IBKL – Internationale Bibliothek der Kommunistischen Linken
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GIBT ES DEN GERECHTEN LOHN?


Content:

Gibt es den gerechten Lohn?
Vollkommen freiwillig
Blick unter die Oberfläche
Des einen Freud, des andern Leid
Politische Lohnzuschläge
Der »Gerechtigkeitssinn« des Kapitals
Staatstragende Gewerkschaften
Lohnsystem abschaffen!
Source


Gibt es den gerechten Lohn?

Seit es Entlohnung für Arbeit gibt stellt sich auch die Frage nach ihrer angemessenen Bezahlung. Und seither, vor allem nachdem sich das Lohnsystem mit der kapitalistischen Produktionsweise als eines seiner grundlegenden Bestandteile verallgemeinert hat, spukt die Annahme der möglichen Existenz eines »gerechten Lohns« in den Köpfen der Lohnempfänger.

Letztere bestimmen sich im allgemeinen dadurch, dass sie – ausser ihrer Arbeitskraft – nichts zu verkaufen haben. Sie sind auf Gedeih und Verderb darauf angewiesen »ihre Haut« zu Markte zu tragen, auf dass dieselbe in den Schwitzbuden der Produktion gegerbt werde. Mit einem Wort, sie sind Lohnsklaven, Menschen, die gegen Entgelt alle möglichen – und unmöglichen – Arbeiten zu verrichten gezwungen sind.

Ihre Entlohnung erhalten sie vom Lohn- und daher Arbeitgeber, der Klasse der Besitzer der Produktionsmittel, die im Supermarkt der Arbeitswilligen nach den billigsten und wohlfeilsten Gelegenheiten Ausschau hält. Sie nutzen dabei den Vorteil, dass es mehr Nichtbesitzende als Besitzende gibt – und dass diese Nichtverfüger über Produktionsmittel oder andere eigentümlichen Einkommensquellen, wenn sie denn arbeiten, den Reichtum der schon jetzt Besitzenden mehren ohne dabei selbst zu Besitzern zu werden. Wäre dies anders, so würde es schliesslich bald nur noch Besitzende geben, der Arbeits(kräfte)markt wäre leergefegt und das im Grunde nur für Wenige heitre Spiel würde unterbleiben. Keinem Arbeiter erzählt man Neues, wenn man erkennt, dass man durch »ehrliche« Arbeit zu nichts kommt…

Für den Arbeitgeber, den Abnehmer von Arbeitskraft, stellt sich die Frage des »gerechten Lohns« alleine nach dem Gesichtspunkt des Marktes, denn für ihn ist der Marktpreis der Arbeitskraft entscheidend. Zahlt er mehr als den üblichen Preis, erscheint ihm der zu zahlende Lohn als ungerechtfertigt, zahlt er darunter, so hat er ein Schnäppchen gemacht und ist's zufrieden, schliesslich beruht die Lohnübereinkunft auf einem Vertrag zwischen Beiden, Kapitalist und Arbeiter, zwischen zwei formal gleichen Vertragspartnern: »Sie müssen ja nicht bei uns arbeiten, es gibt genug andere, die wären froh darum…«.

»Vollkommen freiwillig«

Während sich der Kapitalist im Heer der Arbeitslosen mit Arbeitskraft verproviantiert, unter den für kürzere oder längere Zeit überschüssigen Arbeitskräften, sieht sich der Lohnsklave anderen Bedrängnissen ausgesetzt, die ihn früher oder später dazu zwingen sich »vollkommen freiwillig« dem Lohndiktat des Kapitals zu unterwerfen. Im industrialisierten Europa ist dies zwar gegenwärtig nicht mehr unbedingt der Hunger, der ihn dazu zwingt, aber die Vermieter, die Stadtwerke, die Handelsketten, der medizinische Apparat, die Freizeitindustrie usw., alle brauchen wenig Überredungskunst, um früher oder später auch den »letzten Drückeberger« in »Lohn und Brot« zu drängen – wobei ein stehendes Heer an Arbeitslosen dem Kapital gar nicht so ungelegen ist…

Die formal gleichen Vertragspartner haben also eine höchst unterschiedliche Ausgangsposition, wenn sie über die Höhe des Lohns verhandeln. Während der eine kaufen kann, muss der andere verkaufen. Schon allein von dieser Ausgangslage her gesehen, kann von »Gerechtigkeit« nicht gesprochen werden, da die Vertragspartner vollkommen ungleichen Bedingungen unterworfen sind. Dies ist nur anders (es ändert aber nichts am zugrundeliegenden Prinzip), wenn der Kapitalist spezialisierte Arbeitskräfte braucht, diese aber auf dem Markt nicht zu finden sind… dann aber setzt er alle seine politischen Mühlen in Gang um solche Arbeitskräfte gesellschaftlich erzeugen zu lassen, bis sie schliesslich auch wieder im Übermass vorhanden sind – oder er importiert die entsprechenden Menschen aus dem Ausland, bis zur vollständigen Befriedigung seiner Verwertungsbedürfnisse. Letzteres Verfahren birgt unter anderem dem Kapital den Vorteil, den überzähligen »Import« wieder ausschaffen zu können…

Das alles ist im Sinne des bürgerlichen Gesetzbuches ge-»recht und billig« und kein Arbeitsgericht der Welt nimmt an diesen Zuständen Anstoss. Wie zu sehen war, wird schon diese Form der Gerechtigkeit nicht allen Beteiligten gerecht, begünstigt auf nicht sehr wundersame Weise die Besitzenden und Reichen, während das Heer der Lohnsklaven dazu verdammt ist, um die freien Stellen zu buhlen und sich gegenseitig Konkurrenz zu machen.

Blick unter die Oberfläche

Soweit die Oberfläche des Geschehens. Schaut man etwas tiefer in die Anatomie der kapitalistischen Gesellschaft, ergeben sich noch viel weitreichendere Schlüsse bezüglich der Lohnfrage.

Aller materieller Reichtum entspringt den Händen der Arbeiterklasse (die Bauern lassen wir hier als »absterbende Klasse« mal ausser acht) – und der Natur selbst natürlich. Die Häuser, die Waren im Supermarkt, die Bücher, Computer, Autos und die sonstigen Beglückungen der Warenwelt sind von Arbeitern umgeformte Naturstoffe, die dadurch ihre Nützlichkeit für den menschlichen Ge- und Verbrauch erhalten haben, genauso wie die Rohstoffe und die Maschinerie, die zum produktiven Verzehr in den Fabriken gebraucht wird. So ist es seltsam genug, dass so wenig Menschen über den Widerspruch stolpern, dass die Arbeiter, obwohl sie so gut wie alles durch ihre Arbeit hervorbringen, nicht die Reichen dieser Gesellschaft sind sondern am unteren Ende der »sozialen Leiter« stehen. Der Schluss liegt nahe, dass es hier also nicht mit ge-»rechten Dingen« zugeht:

Die Arbeiterin, zum Beispiel, geht in die Fabrik, die ihr nicht gehört. An den Besitzer derselben hat sie ihre Arbeitskraft verkauft, mit der sie nun – stempeln nicht vergessen! – an Maschinen, die ihr nicht gehören, eine Arbeit verrichtet, deren Produkt ihr nicht gehört. Das einzige, was sie davon hat, ist eben ihr Lohn. Dieser wird ihr für eine Zeitspanne bezahlt und während dieser Zeitspanne eignet sich der Kapitalist alle ihre physischen und geistigen Kräfte vermittels des Produktionsprozesses an. Er ist der Käufer, sie die Verkäuferin, basta.

Der Lohn, den sie für diese Tätigkeit erhält, bemisst sich im Durchschnitt und unter »normalen« Verhältnissen in etwa an dem, was sie zum Lebensunterhalt braucht (was in den unterschiedlichen Ländern und Regionen durchaus verschieden sein kann). Der Monatslohn entspricht, gehen wir mal vom günstigen Fall aus, dem Wert ihrer monatlichen Aufwendungen für ihre Lebensmittel, die sie benötigt, um ihre Arbeitskraft wiederherzustellen und im nächsten Monat dem Kapitalisten wieder zur Verfügung zu stehen. Er bemisst sich also nicht an ihrer Arbeitsleistung, sondern lediglich an den äusserlichen Voraussetzungen zu dieser Verausgabung der Arbeitskraft (der Stücklohn, sei hier nur kurz erwähnt, ist lediglich eine Umrechnung des Zeitlohns nach Stücken und dient lediglich zur Ankurbelung der Produktivität – und der Konkurrenz unter den Arbeitern). Während sie allerdings arbeitet, setzt sie dem Produkt, das sie bearbeitet, ununterbrochen mehr Wert zu, als den Wert der Lebensmittel, die sie selbst zu ihrer Reproduktion benötigt, oder anders ausgedrückt, sie verbraucht weniger als sie zu arbeiten imstande ist. Sie arbeitet folglich für andere mit – für die Nichtarbeiter dieser Gesellschaft. Ihr Mehrprodukt, ihre Arbeit über ihre eigenen ureigensten Bedürfnisse hinaus, ist das ganze Geheimnis des Wesens des Ausbeutungsprozesses.

Ihr selbst entzieht sich meist die Kenntnis über dieses Geschehen, obwohl sie selbst unmittelbar darin verwickelt ist, da ihr kein Kapitalist der Welt je offenlegen würde, was er an ihr und durch sie verdient. Schliesslich ist er der Eigentümer ihrer Arbeitsleistung und der Rohstoffe und Maschinen, die sie während ihrer Arbeit vernutzt hat, und des Endprodukts der ganzen Operation. Und ausserdem könnte sie so auf die vermessene Idee kommen zumindest einen Teil ihrer Mehrarbeit in ihrer Lohntüte sehen zu wollen und so den Profit ihrer Arbeitgeber zu schmälern.

In der Tat können die Kapitalisten und alle diejenigen, die selbst nicht zum Prozess der Vermehrung des materiellen Reichtums beitragen, nur von der Mehrarbeit der Kollegin, die hier stellvertretend für alle ausgebeuteten Lohnarbeiter steht, leben, sie verzehren quasi den Mehrwert, dessen einziger Ursprung diese Mehrarbeit ist. Und der Kapitalist tut natürlich alles, damit sich diese Zustände nicht ändern und verteidigt sie bis aufs Messer – zusammen mit all denjenigen, die das Kapital aus den Mehrwerttöpfen begünstigt und mittel- wie unmittelbar von der permanenten Enteignung der Arbeiter profitieren.

Des einen Freud, des andern Leid

Das Lohnsystem beruht darauf, den Arbeitern nicht das Produkt ihrer Hände zu bezahlen (damit würde jeglicher Verdienst aus dem Ausbeutungsprozess hinfällig und folglich unterbleiben), sondern lediglich ihre Subsistenzmittel zur Wiederherstellung ihrer Arbeitskraft. Die Fähigkeit, mehr zu arbeiten als verzehren zu können, bringt dem Arbeiter letztendlich nur Verdruss und der Kapitalseite den einseitigen Gewinn. Dies hat aber auch zur Folge, dass der Kapitalist weiss, dass niedrige Löhne seine Gewinnspanne erhöhen, sie hohe Löhne aber schmälern, was von seinem Standpunkt aus tunlichst zu umgehen ist.

Historisch haben die Arbeiter im Zuge der Verallgemeinerung des Lohnsystems schnell gemerkt, dass wenn sie dem Kapital nur individuell in den Lohnverhandlungen gegenübertreten sie stets den kürzeren ziehen und ihr Lohn schnell sogar unter den Wert ihrer Arbeitskraft sinkt, sie also nicht mehr in der Lage waren ihre Arbeitskraft unter mehr oder minder menschlichen Bedingungen oder überhaupt zu reproduzieren. Ihr einziges Gegengift gegen die ungezügelte Profitsucht der Unternehmer bestand – und besteht bis heute – in der Organisierung zu Gewerkschaften, die der Lohndrückerei Einhalt gebieten sollten. Dass dies den Kapitalisten ein Dorn im Auge war und ist, versteht sich von selbst. Durch die Gewerkschaften waren sie nun jedenfalls in die Lage versetzt, Widerstand zu leisten und ihre Lebensbedingungen erträglicher zu gestalten (es ist hier und im weiteren im allgemeinen nur von Westeuropa die Rede). In der Anfangsperiode der Gewerkschaften wurde die Forderung nach dem »gerechten Lohn« zum erstenmal erhoben. Davon aber später. Vorerst genügt zu sehen, dass die Lohnhöhe abhängig ist von einem Kampf zwischen den Arbeitern und den Arbeitgebern, ihr daher nicht irgendeine objektive Bemessungsgrundlage zugrundeliegt sondern lediglich ein Kräfteverhältnis – zwischen den Klassen – das beständig neu ausgemessen wird. Dies mag nur derjenige als »gerecht« empfinden, der die dem Kapitalismus innewohnenden »Wolfsgesetze« völlig verinnerlicht hat.

Das stetige Auf und Ab in der Lohnentwicklung wird die Lohnsklaven nie in die Lage versetzen weitaus mehr Lohn zu erhalten als es die Wiederherstellung ihrer Arbeitskraft erfordert. Es gibt in der Regel stets mehr Arbeitsuchende als Arbeit, so dass das Kapital stets am längeren Hebel sitzt und die von ihnen erzeugte Konkurrenz unter den Arbeitern ausnutzen kann und oft auch noch schürt. Selbst langandauernde Streiks der Arbeiter sind keine Allzweckwaffe, denn erstens hat auch das Kapital sich organisiert und stützt sich gegenseitig oder ruft seinen staatlichen Apparat zur Hilfe, oder es findet genug elende Gestalten, die sich sogar zu einem Streikbruch hergeben. Darüber hinaus können die Arbeiter, da sie ausser ihrer Arbeitskraft ja nichts besitzen, derartige Streiks nur in begrenztem Umfang durchstehen, es sei denn, die Solidarität unter den Arbeitern gewinnt die Oberhand gegenüber dem gewöhnlichen Konkurrenzdruck. Das Kapital dahingegen besitzt oft in Gestalt seines angehäuften Reichtums und durch staatlichen Flankenschutz genug langen Atem zum Aussitzen eines auch langandauernden Streiks.

Politische Lohnzuschläge

Mit der Entwicklung der kapitalistischen Gesellschaft kommen natürlich noch andere Parameter zur Bestimmung des Lohns hinzu. In den industrialisierten Ländern, deren Position auf den Weltmärkten stark ist, fallen auch »politische Lohnzuschläge« ins Gewicht, mit denen man sich den »Arbeitsfrieden« erkauft, damit die Produktion etwas reibungsloser vonstatten geht. Einzurechnen ist da auch ein »historischer Lohnzuschlag«, der den Erfahrungen Rechnung zollt, die das Kapital mit der geschichtlichen Potenz der Arbeiterklasse machen musste, die zur Oktoberrevolution 1917 und den damit zusammenhängenden revolutionären Bewegungen der Arbeiter in den Industrieländern führte. Davon geblieben ist beim Kapital vorerst die Einsicht, dass in der Lohntüte nach Massgabe etwas über den unmittelbaren Verzehr hinaus enthalten sein sollte. Diese »politischen Lohnzuschläge« setzen aber voraus, dass das Kapital sich das leisten kann und will.

Ein anderer Aspekt dieser »politischen Lohnzuschläge« war die Systemkonkurrenz zwischen dem Westen und dem Ostblock, der selbst nur den Worten nach »sozialistisch« war, in der Tat aber lediglich eine besondere Variante kapitalistischer Verhältnisse darstellte, in denen das Lohnsystem soweit ausser Kraft gesetzt war, als permanenter Arbeitskräftemangel die Ostkapitalisten zwang die Löhne im allgemeinen auf einem niedrigen Niveau einzufrieren – und Streikverbot zu erlassen.

Heute beutet das wiedervereinigte Kapital den kapitalistischen Konkurs des Ostens auf zweifache Weise aus. Zum einen »beweist« man damit die »Unmöglichkeit des Kommunismus«, zum andern beginnt man fröhlich mit der Demontage all dieser supplementären »politischen« Lohnleistungen. Schlimmer noch, in manchen der ehemaligen Ostblockstaaten bleibt man den Arbeitern sogar den Lohn ganz schuldig und es herrschen dort soziale Zustände unter der Arbeiterschaft, die stark an den westeuropäischen Frühkapitalismus erinnern. Aber an all dem trägt ja der vermeintliche »Kommunismus« noch die Schuld…

Der »Gerechtigkeitssinn« des Kapitals

Nach diesem für das Kapital so herrlichen Triumph über den »Kommunismus«, mit dem man den Arbeitern ihre ureigenste Perspektive genommen zu haben glaubt, fühlen sich die Unternehmer nun wieder in der Lage auf Offensivkurs gegen die Arbeiter zu gehen – also deren Löhne zu senken, wie auch alle mittelbaren Leistungen ihres staatlichen Systems: man senkt hie und da, spart bei allen erdenklichen »sozialen Leistungen«, die doch im Grunde nur von der Arbeit der Arbeiter gespeist wurden. Als Grund für diese Massnahmen wird der internationale Konkurrenzdruck aufgeführt, die Globalisierung der Produktion, die wachsenden Kosten für die medizinische Versorgung der Bevölkerung, die steigenden Aufwendungen des Staates und alle sonstigen Strophen des abgeschmackten kapitalistischen Klagelieds. Wie es auch immer gesungen wird, am Ende müssen die Arbeiter für alles bezahlen, indem sie für weniger Lohn mehr arbeiten, und sollten sie gerade nicht gebraucht werden, dann weniger verzehren sollen. Der Gerechtigkeitssinn des Kapitals geht da sehr weit: so soll die Arbeitslosen- und Sozialhilfe gesenkt werden, weil es nach bürgerlicher Lesart »ungerecht« ist, wenn der – höflich formuliert – durchaus knapp bemessene notwendige Lebensunterhalt für einen Sozialhilfeempfänger unwesentlich unter der niedrigsten Lohngruppe liegt. Dies zeigt, wie sehr der Lohnstandard inzwischen gesunken ist, und wie sehr das Kapital selbst in den Industrieländern alle Scheu verloren hat die Menschen in menschenunwürdigste Verhältnisse zu pressen.

Ausserhalb Westeuropas, der USA, Japans etc. hatten die gleichen Kapitalisten diese Scheu noch nie. Schliesslich verlagerte man ja die Produktion in ferne Länder, weil dort unter anderem der »politische Lohnzuschlag« – bei ohnehin niedrigen Löhnen – nicht an die Arbeiter gezahlt zu werden brauchte, sondern nur, in viel geringerem Umfang, an diktatorische Statthalter kapitalistischer Interessen, denen man gleichzeitig noch Panzer, Polizeiausrüstungen und ähnliche Waren verkaufen konnte, damit wenigstens dort »Lohngerechtigkeit« im ultimativen kapitalistischen Sinne hergestellt werden konnte. Gleichzeitig benutzt man nun diese Verhältnisse dort, um die Löhne und den Lebensstandard der Arbeiter hier in den Industrieländern weiter nach unten zu drücken. Um die Arbeiter unter seine Botmässigkeit gefügig zu machen droht ihnen das Kapital mit Entlassung und Entzug der Nachfrage nach Arbeitskraft. Diese Drohung wirkt umso mehr, werden gleichzeitig Arbeitslosen- und Sozialhilfe gekürzt, da so das kommende Elend noch absehbarer wird. Die Lohnspirale dreht sich nach unten und die Arbeitskosten werden noch kapitalgerechter.

Staatstragende Gewerkschaften

Die Gewerkschaften der wichtigsten Industrieländer haben sich im gleichen Zeitraum von reinen Arbeiterorganisationen zu staatstragenden Apparaten entwickelt, die sich nicht mehr ausschliesslich der Erhöhung der Löhne ihrer Mitglieder und Verbesserung ihrer Arbeits- und Lebensbedingungen verpflichtet fühlen, sondern von einem Standpunkt aus operieren, dem die Sorge um die Reproduktion des kapitalistischen Systems und seiner Produktionsverhältnisse vorausgeht. Sie haben sich also zu einer Art spezifisch autonomen Mittler gemacht, die die berechtigten Ansprüche der Arbeiter auf einen grösseren Anteil an ihrer Arbeit dämpfen und zugleich »wirtschaftliche Vernunft« im Sinne des Kapitals predigen. Sie fühlen sich im Lohnsystem zuhause und stellen es in keiner Form in Frage, im Gegenteil sogar, sie verpflichten ihre Mitglieder zur politischen Anerkennung des kapitalistischen Systems. Für das Kapital sind diese Apparate zwar lästige, aber politisch noch unverzichtbare Instrumente zur Kontrolle über die Arbeiter, für die Arbeiter sind sie eine stumpfe Waffe in der Verteidigung ihrer Löhne geworden. Ihre Tätigkeit führt weder zur Durchsetzung »gerechter« Löhne, was wie gesehen ohnehin ein Unding ist, mit dem manche dieser Gewerkschaften aber gern prahlen, noch zu einer Garantie gegen Lohnkürzung und Sozialabbau. Aus diesem Grunde gibt es in Westeuropa inzwischen wieder Versuche von Arbeitern, ihre Arbeitskämpfe ausserhalb dieser Gewerkschaftsapparate zu führen.

Aber selbst wenn dies gelänge, wäre ein »gerechter Lohn« nie zu erreichen, sondern es wäre allenfalls ein gewisser Schutz gegen allzu willkürliche Ausbeutung und gegen Löhne, die noch nicht einmal die Reproduktion der Arbeiter in vollem Umfang erlauben. Die kapitalistischen Verhältnisse sorgen stets dafür, dass sich die Löhne langfristig an der unteren Grenze des möglichen bewegen, mögen die Arbeiter und sonstigen Lohnabhängigen auch alle erdenklichen Hebel und Mittel in Bewegung setzen. Ihre gesellschaftliche Stellung innerhalb dieses ökonomisch-politischen Systems verhindert einen dauerhaften Erfolg derartiger Bestrebungen zur Lohnanhebung.

Lohnsystem abschaffen!

Eine Lohnerhöhung trägt nicht zur Verteuerung der Waren bei, da die Waren im Durchschnitt nur zu ihrem Wert verkauft werden können, die Unternehmer können also eine Lohnerhöhung nicht durch Verteuerung der Waren ausgleichen, sondern müssen auf einen Teil ihres Profits verzichten. Dies aber ist nicht eine Frage der Moral, sondern lediglich der politischen Stärke und Macht. Beides haben nicht die Lohnarbeiter, sondern die kapitalistische Klasse. Wenn aber die Arbeiter durch ihre Organisierung Stärke und Macht gewinnen, dann nicht, um einen reell nicht auslotbaren »gerechten« Lohn zu erhalten, sondern um ihren Lebensunterhalt zu sichern, was nur dann wirklich Sinn macht, wenn sie sich nicht auf das Auf und Ab der Lohnscharmützel beschränken sondern sie darüber hinaus die Abschaffung des Lohnsystems an sich anpeilen.

Schon vor 118 Jahren schrieb Friedrich Engels:

Ein gerechter Tagelohn für ein gerechtes Tagewerk! Mancherlei wäre auch über das gerechte Tagewerk zu sagen, dessen Gerechtigkeit auf genau der gleichen Höhe steht wie die der Löhne […] Aus dem Dargelegten geht ganz klar hervor, dass sich das alte Losungswort überlebt hat und heutzutage kaum noch Stich hält. Die Gerechtigkeit der politischen Ökonomie, wie sie in Wirklichkeit die Gesetze fixiert, die die bestehende Gesellschaft beherrschen, diese Gerechtigkeit ist ganz auf der einen Seite – auf der des Kapitals. Begrabt damit den alten Wahlspruch für immer, und ersetzt ihn durch einen anderen:
Besitzer der Arbeitsmittel – der Rohstoffe, Fabriken und Maschinen – soll das arbeitende Volk selbst sein.

(MEW, Bd.19, S.249/50).


Source: Konrad Gmelin, in »MoMa«, »Monatsmagazin für neue Politik«, Nr.5.99, S.20-24.

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