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»VAE VICTIS« GERMANIA


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»Vae victis« Germania
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»Vae victis« Germania

Bald wird es ein halbes Jahrhundert her sein, dass das Leid, das die Menschheit in dieser schrecklichen Zeit heimgesucht hat, über die Deutschen hereinbrach, währenddessen die »bürgerliche Zivilisation« von dem, was der Höhepunkt ihrer Grösse hätte sein können, zurückgewichen ist.

Als der imperialistische Krieg 1914 ausbrach, bestand die gigantische Täuschung darin, den Konflikt als ideologischen Krieg darzustellen, auf der Verunglimpfung Deutschlands und des deutschen Volkes. Es war nicht der Kapitalismus, der in den unausweichlichen Abgrund seiner Schande und Scham und seiner unverhüllten Barbarei stürzte, wie es die Marxisten verkündeten. Nein, die Zivilisation, die in Zeit und Raum einzigartig war, war das Attribut der Menschheit, das nur einer verletzte: der Deutsche; alle anderen verteidigten sie in einem heiligen Kreuzzug. Die jahrhundertealte Verfluchung ist ganz präsent; sie ist dieselbe wie 1939 und heute.

Die grosse internationale marxistische Bewegung schien sich selbst zu zerreissen. Orthodoxe Marxisten sahen im Krieg die unausweichliche Folge des kapitalistischen Gesellschaftssystems und in der Reaktion des deutschen Kapitals die Auswirkung seines Ausschlusses vom kolonialen Bankett, das auf dem Rücken der unglücklichen farbigen Völker stattfand. Auf der anderen Seite argumentierten die Renegaten, das Proletariat müsse sich für die Verteidigung des lokalen Vaterlandes oder der menschlichen Zivilisation hergeben, wofür es seine eigene Sache, den Aufstieg der sozialistischen Revolution, eintauschen müsse.

Die Renegaten traten auch und vor allem in Deutschland auf; die Bedrohung ging ihrer Meinung nach vom feudalen Russland aus, das dazu tendierte, ein Jahrhundert der Demokratie zu zerstören – genau das, was die Anhänger der Entente den Mittelmächten vorwarfen.

Die Verfälscher des Sozialismus griffen zu allen Mitteln. Aber die Antideutschen, die sich auf die Niedertracht des Rassismus und die Vorherbestimmtheit der Völker zur Rettung oder zum Verderben der ganzen Menschheit stützen, flössten perfiden Hass mit Hilfe des Textes von Tacitus über die Deutschen ein[1], in welchem der lateinische Zivilist dieses Volk, das sich gegen die römisch-imperiale Unterdrückung auflehnte, als ein Rudel von Bestien und wilden Tieren beschrieb, und die als solche zwei Jahrtausende überdauerten.

Im ersten Krieg wurde Deutschland besiegt, aber das war nicht das Verdienst der Sozialisten, die sich zu Kreuzrittern der bürgerlich-liberalen Idee gemacht hatten. Es waren gerade die Sozialisten des gesunden Flügels, die sich für inländischen Defätismus und Bürgerkrieg statt für ausländische Kreuzzüge eingesetzt hatten, die dem Kaiserreich das Grab schaufelten. Die russische Oktoberrevolution beraubte die deutschen Armeen eines mächtigen Gegners, umso mehr, als sie 1918 den Frieden von Brest-Litowsk unterzeichneten.

Aber der Defätismus, die lebendige und grosszügige Schule des Sozialismus, überschritt die eisengespickte Grenze und das grosse deutsche Proletariat verstand die russische Lektion. Die Westfronten gaben nach, und es kam zum Frieden von Versailles und zur Weimarer Republik.

Das deutsche Proletariat hatte zwei Wege. Die eine war die revolutionäre Diktatur und die Gründung einer zweiten, noch gewichtigeren Sowjetrepublik. Der entgegengesetzte Weg war eine Bewegung der nationalen Rache gegen die berüchtigten Versailler Verträge, die – ohne jedoch die fast intakte Produktionsmaschinerie zu demontieren – die Besiegten entwaffneten und das Land, das kapituliert hatte, zu einem einzigen Staat, aber mit zwei durch den unsinnigen »Danziger Korridor« getrennten Gebietsteilen machte.[2]

Die Geschichte der Krisen des deutschen Proletariats, das zwischen diesen beiden Impulsen hin- und hergerissen wurde, ist voller immenser Lehren. Es waren die verräterischen Sozialisten, die Hitlers logische Lösung vorbereiteten, gegen die wieder die gleichen Berge von Gräueltaten vorgebracht wurden.[3]

Wir, die Kommunisten der Moskauer Internationale, wiesen jeden Gedanken an eine Front in einem nationalen Anti-Versailles-Krieg zurück. Aber auch diese Formel wurde aufgeworfen.

Im zweiten deutschen Revanchekrieg schloss Russland, das nun ausserhalb des revolutionären Marxismus stand, für einen Moment einen Block mit Hitler und gaukelte das leninistische Argument vor, Frankreich und England (später Amerika) kämpften aus dem gleichen imperialistischen Motiv wie 1914.

Das war schon schändlich, aber der zweite Schritt war noch schlimmer. Nachdem die Russen den Franzosen, Briten und Amerikanern die Hand gereicht hatten, stürzten sie sich wieder auf die kriminellsten demokratischen Kreuzritter. Die Lebenskraft des Klassendefätismus wurde überall durch zwei Wellen des Verrats ausgelöscht.[4] Deutschland, das ein zweites Mal besiegt wurde, hat sein zweites Versailles noch nicht erlebt, sondern schlimmer. Die Sieger teilten es in zwei Besatzungszonen auf, die zwei getrennte Staaten bilden, allerdings ohne einen Korridor zwischen den beiden Teilen des Gebiets. Es sind zwei Teile, die sich berühren, und auch Berlin ist zweigeteilt.

Problem des Friedens. Mit wem können die Sieger von 1945 Frieden schliessen? Können sie die beiden Teile zu einem einzigen Staat machen, ihn räumen und dann mit seiner Regierung einen Vertrag unterzeichnen? Das wird niemals der Fall sein, denn es ist unmöglich. Das wäre nur so, wenn die monströse Sackgasse von Freiheit, Demokratie und Parlamentarismus nicht, wie der Marxismus seit hundert Jahren weiss, die übelste aller Lügen wäre.

Eine denkbare, aber heute sicher nicht ausgereifte Lösung wäre, dass jede der beiden Siegergruppen ihren Teil Deutschlands annektiert und es zu einem weltweiten bewaffneten Konflikt kommt. Das Gute daran wäre, dass das »verfluchte« deutsche Volk, das teils hier, teils dort kämpft, nicht zum dritten Mal beschuldigt werden könnte, der Kain der modernen Zivilisation zu sein. Es kann eine andere Lösung geben: dass sich das ganze deutsche Volk in einem nationalen Krieg gegen die Unterdrücker in Ost und West erhebt. Dies könnte ein patriotischer Slogan sein, der deutlich macht, dass weder Amerika noch Russland die Wiedervereinigung und damit den Frieden mit Deutschland wollen, während sie kein Interesse an zwei getrennten Friedensverträgen haben.

Wir haben einige Fakten. Russland schliesst den Vertrag mit Ostdeutschland nicht ab. Amerika macht es nicht mit dem isolierten Bonn (das wären nutzlose Aktionen). Der amerikanische Präsident sagte dem russischen Präsidenten in Camp David, er fürchte die deutsche Wiedervereinigung. Ersterer bestritt dies. Aber die Wahrheit ist: Sie haben in einem lockeren Ton gesagt, dass keiner von ihnen ein vereinigtes Deutschland will und dass sie es fürchten. Echte Einigkeit auf dem Gipfel. Eine weitere Tatsache: Man kämpft nicht um Berlin, sondern spielt die Komödie des Kampfes um die U-2, Spionageflüge und Stützpunkte.[5]

Es gibt noch eine eine weitere vielversprechende Aussicht. Nicht ein nationaler Krieg der wieder patriotischen und rassistischen Deutschen gegen alle. Aber ein Bürgerkrieg in den beiden deutschen Staaten gegen die Regierungen, die Helfershelfer Amerikas und Russlands, d.h. eine klassenmässige Erneuerung des deutschen Proletariats, die Wiederkehr der Losung der proletarischen Diktatur und der grossartigen Tradition von Marx.

Fast ein halbes Jahrhundert reichte aus, um festzustellen, dass die russische Richtung des Kampfes für den Kommunismus zum Scheitern verurteilt war. Die Hoffnung kann nur in einer Mission des grossen germanischen Proletariats liegen, die Geschichte mit dem zu füllen, was vom Jahrhundert übrig bleibt. Es geht nicht mehr nur um Europa. Alle Kontinente sind in Bewegung. Obwohl der nationale Ballast für diese farbigen Völker immer noch schwer wiegt, wenn auch mit revolutionärer Wirkung, würde ihr Wegweiser in einem uneingeschränkten Internationalismus der deutschen Einheitsformel liegen; der neue grosse Staat des deutschen Proletariats, der den Kräften aus Ost und West, die alle gesellschaftlich kapitalistisch sind, gegenübersteht.[6]

Die farbigen Völker könnten schnell weiterziehen und Jahrhunderte der Geschichte überspringen. Die heutige Situation ist unklar, aber es scheint schon jetzt, dass China für eine friedliche Koexistenz weniger empfänglich ist als Russland.[7]

Als Peking erfuhr, dass in Camp David die Unterwerfung des weissen deutschen Volkes beschlossen wurde, sprengte vielleicht ein naiver, aber kraftvoller gelber Protestschrei den lausigen Kompromiss.

Nur die Linie von Marx, Lenin und der Klassendiktatur kann die Kräfte, die im Untergrund der Geschichte auf dem ganzen Planeten schlummern, zu einem einzigen Strom bündeln.

Anmerkungen:[8]
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  1. Gemeint ist die »Germania« (bzw. »De origine et moribus Germanorum«), eine kurze ethnographische Darstellung des römischen Historikers Tacitus (ca. 58–120) über die Germanen. Die Schrift wird in der Regel in das Jahr 98 datiert. Tacitus stellt Sitten und Gebräuche der germanischen Völker dar und hebt dabei ihre ihm zufolge sittliche Lebensweise hervor, wie ihr streng geregeltes Familienleben, ihren treuen und aufrichtigen Charakter, ihre Tapferkeit im Krieg und ihren Freiheitswillen. Er weist aber auch auf Schwächen hin, wie ihre Trägheit, ihren Hang zu Würfelspiel und übermässigem Alkoholkonsum. Der Kampf sei bei den Germanen höher bewertet als die Mühe täglicher Arbeit. Er zeichnet sogar das Bild eines faulen, dem Müssiggang verfallenen Volkes, das lieber seine Frauen und Alten arbeiten lasse als sich selber um Haus, Hof und Feld zu kümmern. Tacitus selbst war jedoch nie in Germanien gewesen.
    So schreibt Tacitus etwa im XIV. Kapitel der »Germania«: »Wenn die Gemeinde, in der sie geboren worden sind, durch langen Frieden und Nichtstun in träger Ruhe verharrt, suchen die meisten der jungen Adligen von sich aus diejenigen Stämme auf, die gerade irgendeinen Krieg führen, weil einerseits die Ruhe dem Volk unwillkommen ist und sie andererseits unter Gefahren leichter zu Ruhm gelangen und man eine grosse Gefolgschaft nur durch Gewalt und Krieg erhalten kann; sie verlangen von der Freizügkeit ihres Führers nämlich jenes Kriegsross, jene blutgetränkte und siegreiche Frame [verhältnismässig leichter Speer mit einer knappen und kurzen, aber sehr scharfen Eisenspitze]. Denn Gastmähler und reichliche, wenn auch schmucklose, Zurüstungen zählen als Sold. Mittel für die Grosszügigkeit kommen durch Kriege und Raube. Und man überredet sie nicht so leicht, die Erde zu pflügen oder das Jahr abzuwarten, wie den Feind herauszufordern und Wunden zu verdienen. Ja vielmehr faul und träge scheint es, mit Fleiss zu erwerben, was man mit Blut beschaffen kann.«[⤒]

  2. Die Bildung dieses »Polnischen Korridors«, der geographisch gesehen ein »Zerschneidungskorridor« durch das Deutsche Reich war, gehörte zum 14-Punkte-Programm des nordamerikanischen Präsidenten Woodrow Wilson bei den Verhandlungen zum Friedensvertrag von Versailles. Zu diesen Verhandlungen waren die deutschen Delegierten nicht zugelassen; zur Unterzeichnung des Vertrags wurden sie unter erheblichem aussenpolitischem Druck genötigt. Die Übernahme der Gebiete durch Polen fand mit dem Inkrafttreten des Vertrags am 20. Januar 1920 statt. Die Bevölkerung in dem 1772 von Preussen annektierten Territorium westlich der unteren Weichsel bis zur Ostseeküste war auch 1918 ethnisch sehr gemischt. Die Revision der Grenzziehung, die Ostpreussen vom übrigen Deutschland abtrennte, war ein vorrangiges Ziel aller Regierungen der Weimarer Republik. So erklärte z. B. während einer Wahlkampfrede der Reichsminister für die besetzten Gebiete Gottfried Treviranus, dass Polens Zukunft ohne Änderung der Grenzen nicht sicher sei, was im Nachbarland Polen als Kriegsdrohung verstanden wurde.
    Mit der Machtübernahme der Nationalsozialisten entspannte sich die Situation mit dem Abschluss des deutsch-polnischen Nichtangriffspaktes von 1934 scheinbar, jedoch wurde die Möglichkeit, den Korridor durch Krieg zurückzugewinnen, weiter verfolgt und der Streit um den »Danziger Korridor« und die Stadt Danzig diente unter anderem 1939 als einer der offiziellen Kriegsgründe. Hitler hatte allerdings bereits in einer Besprechung mit führenden Militärs am 23. Mai 1939 erläutert, dass Danzig nicht das Objekt sei, um das es gehe, sondern dass es sich »um die Erweiterung des Lebensraumes im Osten« handele.
    Zu Beginn des Zweiten Weltkriegs bildete der NS-Staat im Herbst 1939 nach dem Überfall auf Polen aus den Gebieten des Korridors und der Freien Stadt Danzig den Reichsgau Danzig-Westpreussen und begann mit der Vertreibung von über 100 000 polnischen Einwohnern und später der Ermordung der jüdischen Bewohner. Nach Ende des Krieges wurden von dort wiederum die Deutschen vertrieben.[⤒]

  3. Die »logische Lösung« Hitlers war natürlich der kapitalistischen »Logik« geschuldet. Die Produktivkräfte waren über den Rahmen des Nationalstaats bereits hinausgewachsen, doch das Korsett der nationalstaatlichen Verfasstheit der kapitalistischen Gesellschaftsformationen und deren ideologischer Rückschlag in Form von allenthalben quasi eingefleischten nationalistischen Denkungsarten evozierten eine derartige »Lösung« – und das galt nicht nur für Deutschland.
    Und die Gräuel, die man dem deutschen bzw. Hitlerschen Versuch einer Neuordnung Kontinentaleuropas unter deutscher Führung anlastete, waren nicht die gleichen als zuvor, nicht die bis dahin üblichen kapitalistischen Grausamkeiten: sie waren in der Tat weitaus extremer, als sich das die italienischen Genossen wohl zu dieser Zeit vorstellen konnten.[⤒]

  4. Tatsächlich war in der Sowjetunion mit dem Überfall der Wehrmacht die Perspektive eines proletarischen Defätismus nicht mehr gegeben, sondern es handelte sich dort objektiv um einen Verteidigungskrieg. Die italienische Kommunistische Linke hat es versäumt, eine klare Analyse des Zweiten Weltkriegs ausserhalb seiner finalen Resultate vorzunehmen, die Zwiespältigkeit des Charakters der deutschen Kriegsführung, nach Westen hin imperialistischer Eroberungskrieg, nach Osten hin brutaler Kolonialisierungskrieg, zu erkennen. Das war während des Krieges, von Westeuropa aus auch nicht möglich gewesen, allein schon aus Mangel der entsprechenden Informationen. Inzwischen aber muss eine differenziertere Analyse der Ereignisse vorgenommen werden.
    Der von der deutschen Bourgeoisie und ihren nazistischen Lakaien angezettelte Krieg gegen die Sowjetunion war kein herkömmliches kriegerisches Unterfangen, sondern ein auf Versklavung und Vernichtung der sowjetischen Bevölkerung angelegtes Unternehmen. Die aufblühende Konkurrenz, der sich unter stalinistischer Führung entwickelnde Kapitalismus in der UdSSR, sollte ausgelöscht, das Territorium in ein Agrargebiet zurückverwandelt und die Bevölkerung um Abermillionen dezimiert werden. Es handelte sich schlichtweg um einen Vernichtungskrieg ungeahnten Ausmasses mit reaktionärster Zielsetzung, und einem solchen Ereignis lassen sich keine althergebrachten (wenn auch »revolutionären«) Schemata blind überstülpen.
    Freilich hat die Konterrevolution à la Stalin in der Sowjetunion die dortige revolutionäre Arbeiterbewegung, zuletzt in den grossen Säuberungen, zerschlagen und nun seine eigenen imperialistischen Ziele manifestiert. Im Sowjetisch-Finnischen Krieg (Ende November 1939 bis Mitte März 1940) kam dies klar zum Vorschein, wie auch in den zuvor im Ribbentrop-Molotow-Pakt geheim festgelegten Interessenssphären, auch wenn beides noch als Versuch seitens der UdSSR gesehen werden kann, die künftige Frontlinie in Richtung der Gegner zu verschieben. Aber es gab zu diesem Zeitpunkt in Deutschland, wo der revolutionäre Defätismus – wie im gesamten Westen – sicherlich am Platz gewesen ist, keine revolutionäre Arbeiterbewegung mehr, die dies hätte zum Tragen bringen können, und auch nicht in der Sowjetunion, die einen künftigen »Frieden ohne Annexionen« hätte fordern können und müssen. Im Land dieser Sieger waren die überlebenden Proletarier vor allem mit einem beschäftigt: zu überleben – in den von der deutschen Soldateska verheerten Gebieten, in denen noch zwei Jahre nach Kriegsende gehungert wurde, ganz im Gegensatz zur sowjetischen Besatzungszone in Deutschland, in der die Besatzer die Ernährung organisierten.
    In Abwandlung eines Zitats von Karl Marx liesse sich schreiben: »Die sowjetische Arbeiterklasse hat den Krieg, den zu hindern nicht in ihrer Macht stand, energisch unterstützt, als einen Krieg für die Unabhängigkeit der UdSSR und für die Befreiung der Sowjetunion und Europas von dem erdrückenden Alp des Dritten Reiches. Es waren die sowjetischen Industriearbeiter, welche mit den ländlichen Arbeitern zusammen die Sehnen und Muskeln heldenhafter Heere lieferten, während sie ihre halbverhungerten Familien zurückliessen. Dezimiert durch die Schlachten im Auslande, werden sie noch einmal dezimiert werden durch das Elend zu Hause.« (Vergleiche: Karl Marx, »Zweite Adresse über den Deutsch-Französischen Krieg«, MEW, Bd. 17, S. 276)
    Der Sowjetstaat nötigte nach dem Kriege hingegen den eroberten Territorien sein spezifisches System des nachholenden Kapitalismus, eine Art Staatsindustrialismus auf und hüllte das ganze Prozedere in ein sozialistisches Mäntelchen. Für zuvor kapitalistisch entwickeltere Länder wie Tschechien, Ungarn oder die DDR ökonomisch gesehen eher ein Rückschritt.[⤒]

  5. Am 1. Mai 1960 wurde ein amerikanisches U-2-Spionageflugzeug von den sowjetischen Luftverteidigungskräften abgeschossen, als es tief im sowjetischen Hoheitsgebiet fotografische Luftaufklärung betrieb. Das einsitzige Flugzeug mit dem Piloten Powers wurde von einer Boden-Luft-Rakete getroffen und stürzte in der Nähe von Swerdlowsk (dem heutigen Jekaterinburg) ab. Der Pilot konnte mit dem Fallschirm abspringen und wurde gefangen genommen.
    Die US-Behörden erkannten den Vorfall zunächst als Verlust eines zivilen Wetterforschungsflugzeugs der NASA an, sahen sich jedoch gezwungen, den wahren Zweck der Mission zuzugeben, als die sowjetische Regierung einige Tage später den gefangenen Piloten und Teile der Überwachungsausrüstung der U-2 vorlegte, darunter auch Fotos von sowjetischen Militärstützpunkten, die während der Mission aufgenommen worden waren.
    Der Vorfall ereignete sich während der Präsidentschaft von Dwight D. Eisenhower und der Premierministerschaft von Nikita Chruschtschow, etwa zwei Wochen vor der geplanten Eröffnung eines Ost-West-Gipfels in Paris. Chruschtschow und Eisenhower hatten sich im September 1959 in Camp David in Maryland persönlich getroffen, und das scheinbare Tauwetter in den Beziehungen zwischen den USA und der Sowjetunion hatte in der ganzen Welt die Hoffnung auf eine friedliche Lösung des andauernden Kalten Krieges geweckt. Der U2-Zwischenfall brachte die Vereinigten Staaten in grosse Verlegenheit und zerstörte den freundschaftlichen »Geist von Camp David«, der acht Monate lang geherrscht hatte, so dass der geplante Pariser Gipfel abgesagt wurde.
    Powers wurde wegen Spionage zu drei Jahren Haft und sieben Jahren Zwangsarbeit verurteilt, kam aber zwei Jahre später, im Februar 1962, im Rahmen eines Gefangenenaustauschs gegen den sowjetischen Geheimdienstoffizier und »Atomspion« Rudolf Abel frei.
    Im Juli 1958 hatte der US-Präsident Eisenhower den pakistanischen Premierminister Feroz Khan Noon um die Erlaubnis ersucht, dass die USA eine geheime Geheimdiensteinrichtung in Pakistan einrichten und das Spionageflugzeug U-2 von Pakistan aus fliegen durfte. Eine in Badaber (Peshawar Air Station), 16 km von Peshawar entfernt, errichtete Einrichtung diente nun als Deckung für eine gross angelegte Abhöraktion der Nationalen Sicherheitsbehörde der Vereinigten Staaten (NSA). Nach diesem Vorfall warnte Chruschtschow Pakistan, dass es zu einem Ziel der sowjetischen Atomstreitkräfte geworden sei. Auch die japanische Regierung musste zugeben, dass U-2-Flugzeuge ebenfalls auf US-Basen in Japan stationiert waren, was bedeutete, dass auch Japan Ziel sowjetischer Atomraketen sein könnte.[⤒]

  6. Es handelt sich hier um eine rein spekulative Feststellung, die 1960 nur aus Unkenntnis in Italien über die Situation in den beiden deutschen Staaten und die Lage der jeweiligen Arbeiterklasse in dieser Form getroffen werden konnte. Im Westen war das »Wirtschaftswunder« im Gange, das den reformistischen Kräften in der generell desorientierten Arbeiterklasse Oberhand verschafft hatte, und auch in der DDR, in der ja sogar vorgeblich »die Arbeiterklasse« an der Macht war, ging es zu dieser Zeit allgemein noch »aufwärts«, trotz der nicht unerheblichen Fluchtbewegung gen Westen. Der Mauerbau folgte erst ein Jahr später. Ein »neuer grosser Staat des deutschen Proletariats« war wirklichkeitsfern.[⤒]

  7. Der Eindruck konnte 1960 entstehen, der Grad der »Empfänglichkeit« Chinas für eine »friedliche Koexistenz« sollte sich aber wenige Jahre später ändern. Zwischen 1949 und 1971 waren die Beziehungen zwischen den USA und China durchweg feindselig, mit häufigen Propagandaangriffen in beide Richtungen. Trotz der offiziellen Nichtanerkennung hielten die Vereinigten Staaten und die Volksrepublik China von 1954 bis 1970 136 Treffen auf Botschafterebene ab, zunächst in Genf und von 1958 bis 1970 in Warschau. Das Ende der 1960er Jahre brachte eine Zeit des Wandels. Als der amerikanische Präsident Johnson 1968 beschloss, den Vietnamkrieg zu beenden, vermittelte dies China den Eindruck, dass die USA kein Interesse mehr an einer Expansion in Asien hatten, während die UdSSR zu einer ernsthaften Bedrohung wurde. Dies wurde für die Volksrepublik China nach dem chinesisch-sowjetischen Grenzkonflikt von 1969 zu einem besonders wichtigen Anliegen. Richard Nixon erwähnte 1970 in seiner Antrittsrede als Präsident der USA, dass die beiden Länder nach einer Ära der Konfrontation in eine Ära der Verhandlungen eintreten würden. Im Juli 1971 täuschte Henry Kissinger während einer Reise nach Pakistan eine Krankheit vor und trat einen Tag lang nicht in der Öffentlichkeit auf. In Wirklichkeit befand er sich auf einer streng geheimen Mission in Peking, um mit dem chinesischen Premierminister Zhou Enlai zu verhandeln. Am 15. Juli 1971 enthüllte Präsident Nixon die Mission und gab bekannt, dass er eine Einladung zu einem Besuch in der VR China angenommen hatte. Am 1. März 1979 richteten die beiden Länder offiziell Botschaften in den Hauptstädten der jeweils anderen Seite ein. In diesem Jahr begann auch die militärische Zusammenarbeit zwischen den USA und China; amerikanische Waffenverkäufe an China wurden eingeleitet, und 1981 wurde bekannt, dass in Xinjiang, nahe der sowjetischen Grenze, ein gemeinsamer US-amerikanisch-chinesischer Abhörposten betrieben wurde. Der Besuch von Vizepremier Deng Xiaoping im Januar 1979 in Washington war der Auftakt zu einer Reihe wichtiger, hochrangiger Gespräche, die bis zum Frühjahr 1989 andauerten. Dies führte zu zahlreichen bilateralen Abkommen, insbesondere im Bereich des wissenschaftlichen, technologischen und kulturellen Austauschs sowie der Handelsbeziehungen. Von da an verschlechterten sich die sino-amerikanischen Beziehungen wieder, paralell zum wirtschaftlich-kapitalistischen Aufstieg Chinas zu einem Hauptkonkurrenten der USA.[⤒]

  8. Alle Anmerkungen stammen von den Übersetzern (sinistra.net) und sind nicht Teil des ursprünglichen Artikels.[⤒]


Source: «Il Programma Comunista», № 11, Juni 1960. Übersetzung und Anmerkungen: sinistra.net, Januar 2022

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