeoisie würde den ihr aufgrund ihrer Erfahrung und ihrer technischen und intellektuellen Vorbereitung unvermeidlich verbleibenden Einfluss ausnützen können, um eine politische Tätigkeit im Hinblick auf die Wiederaufrichtung ihrer Macht durch eine Konterrevolution zu entfalten. Dasselbe gilt auch hinsichtlich einer Vereins- Propaganda- und Pressefreiheit für die Bourgeoisie: auch hier würde jedes demokratische Gleichbehandlungvorurtei1 zu den gleichen Folgen führen.

16. Das System der Arbeiterräte wird gerade durch den Ausschluss der Bourgeoisie vom Wahlrecht gekennzeichnet; andererseits werden seine zentralen Organe nicht nach Berufen, sondern nach Bezirken, Städten usw. zusammengesetzt. Das Programm einer politischen Organisationsform auf der Grundlage von Delegationen der verschiedenen Berufsgruppen aller Gesellschaftsklassen würde daher nicht einmal in der Form einen Schritt in Richtung auf das System der Arbeiterräte bedeuten – eine derartige Vertretungsform bildete vielmehr eine Vorstufe der heutigen parlamentarischen Demokratie.

17. Auch der Anarchismus steht in einem tiefen Gegensatz zum Kommunismus. Der Anarchismus strebt nach der sofortigen Einführung einer Gesellschaft ohne Staat und ohne politischen Organisation. Er stellt sich die zukünftige Wirtschaftsordnung als autonomes Funktionieren der einzelnen Produktionseinheiten vor und verwirft jede zentrale Organisation und Planung der menschlichen Tätigkeiten im Bereich der Produktion und Verteilung. Eine solche Auffassung unterscheidet sich kaum von der bürgerlichen Privatwirtschaft. Sie bleibt dem wesentlichen Inhalt des Kommunismus fremd. Was die sofortige Abschaffung des Staates als politischer Machtapparat angeht, so bedeutet sie den Verzicht auf jeglichen Widerstand gegen die Konterrevolution, es sei denn, sie geht von der Voraussetzung aus, dass man die Klassen sofort aufheben kann, d h. dass der Aufstand gegen die bürgerliche Staatsmacht und die sogenannte revolutionäre Expropriation gleichzeitig stattfinden werden. Das ist aber nicht im entferntesten möglich. Die Aufgaben des Proletariats bei der Ersetzung der heutigen Wirtschaftsordnung durch die kommunistische sind äusserst vielseitig und schwierig. Dieser Prozess muss von einem zentralen Organ geleitet werden, das die allgemeinen Interessen des Proletariats koordiniert und allen lokalen und besonderen Interessen voranstellt, aus denen der Kapitalismus seine grösste Erhaltungskraft schöpft.

III

1. Die kommunistische Auffassung und der ökonomische Determinismus machen die Kommunisten keineswegs zu passiven Zuschauern der geschichtlichen Entwicklung, sondern im Gegenteil zu unermüdlichen Kämpfern. Der Kampf und die Aktion wären jedoch unwirksam, wenn sie sich von den Ergebnissen der Theorie und der kritischen Erfahrung des Kommunismus lossagen würden.

2. Die revolutionäre Tätigkeit der Kommunisten beruht auf der Organisation eines Teils des Proletariats als Partei, nämlich jener Proletarier, die das Bewusstsein der kommunistischen Prinzipien mit der Entschlossenheit vereinen, alle Ihre Kräfte der Sache der Revolution zu widmen.
Die Partei organisiert sich auf internationaler Ebene und handelt auf der Grundlage der Disziplin gegenüber den Entscheidungen der Mehrheiten und der von diesen Mehrheiten zur Führung der Bewegung bestimmten Zentralorgane.

3. Die Propaganda und die Rekrutierung sind wesentliche Tätigkeiten der Partei, die vor der Aufnahme von neuen Mitgliedern die höchste Sicherheit verlangt. Die kommunistische Bewegung stützt den Erfolg ihrer Aktion auf die Verbreitung ihrer Prinzipien und Ziele und kämpft im Interesse der übergrossen Mehrheit der Gesellschaft. Sie macht aus der Zustimmung der Mehrheit jedoch keine Vorbedingung ihres Handelns. Der Massstab für den günstigen Zeitpunkt für die Durchführung von revolutionären Aktionen liegt in der objektiven Einschätzung der eigenen und der gegnerischen Kräfte mit ihren vielen zusammenwirkenden Faktoren, worunter die Zahl weder der einzige noch der wichtigste ist.

4. Die kommunistische Partei entfaltet eine intensive Untersuchungsarbeit und Kritik in enger Verbindung mit den Bedürfnissen der Aktion und mit der historischen Erfahrung; sie bemüht sich, diese Arbeit auf einer internationalen Grundlage zu organisieren. Sie propagiert bei jeder Gelegenheit und mit allen möglichen Mitteln die Ergebnisse der eigenen Kritik und Erfahrung und widerlegt die gegnerischen Strömungen und Parteien. Sie entfaltet ihre Propaganda in erster Linie unter den proletarischen Massen und in den Organisationen, die die Proletarier zum Schutz ihrer unmittelbaren Interessen bilden, und versucht, das Proletariat an sich zu ziehen; dies gilt umso mehr, wenn die Massen sich in Bewegung setzen, um auf die ihnen vom Kapitalismus aufgezwungene Lage zu reagieren.

5. Die Kommunisten gehen daher in die proletarischen Genossenschaften, Gewerkschaften und Betriebsräte ein, bilden kommunistische Arbeitergruppen in diesen Organisationen und bemühen sich, die Mehrheit und die führenden Posten zu erobern, damit die in solchen Vereinigungen organisierten proletarischen Massen die eigene Aktion den höchsten politischen und revolutionären Zielen des Kampfes für den Kommunismus unterstellen.

6. Die kommunistische Partei hält sich hingegen fern von allen Einrichtungen und Vereinen, an denen Proletarier und Bourgeois in gleicher Weise teilnehmen, oder schlimmer, deren Führung und Schirmherrschaft der Bourgeoisie gehört (Hilfsvereine, Wohltätigkeitsvereine, Bildungsvereine, Volkshochschulen, Freimaurervereine usw.). Die Partei bekämpft die Tätigkeit und den Einfluss dieser Organisationen, damit die Proletarier sich von ihnen entfernen.

7. Die Teilnahme an den Wahlen für die Organe der bürgerlichen Demokratie und die parlamentarische Tätigkeit bergen in jeder Epoche die ständige Gefahr von Abweichungen in sich. In jener Periode, in der sich die Möglichkeit des Sturzes der bürgerlichen Herrschaft noch nicht abzeichnete und die Aufgabe der Partei auf die Kritik und Opposition beschränkt war, konnten sie jedoch für die Propaganda und die Bildung der Bewegung benutzt werden. In der heutigen Periode, die durch das Ende des Weltkriegs, die ersten kommunistischen Revolutionen und die Entstehung der Dritten Internationale eröffnet wurde, setzen die Kommunisten die revolutionäre Eroberung der Macht als direktes Ziel der politischen Aktion des Proletariats aller Länder; alle Kräfte und die gesamte Vorbereitungsarbeit müssen diesem Ziel gewidmet werden.
In dieser Periode ist jede Teilnahme an den Vertretungsorganen der bürgerlichen Demokratie unzulässig. Diese Organe treten als ein mächtiges Verteidigungsmittel der Bourgeoisie gegen das Proletariat und selbst in den Reihen des Proletariats auf; als Gegensatz zu deren Struktur und Funktion verfechten die Kommunisten das System der Arbeiterräte und die Diktatur des Proletariats.
Aufgrund der grossen Bedeutung, die die Wahltätigkeit der Sozialistischen Partei Italiens in der Praxis einnimmt, kann sie unmöglich mit der Behauptung in Einklang gebracht werden, sie sei nicht das Mittel, um die Machteroberung, den Hauptzweck der Parteiaktion, zu erzielen; es ist ausserdem unmöglich zu vermelden, dass sie die gesamte Tätigkeit der Bewegung in Anspruch nimmt und so von der revolutionären Vorbereitung abbringt.

8.Auf dem Weg der Wahlen, die Gemeinden und Lokalverwaltungen zu erobern, weist in noch grösserem Masse dieselben Nachteile des Parlamentarismus auf. Darin liegt kein annehmbares Aktionsmittel gegen die bürgerliche Macht. Einerseits haben Gemeinde und Lokalverwaltungen keine wirkliche Macht, sondern unterstehen ganz und gar dem zentralen Staatsapparat. Andererseits würde die herrschende Bourgeoisie dadurch – selbst wenn sie heute durch die Behauptung des Prinzips der lokalen Autonomie (übrigens genau das Gegenteil des kommunistischen Prinzips der Zentralisierung der Aktion) ein bisschen in Verlegenheit gebracht werden kann – einen Stützpunkt für ihren Widerstand gegen die Errichtung der proletarischen Macht vorfinden können.

9. In der revolutionären Phase richtet sich die ganze Aktion der Kommunisten danach, die Massenbewegung zu steigern und mit Schlagkraft zu versehen. Sie ergänzen die Propaganda und Vorbereitung mit grossen und häufigen proletarischen Kundgebungen, vor allen in den grossen Städten und versuchen, die ökonomischen Bewegungen für Demonstrationen politischer Natur zu nutzen, in denen das Proletariat seine Absicht, die bürgerliche Macht zu stürzen, erneut behauptet und stärkt.

10. Die kommunistische Partei bringt ihre Propaganda in die Reihen der bürgerlichen Armee. Der kommunistische Antimilitarismus beruht nicht auf einem sterilen Humanitätsgefühl. Er zielt im Gegenteil darauf ab, die Proletarier davon zu überzeugen, dass die Bourgeoisie sie für die Verteidigung der kapitalistischen Interessen bewaffnet und gegen die Sache des Proletariats einsetzt.

11. Die kommunistische Partei bereitet sich darauf vor, im revolutionären Krieg wie ein Generalstab des Proletariats zu wirken; die muss daher ein eigenes Informations- und Kommunikationsnetz bilden; sie muss an erster Stelle die Bewaffnung des Proletariats unterstützen und organisieren.

12. Die kommunistische Partei lässt sich nicht auf Abkommen und Bündnisse mit anderen politischen Bewegungen ein, die mit ihr ein bestimmtes unmittelbares Ziel gemein haben, sich jedoch im Programm der weiteren Aktion von ihr unterscheiden. Ebenso abzulehnen ist die Methode des Bündnisses (der sog. Einheitsfront) mit allen jenen politischen Strömungen des Proletariats, die zwar den Aufstand gegen die Bourgeoisie akzeptieren, aber mit dem kommunistischen Programm für die Entwicklung der weiteren Aktion nicht einverstanden sind.
Nur die kommunistischen Richtlinien können der proletarischen Macht Fortdauer und Erfolg sichern. Ein Anwachsen der auf den Umsturz der bürgerlichen Macht zielenden Kräfte kann daher an sich nicht als günstige Bedingung betrachtet werden, wenn gleichzeitig die kommunistischen Kräfte zu schwach bleiben.

13. Die Sowjets, d. h. die Arbeiter-, Bauern- und Soldatenräte bilden die Organe der proletarischen Macht und können ihre wahre Funktion erst nach dem Sturz der bürgerlichen Herrschaft ausüben.
Die Sowjets sind nicht an sich revolutionäre Kampforganisationen; sie werden erst dann revolutionär, wenn ihre Mehrheit von der kommunistischen Partei erobert wird.
Es ist möglich, dass die Arbeiterräte auch schon vor der Revolution entstehen, in einer akuten Krisenperiode, in der die bürger1iche Staatsmacht in eine ernste Gefahr gebracht wird.
Die Initiative, Sowjets zu bilden, kann in einer revolutionären Situation eine Notwendigkeit für die Partei sein, sie ist aber kein Mittel, um eine solche Situation hervorzurufen.
Im Falle einer Festigung der bürgerlichen Macht kann das Überleben der Räte eine ernste Gefahr für den revolutionären Kampf darstellen, nämlich die Gefahr einer Versöhnung und Verflechtung der proletarischen Organe mit den Institutionen der bürgerlichen Demokratie.

14. Was die Kommunisten kennzeichnet, ist nicht etwa, dass sie unter allen Umständen und in jeder Episode des Klassenkampfes zum sofortigen Einsatz aller proletarischen Kräfte für den allgemeinen Aufstand auffordern, sondern dass sie davon ausgehen, dass der Kampf unausweichlich in den bewaffneten Aufstand mündet und sie das Proletariat darauf vorbereiten, diesen Kampf unter günstigen Bedingungen für den Erfolg und die weitere Entwicklung der Revolution aufnehmen.
Je nach der Lage – was die Partei besser als das übrige Proletariat beurteilen kann – kann sich die Partei also genötigt sehen, für die Beschleunigung oder für die Verzögerung des endgültigen Zusammenstosses zu handeln.
Auf jeden Fall ist es eine spezifische Aufgabe der Partei, sowohl die Abenteurer zu bekämpfen, die die revolutionäre Aktion um jeden Preis überstürzen wollen und somit das Proletariat in die Katastrophe treiben können, als auch die Opportunisten, die die Umstände, die von einer radikalen Aktion abraten, ausnützen, um die revolutionäre Bewegung endgültig zu blockieren und die Massenaktion in Richtung anderer Ziele zu zerstreuen. Die kommunistische Partei muss im Gegenteil die Massenaktion immer mehr auf den Boden der wirkungsvollen Vorbereitung auf den unausbleiblichen bewaffneten Endkampf gegen die Abwehrkräfte der bürgerlichen Ordnung führen.


Source: »Kommunistisches Programm«, Nr.13, S.15–23

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