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HEGEL, STALIN… UND DIE NÄHMASCHINEN


Content:

Hegel, Stalin… und die Nähmaschinen
Stalins Vernunftstaat
Die Wirklichkeit der stalinistischen Planung
Der Wendepunkt im Handel
Die Bedeutung der Wendung
Was ist der Sozialismus?
Source


Hegel, Stalin… und die Nähmaschinen

Im August 1843 gab Marx die Redaktion der »Neuen Rheinischen Zeitung« auf und zog sich für einige Monate nach Kreuznach zurück, um endgültig mit Hegels »Rechtsphilosophien« abzurechnen. Vor 130 Jahren also zeigte Marx, wie für Hegel die Familie und die bürgerliche Gesellschaft von Produzenten des Staates zu Produkten des Staates, oder besser: der Staatsidee wurden.

»Die Bedingung wird also das Bedingte, das Bestimmende wird als das Bestimmte, das Produzierende wird als das Produkt seines Produkts gesetzt.« (MEW Bd. 1, S. 207)

Gegen Hegel wird Marx 1843 zeigen, dass »die Familie und die bürgerliche Gesellschaft sich selbst zum Staat erheben«, während Hegel dagegen 1821 die Verhältnisse zwischen Staat und Gesellschaft folgendermassen definierte:

»§ 261: ›Gegen die Sphären des Privatrechts und Privatwohls, der Familie und der bürgerlichen Gesellschaft, ist der Staat einerseits eine äusserliche Notwendigkeit und ihre höhere Macht, deren Natur, ihre Gesetze sowie ihre Interessen untergeordnet und davon abhängig sind, aber andererseits ist er ihr immanenter Zweck und hat seine Stärke in der Einheit seines allgemeinen Endzweckes und der besonderen Interessen der Individuen darin, dass sie insofern Pflichten gegen ihn haben, als sie zugleich Rechte haben.‹ (§ 155)«

Marx beginnt seine »Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie« mit dem Studium dieser Paragraphen. Er erklärt, dass der Staat nicht zugleich äussere Notwendigkeit und immanenter Zweck sein kann. Indem er zeigt, dass die bürgerliche Gesellschaft die Grundlage ist, aus der der Staat hervorgeht, beweist er, dass sich jener nicht entwickeln und von der bürgerlichen Gesellschaft trennen kann, um sie zu beherrschen und zu unterdrücken, wenn sie nicht durch Klassenantagonismus zerrissen ist. Er beweist auch, dass der moderne Staat der Herrschaftsapparat der Klasse ist, die das Wesen der bürgerlichen Gesellschaft ausmacht: die Bourgeoisie; und in der bürgerlichen Gesellschaft bildet sich eine Klasse, die die Negation der bürgerlichen Gesellschaft ist.

So stellt Marx das Problem der Bildung dieser Klasse des Proletariats:

»Wo also ist die positive Möglichkeit der deutschen Emanzipation?
Antwort: In der Bildung einer Klasse mit radikalen Ketten, einer Klasse der bürgerlichen Gesellschaft, welche die Verneinung dieser Gesellschaft ist, eines Standes, welcher die Auflösung aller Stände ist, eine Sphäre, welche einen universellen Charakter durch ihre universellen Leiden besitzt und kein besonderes Recht in Anspruch nimmt, weil kein besonderes Unrecht, sondern das Unrecht schlechthin an ihr verübt wird, welche nicht mehr auf einen historischen, sondern nur auf einen, den menschlichen Titel provozieren kann, welche in keinem einzigen Gegensatz zu den Voraussetzungen des deutschen Staatswesens steht, einer Sphäre endlich, welche sich nicht emanzipieren kann, ohne sich von allen übrigen Sphären der Gesellschaft und damit alle übrigen Sphären der Gesellschaft zu emanzipieren, welche mit einem Wort der völlige Verlust des Menschen ist, also nur durch die völlige Wiedergewinnung des Menschen sich selbst gewinnen kann.
Diese Auflösung der Gesellschaft als ein besonderer Stand ist das Proletariat

So zeigte Marx 1848, dass die Herrschaft des Proletariats die Auflösung des Staates und der bürgerlichen Gesellschaft mit sich bringt und
eine Gesellschaft ohne Klasse und ohne Staat gebiert.

Stalins Vernunftstaat

1943, hundert Jahre nach der endgültigen Widerlegung der Hegelschen Rechtsphilosophie durch Marx, erschien in der UdSSR ein Artikel, von russischen Ökonomen gemeinsam verfasst, mit dem Titel: »Der ökonomische Gedanke und die Lehre der politischen Ökonomie in der UdSSR« (»Cahiers de l’économie soviètique«, 1946, № 4).

Hier bestätigen die russischen Ökonomen kategorisch, was das stalinistische Dogma sein wird:

1) In der UdSSR wird eine sozialistische Wirtschaft aufgebaut,
2) in der sozialistischen Wirtschaft bleibt das Wertgesetz bestehen, jedoch ist das Wertgesetz in einer sozialistischen Wirtschaft keine Kraft mehr, die die gesellschaftliche Produktion beherrscht, – aber die gesellschaftliche Produktion funktioniert nach einem Plan.

Das Wertgesetz ist das Oberste Gesetz der Klasse, die das Wesen der bürgerlichen Gesellschaft ausmacht: der Bourgeoisie, wenn der Arbeiter, der unserem Ruf folgt, dies schwer begreiflich findet, dann erinnere er sich nur daran, was sein Chef alles austüftelt, um ihm seinen Lohn zu kürzen oder ihn auf die Strasse zu setzen, um seinen Profit zu erhöhen oder zu retten; er denke nur daran, mit welchem »Gewissen« sein Hauswirt ihn rausschmeisst, wenn er die Miete nicht bezahlt oder daran, mit welcher Sorgfalt der Händler täglich versucht, ihn übers Ohr zu nauen; da gibt’s nichts zu deuteln: diese Welt der Schieberei, des Handels, des legalen Raubes ist eine Welt, in der das Wertgesetz herrscht.

Marx durchdringt in seinem Hauptwerk, dem »Kapital«, das Wesen dieser umgestürzten Welt, in der das Wertgesetz herrscht, er hat nicht gezeigt, wie sich die Werte austauschen, ein in höchstem Masse interessantes Phänomen für die Bourgeois, deren Hauptbetätigung dies ausmacht; sondern er hat gezeigt, wie der Wert produziert wird, und das geht in höchstem Masse die Arbeiter an, denn es ist genau ihre Arbeitskraft, die allen Wert produziert. Im »Kapital« zeigt Marx, dass da, wo Werte ausgetauscht werden, sich der Wert durch die Ausbeutung und die Vergrösserung des Elends der Arbeiter verwertet, – dass das Pressen von Mehrwert aus den Arbeitern, das Grundprinzip der bürgerlichen Gesellschaft und des Wertgesetzes, durch die Gewalt des bürgerlichen Staates geschützt, perpetuiert und möglich gemacht wird. Aus alledem hat Marx den revolutionären Schluss gezogen, dass das Proletariat zuerst mit Gewalt den bürgerlichen Staat zerschlagen muss und an seine Stelle seinen eigenen Staat stellen muss: also, dass es sich zur herrschenden Klasse konstituieren muss, dann zeigt Marx, dass das Proletariat sich nur zur herrschenden Klasse konstituieren kann, um der Mehrwertausbeutung, und folglich dem Wertaustausch, dem Wertgesetz, ein Ende zu setzen, wenn der proletarische Staat diese Funktion einmal erfüllt haben wird, wird er sich und die antagonistisch klassengespaltene Gesellschaft auflösen. An seiner Stelle wird sich eine »Gesellschaft« ohne Klassen und ohne Staat entwickeln, in der die menschliche Gattung zum ersten Mal in ihrer Geschichte die äussere Natur und die eigene Natur beherrschen wird, die Natur vermenschlichen und den Menschen natürlich machen wird.

Durch die Umkehrung der Hegelschen Rechtsphilosophie hat Marx also die Analyse der bürgerlichen Gesellschaft auf ihren letzten Begriff gebracht; und da kommen genau hundert Jahre später die russischen Ökonomen mit ihrer »Entdeckung«, dass in der UdSSR eine »sozialistische« Wirtschaft aufgebaut werde, in der das Wertgesetz bestehen bleibe, und dass ausserdem »das Wertgesetz… keine Kraft mehr« sei, die »die gesellschaftliche Produktion beherrsche«, sondern die »gesellschaftliche Produktion funktioniere nach einem Plan

Auf die Frage: »Welche Kraft setzt den Plan durch, der dann seinerseits das Wertgesetz beherrscht?« antworten die russischen Ökonomen 1943 mit einem einzigen Wort: »Der Staat«. In der Tat

»drückt sich in einer sozialistischen Gesellschaftsordnung die den Regierenden wohlbekannte objektive Notwendigkeit, der sowjetische Staat, durch das Bewusstsein und den Willen des Menschen aus.«

So stellte sich 1943 der Staat von Stalin als der perfekte hegelsche Vernunftstaat dar; denn er ist befähigt, das wesentliche Gesetz der bürgerlichen Gesellschaft zu beherrschen und auszunutzen: Das Wertgesetz.

1821 hatte der alte Hegel schon die Illusionen des russischen Sozial-Nationalismus, des stalinistischen Staatssozialismus definiert:

»Aber die Regeln, die das Privateigentum betreffen, müssen höheren Rechtssphären, einem kollektiven Sein, dem Staat untergeordnet sein. Demnach können solche Ausnahmen nicht auf dem Zufall gründen, auf der individuellen Laune oder dem privaten Nutzen – sondern auf der vernünftigen Organisation des Staates.«

Die Anarchie der bürgerlichen Gesellschaft ist die wirkliche Grundlage des »Vernunftstaates« Stalins.

Offene Bourgeois, sogenannte prosowjetische Kommunisten und letztendlich alle Welt, stellen die russische Frage folgendermassen: Marx hatte vorausgesehen, dass die Krise der kapitalistischen Gesellschaft das Proletariat zwingen würde, sich eine immer einheitlichere politische Organisation zu geben und den bürgerlichen Staat zu zerstören, um seine eigene Diktatur zu errichten. Im Oktober 1917 hat sich das alles in Russland bewahrheitet. Aber Marx hatte vorausgesehen, dass der proletarische Staat verschwinden würde, indem er die Geburt einer klassenlosen Gesellschaft, ohne Staat, und einer nicht-kapitalistischen Wirtschaft, d. h. einer Wirtschaft ohne Lohnarbeit, ohne Markt und ohne Geld einleite.

Dennoch hat sich dies alles in Russland nicht bewahrheitet. In Russland besteht der Staat ebenso wie der Lohn, das Geld, der Markt, die Waren, das Kapital, der Profit, der Zins und die Grundrente; also stimmt die heutige russische Gesellschaft nicht mit den Vorhersagungen des Marxismus überein. Alle, Freunde oder erklärte Feinde der UdSSR, sagen das und erkennen es an; ausser uns. Was die Feinde schwätzen, ist überflüssig zu zitieren, die Arbeiter hören es vom früh bis spät im Radio; aber sehen wir uns mal an, was die besten Freunde der UdSSR, ihre eigenen Ökonomen sagen:

»Die Vorschläge des Genossen Stalin bringen eine Menge Neuheiten, die weder von Marx noch Lenin vorhergesehen werden konnten.« (S. 18, op. cit.)

In der »Kritik des Gothaer Programms« geht Marx von der Annahme aus, dass es in der ersten Phase des Kommunismus weder Handel noch Geld gäbe und der Produzent einen Arbeitsschein von der Gesellschaft erhalte:

»Er erhält von der Gesellschaft einen Schein, dass er soundso viel Arbeit geliefert hat (nach Abzug seiner Arbeit für die gemeinschaftlichen Fonds) und zieht mit diesem Schein aus dem gesellschaftlichen Vorrat an Konsumtionsmitteln soviel heraus, als gleich viel Arbeit kostet. Diese Voraussicht hat sich nicht verwirklicht. Stalin hat nachgewiesen, dass Handel und Geld im Stadium des Sozialismus nicht überschritten werden könne.« (K. Ostrowitianow, »Das Manifest der Kommunisten und der Aufbau des Kommunismus in der UdSSR«, »Vaprosy Ekonomiki«, Nr. 4, April 1948.)

Demnach erkennen sie alle, dass die heutige russische Gesellschaft nichts mit dem von Marx vorhergesehenen Sozialismus zu tun hat. Was ist Russland dann? Welche Eigenarten unterscheiden es von den anderen Ländern, wo der alte, alltägliche, wahlbekannte und banale Kapitalismus herrscht? Selbst in der Antwort auf diese Frage sind sich Freunde und erklärte Freinde der UdSSR einig und geben sich den Bruderkuss: denn, so antworten sie alle, in Russland gehören die Fabriken dem Staat. Und der Staat kann gewissermassen tun, was er will: der Staat plant die Produktion.

Dies behaupteten 1943 die besten Freunde der UdSSR, ihre eigenen Ökonomen:

»Das Wertgesetz ist in einer sozialistischen Ökonomie keine Kraft mehr, die die gesellschaftliche Produktion beherrscht, vielmehr funktioniert die gesellschaftliche Produktion nach einem Plan«, da im »Sozialismus die von den Führern der Gesellschaft, dem sowjetischen Staat, wohlbekannte objektive Notwendigkeit sich durch das Bewusstsein und den Willen des Menschen ausdrückt.«

Dasselbe behaupteten auch 1940 die erklärten Feinde der UdSSR, die Sozialdemokraten, durch ihren offiziellen Theoretiker Rudolf Hilferding:

»Wenn der Staat der alleinige Eigentümer der Produktionsmittel wird, ist das Funktionieren der kapitalistischen Wirtschaft unmöglich gemacht durch die Zerstörung des Mechanismus, der den Lebenssaft in diesem System kreisen lässt.« (R. Hilferding: »Staatskapitalismus oder totalitäre Staatswirtschaft« in »Courrier Socialiste«, antisowjetische Zeitschrift in russischer Sprache, Mai 1940).

Kurzum: Freund und Feind sind sich einig, dass in Russland der Staat die zivile (bürgerliche) Gesellschaft bedingt, determiniert und produziert.

An diesem Punkt angelangt, erklären die Feinde der UdSSR, dass dies schlecht sei und fordern Freiheit und Demokratie; die Freunde der UdSSR bestätigen, dass dies gut sei. Wir aber erinnern daran, dass dies nichts anderes als das alte Hegel’sche Dogma ist, das von Marx 1843 vernichtet wurde:

»Die Bedingung wird aber als das Bedingte, das Bestimmende wird als das Bestimmte, das Produzierende wird als das Produkt seines Produkts gesetzt« (MEW, Bd.1, S. 207).

Gegen Hegel bewies Marx, dass die bürgerliche Gesellschaft den Staat bedingt, bestimmt und produziert. Wir revolutionären Marxisten haben diese These verteidigt und werden sie auch weiterhin verteidigen, die, wäre sie falsch, den Zusammenbruch der marxistischen Theorie mit sich brächte und jegliche revolutionäre Perspektive für das Proletariat ruinierte.

Aber noch einmal: was ist dann Russland? Wir haben schon vor Jahren ununwunden verneint, dass der Stalin’sche Staat die bürgerliche Gesellschaft bestimmen könne, dass der russische Planerstaat sich des Wertgesetzes bedienen könne; wir haben verneint, dass die Abwesenheit von privaten Eigentumstiteln auch die Abwesenheit von Profit bedeute. Im Gegenteil haben wir schon vor Jahren behauptet, dass die bürgerliche Gesellschaft den Stalin’schen Staat produziere. D. h., dass das Wertgesetz dem russischen Planerstaat seine Kraft aufzwingt; wir haben bekräftigt, dass der Unternehmer-Staat nicht abnahm, sondern in Russland die private Aneignung des Profits beträchtlich wuchs.

Wir haben also schon vor Jahren vertreten – und wir tun es immer noch – dass die russische Gesellschaft nichts mit dem von Marx vorhergesehenen Sozialismus zu tun hat; eine augenfällige Tatsache, die von allen anerkannt und zugestanden wird; darüber hinaus behaupten wir fest, dass die russische Gesellschaft kapitalistisch ist, dass die russische Wirtschaft kapitalistisch ist, dass der russische Staat kapitalistisch ist und, dass der russische Kapitalismus sich durch nichts qualitativ vom alten, wohlbekannten, banalen Kapitalismus aller Zeiten und aller Länder unterscheidet.

Und heute, 1965, mehr als 20 Jahre, nachdem der russische Staat sich als der vollkommene Vernunftstaat der Welt vorgestellt hatte, gestehen seine Vertreter, ohne es weder zu wissen noch zu wollen, dass die Grundlage des russischen Staates die Anarchie der bürgerlichen Gesellschaft ist; sie gestehen auch, dass seit mehr als 20 Jahren die »Leiter der russischen Gesellschaft« untereinander um die Zügel des Staates kämpfen.

Heute ist das grosse Scheinheiligtum, was der stalinistische Vernunftstaat mal gewesen ist, nur mehr ein profanes Grab. Über die Leichen der »Führer der Gesellschaft« gehen die Mikojans, Breschnews und Kossygins, Instrumente des russischen Kapitalismus.

Die Wirklichkeit der stalinistischen Planung

Wir nehmen einen in der »Prawda« dargestellten Fall: Eine Nähmaschinenfabrik in Podolsk stösst bei ihrer Produktion auf Schwierigkeiten. 1 200 000 Maschinen haben die Fabrik verlassen, werden nicht verkauft und die Handelsorganisationen wollen, bei guter Logik, nichts mehr davon wissen diesen Maschinentyp zu kaufen… Aber es gibt schlimmeres… Die Handelsorganisationen haben der Fabrik geraten, in diesem Jahr nur 750 000 Maschinen zu produzieren, wohingegen sie jedoch 3 Millionen produzieren kann. Unterdes hat das Planungsministerium die Zahl auf 1 Million festgesetzt.

Der Podolsker Betrieb ist die grösste Nähmaschinenfabrik der UdSSR: mehr als zwei Drittel der Produktion können nicht vom Markt aufgenommen werden. Und dennoch ist die Fabrik aus Podolsk Staatseigentum. Aber der Planerstaat kann die Überproduktionskrisen nicht verhindern!

Die »Prawda« vom 23. Dezember 1964 schrieb:

»Es wäre ein leichtes, einen Teil der Produktion umzuwandeln; aber es liegt im Interesse der Sownarchose, dass durch vorangegangene Berechnungen festgesetzte Produktionsniveau aufrechtzuerhalten und die Geschäfte mit unnüzen Nähmaschinen zu füllen, die kein Mensch kaufen will.«

Was machen nun die Bürokraten der Sownarchose, um die Produktionsstatistiken aufrechtzuerhalten? Lasst uns das Kunstwerk der Planer enthüllen: Der Fabrikpreis der Nähmaschinen beläuft sich auf 16 Rubel; der Holzkasten kostet 50 Rubel: macht zusammen 66 Rubel. Die von der Sownarchose berechneten Produktionskosten sind sehr unterschiedlich: zu den 66 durch die Fabrik festgesetzten Rubel kommen auf dem Papier noch 50 Rubel für den Schreiner des Holzkoffers hinzu; summa summarum 116 Rubel.

Die »Prawda« fährt fort:
»Dies scheint paradox, aber sogar die unverkauften Maschinen sind ein Geschäft für alle: Für die Fabriken, die Sownarchose und die Banken, welche die Investitionen finanzieren.«

Auf diese Weise gelingt es ihnen allen zu beweisen, dass der Plan erfüllt wurde. Für alle zählen nur die 25 vom Plan vorgesehenen Rubel, die an den Staat gezahlt werden. Was die Fabriken anbelangt, können die Tricks, die angewandt werden, um den Plan zu erfüllen, verschieden sein. Die Nachforschung der »Prawda« hat ergeben, dass der Schreiner für 1965 seine Produktion um die Hälfte verringern wird, aber dabei das Volumen seiner Geschäfte von 8 auf 11 Millionen Rubel bringen wird: Man wird »Buchhaltungsholzkoffer« fabrizieren, die vom Verbraucher nicht nachgefragt werden.

In der UdSSR sind die Fabriken Staatseigentum. Aber die »Prawda« erkennt an, dass in der UdSSR die Produktion von Nähmaschinen beispielsweise »ein Geschäft für alle« darstellt, abgesehen vom Staat, der juristisch der Unternehmer ist. Der einzige Unterschied zwischen dem russischen und dem westlichen Kapitalismus liegt in der Tatsache, dass sich alles realisiert, selbst wenn die Maschinen nicht verkauft werden.

Und in der Tat berechnet die Fabrik die Kosten der Maschine: 16 R., der Schreiner berechnet die Kosten des Holzkoffers: 50 R., und die Sownarchose fügt weitere 50 Rubel hinzu. Macht insgesamt 116 Rubel. Für jede Maschine erhält der Staat 25 Rubel. Es bleiben also 91 R., die in der Sphäre der Banken und der Betriebe abgefangen werden. Der Staat verkauft die Nähmaschinen für 116 Rubel; er realisiert auf dem Markt den in den Waren enthaltenen Mehrwert und verteilt ihn wieder in der Sphäre der Banken und Unternehmen – in dem komplizierten Prozess, den wir gerade haben funktionieren sehen.

Und dennoch ist der Staat der Unternehmer; die Bank gehört dem Staat, Fabrik und Sownarchose gehören dem Staat. Das formal. Aber was ist die wirkliche Funktion des Staates? Wir haben es soeben gesehen und die »Prawda« hat es ausgesprochen: der Staat akkumuliert das Geld, das er unter die Betriebe verteilt, der Staat interveniert in die Wirtschaft, um die private Aneignung des Mehrwertes zu garantieren!

Der Wendepunkt im Handel

Die »Prawda«, die die internationale bürgerliche Presse wiedergibt, bekräftigt, dass die stalinistische Planung überholt sei. Öffentlich verkündet sie den Skandal der grössten Nähmaschinenfabrik der UdSSR, deren Produktionskapazität bei 3 Millionen liegt, hingegen 2 250 000 Nähmaschinen unverkauft bleiben.

Was ist also das Heilmittel, um derartige Abenteuer zu verhindern?

Anfang Dezember hat Kossygin, Präsident des Ministerrates, betont, dass von nun an die Unternehmen der Konjunktur des Marktes und den Veränderungen in der Nachfrage Rechnung tragen müssten.

Wie wird also die neue russische Fabrik funktionieren?

Bei der Darstellung von Produktionseinrichtungen für Textilien in Bolschewitschka bei Moskau, schrieb die stalinistische Tageszeitung »Il Giorno« vom 9. Dezember 1964:

»Es handelt sich um ein Unternehmen, aus dem Generaldirektor Pjotr K. Noskow versuchen wird, Profit zu ziehen und dessen Produktionspläne er selbst aufstellen wird… Pjotr K. Noskow hat die verschiedenen Aspekte seiner neuen Position als Unternehmensleiter unterstrichen, wobei er bemerkte, dass er persönlich die Löhne festsetzen muss, die Preise aufstellen und entscheiden muss, wo die Rohmaterialien gekauft werden…«

Dieser Betrieb ist nicht der einzige. Die »Unità«, das Organ der KPI, bringt am 24. Dezember 1964 folgende Notiz:

»Eine zweite Massnahme, die von Kossygin bestätigt würde, ist die Ausweitung der Erfahrung, die von den beiden Fabriken in Moskau und Gorki gemacht wurde, auf hunderte anderer Leichtindustriebetriebe. 1965 müssen also diese Fabriken ihre Produktion nach der Nachfrage der Geschäfte und der Handelsorganisationen ausführen.«

Das ist noch nicht alles. Dieselbe »Unità« vom 24. Dezember informiert uns auch, dass…

»…in der Hauptstadt von einigen Sowchosen Geschäfte eröffnet wurden, um den landwirtschaftlichen Überschuss, der von den Staatssilos nicht absorbiert wird, direkt abzusetzen.«

Und die »Prawda« vom 15. Dezember schreibt:

»Der schöpferischen Initiative der Kolchosen öffnet sich ein weites Betätigungsfeld. Partei und Regierung haben ihnen das Recht eingeräumt, die eigene Produktion zu planen. Wer weiss schon besser als der Bauer, welche Bebauung programmiert werden muss?«

Die Bedeutung der Wendung

Was in der UdSSR vorgeht, kann man nur so erklären: die russische kapitalistische Industrie ist endgültig in den Weltmarkt eingetreten. Diese Tatsache hat den russischen Kapitalismus vor die Probleme der auf diesem Weltmarkt herrschenden Konkurrenz gestellt. Er stellte fest, dass das stalinistische zentralisierte Planungssystem im Verhältnis zu den europäischen und amerikanischen Kapitalismen die private und parasitäre Aneignung des Profits vergrösserte. Die neueren Reformen sanktionieren die Autonomie der Betriebe und stellen also den Versuch dar, die parasitäre russische Bourgeoisie zu zwingen, den Profit zu reinvestieren.

Marx hat ein für alle Mal das drängende Problem der russischen und der Weltbourgeoisie in folgende Worte gefasst:

»Die Profitrate, d. h. der verhältnismässige Kapitalzuwachs ist vor allem wichtig für alle neuen, sich selbständig gruppierenden Kapitalableger. Und sobald die Kapitalbildung ausschliesslich in die Hände einiger weniger, fertiger Grosskapitale fiele, für die die Masse des Profits die Rate aufwiegt, wäre überhaupt das belebende Feuer der Produktion erloschen. Sie würde einschlummern. Die Profitrate ist die treibende Macht in der kapitalistischen Produktion, und es wird nur produziert, was und soweit es mit Profit produziert werden kann.« [MEW, Bd. 25, S. 269]

Hierher rührt die Angst der russischen und westlichen Ökonomen vor dem Fall der Wachstumsrate der industriellen Produktion in Russland, wie auch in der Welt.

Es handelt sich also darum, die Akkumulation des Kapitals wiederzubeleben, und somit die Investitionen: aber damit dies vonstatten geht, damit der Mehrwert nicht mehr parasitär verschwendet wird, sondern akkumuliert und reinvestiert, muss das höchste Prinzip des Kapitals geheiligt werden: »Es wird nur das produziert, was mit Profit produziert werden kann, und nur wenn es mit Profit produziert werden kann

Dieses höchste Prinzip haben die Erben Chruschtschows 1965 von Moskau aus verkündet. Aber damit haben sie nicht nur bewiesen, was wir revolutionären Marxisten immer bestätigt haben: die russische Wirtschaft ist kapitalistisch, sondern sie haben durch ihre Anstrengung die Akkumulation des russischen Kapitals zu beleben auch der Welt angekündigt, dass eine katastrophale Krise des Weltkapitalismus vorbereitet wird. Im Grossen und Ganzen sind sie Zauberlehrlinge geworden, – unfähig, die Kräfte, die sie hervorgerufen, zu beherrschen, geschweige denn zu verstehen.

Was ist der Sozialismus?

Die internationale bürgerliche Presse hat mit Freudengeschrei die Reformen der russischen Industrie begrüsst und behauptet, das sei der Bankrott des Sozialismus. Das ist eine unverschämte Lüge! Weder die stalinistische noch die Chruschtschow'sche Ökonomie waren jemals sozialistisch.

Angesichts der bürgerlichen Lügen und der ihrer opportunistischen Diener schlagen wir »Staat und Revolution« von Lenin auf, wo er das Funktionieren einer sozialistischen Ökonomie beschreibt:

»Die Produktionsmittel sind schon nicht mehr Privateigentum einzelner Personen. Die Produktionsmittel gehören der ganzen Gesellschaft. Jedes Mitglied der Gesellschaft leistet einen gewissen Teil gesellschaftlich notwendiger Arbeit und erhält von der Gesellschaft einen Schein darüber, dass es ein gewisses Quantum Arbeit geliefert hat. Auf diesen Schein erhält es ein gewisses Quantum Produkte aus den gesellschaftlichen Vorräten an Konsumtionsmitteln. Nach Abzug des Arbeitsquantums, das für die gemeinschaftlichen Fonds bestimmt ist, erhält jeder Arbeiter also von der Gesellschaft so viel zurück, wie er ihr gegeben hat.« [LW, Bd. 25, S. 489]

Das und nur das ist der Sozialismus. Aber er kann nur auf internationaler Ebene verwirklicht werden, und nur unter der Bedingung, dass sich die Arbeiter der Welt in einer einzigen politischen internationalen Organisation vereinigen und die Macht der Bourgeoisie in allen Ländern zerstören.

Das wusste Lenin genau, ebenso wie er wusste und bestätigte, dass das russische Proletariat niemals zum Sozialismus im isolierten Russland gelangen könnte, wenn das internationale Proletariat ihm nicht zu Hilfe käme. Und darum, um die proletarische Revolution in der übrigen Welt voranzutreiben, gründete er im März 1919 die kommunistische Internationale.

Die Kommunistische Internationale, gegründet von Lenin, wurde von Stalin und den Stalinisten unter dem Vorwand des »Aufbaus des Sozialismus in einem Land« zerstört. Heute ist es klar, dass man in Russland niemals den Sozialismus, sondern ausschliesslich den Kapitalismus aufgebaut hat.

Der Sozialismus von Lenin und Marx, das Ziel, dass das Proletariat verfolgen muss, um seine eigene Emanzipation zu verwirklichen, bleibt also heute noch das einzige Ziel, für das es sich zu kämpfen lohnt. Es bleibt auch heute noch das wirkliche und einzige Programm, das die Emanzipation der Lohnsklaven kennzeichnet, das Programm, das die kommunistische Partei immer verteidigt und weiter verteidigen wird.

Das ist das Programm, für das der Kampf wieder beginnen muss!


Source: »Programme Communiste«, Nr.31, April-Juni 1965, deutsche Übersetzung unter dem falschen Titel »Stalin, Hegel und der Vernunftstaat« in »Faden der Zeit«, Nr.2.
Namen und Zitate berichtigt, anderes korrigiert, sininistra.net März 2021.

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