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LENINS SCHRIFT »DER ›LINKE RADIKALISMUS‹, DIE KINDERKRANKHEIT IM KOMMUNISMUS« – DIE VERURTEILUNG DER KÜNFTIGEN RENEGATEN (II)


Seit über hundert Jahren ist diese Schrift das beliebteste Opfer aller opportunistischen Verdrehungen und Verfälschungen. Schon durch die Art und Weise, wie er von dieser Schrift Gebrauch macht, zeigt sich der opportunistische Verräter in seiner ganzen Niederträchtigkeit.


Content:

Lenins Schrift »Der ›linke Radikalismus‹, die Kinderkrankheit im Kommunismus« – die Verurteilung der künftigen Renegaten – Inhaltsverzeichnis und Vorwort
I. Die Szene des weltgeschichtlichen Dramas im Jahre 1920

II. Russische Geschichte oder Weltgeschichte
Russische Revolution und Weltrevolution
Grundzüge aller Revolutionen
Die Lehren aus Russland
Die Diktatur und die Philister
Immer dieselbe Verleumdung
Notes
Source

III. Kardinalsteine des Bolschewismus: Zentralisation und Disziplin
IV. Hauptetappen in der Geschichte des Bolschewismus
V. Kampf gegen die zwei antibolschewistischen Fronten: den Reformismus und den Anarchismus
VI. Der Schlüssel für die »von Lenin erlaubten Kompromisse«
VII. Anhang zu den italienischen Fragen


Lenins Schrift »Der ›linke Radikalismus‹, die Kinderkrankheit im Kommunismus« – die Verurteilung der künftigen Renegaten

II. Russische Geschichte oder Weltgeschichte

Russische Revolution und Weltrevolution

Aus »Dringlichkeitsgründen« musste Lenin in seiner Kritik am »linken Radikalismus« viele der Thesen des II. Kongresses vorwegnehmen, mit denen bald darauf alle theoretischen Fragen unter seiner massgebenden persönlichen Mitwirkung systematisch aufgearbeitet wurden. (In der für den Autor charakteristischen Bescheidenheit fügte er aber seinem Manuskript den Untertitel hinzu: »Versuch einer populären Darstellung der marxistischen Strategie und Taktik«. Genau wie bei dem Klassiker über den Imperialismus!)

Die erste Frage, die sich stellt, ist die, ob diese Leute, die, wie die Mode es verlangt, Lenins Buch »gegen die kommunistische Linke«, d. h. gegen die einzige Strömung, die dem Marxismus treu geblieben ist, zitieren, überhaupt die erste Seite des Buches je gelesen haben.

Denn bereits die erste Seite reicht völlig aus, um das Meisterwerk des stalinistischen Verrats, die ominöse »Theorie« des Sozialismus in einem Land zu zerschlagen, deren konterrevolutionäre Folgen die Verbrechen aller Sozialpatrioten des Jahres 1914 in den Schatten stellen. Nach wie vor versteifen sich jedoch die stalin-chruschtschowschen Zeitungen und der »berichtigte« kurze Abriss der Geschichte der KPdSU [»Kurzer Lehrgang der Geschichte der KPdSU (B)«] auf die Behauptung, jene vermeintliche Theorie sei von Lenin erfunden worden!

Welcher ultrarechte Sozialist der I. Internationale ist zu Lebzeiten je dazu gekommen, Gemeinheiten wie die folgende, die wir der »Unità« vom 31. August 1960 entnehmen, zu schreiben?
»Die ›Linken‹ gingen von der falschen Voraussetzung aus, dass die Errungenschaften der sozialistischen Revolution in Russland lediglich mit Hilfe einer sozialistischen Weltrevolution gesichert werden konnten, und folgerten daraus, dass die erste Aufgabe der sowjetischen Macht darin bestand, durch einen Krieg gegen den Weltimperialismus die Revolution in den anderen Ländern zu stimulieren«.

Da liegt schon eine erste Lüge, denn die Linken wollten die Revolution ausserhalb Russlands mit der Aktion der Internationale der kommunistischen Parteien und nicht mit einem Krieg des russischen Staates »stimulieren«; letztere Auffassung entspricht vielmehr der Demagogie des frühen »Stalinismus«, der sich insofern vom modernen und in hohem Masse niederträchtigeren Chruschtschowismus unterschied. Die kolossale Lüge geht aber zu Lasten Lenins:
»Wie das neue Handbuch unterstreicht, hat Lenin bewiesen, dass diese Theorie der ›Stimulierung‹ der internationalen Revolution nichts mit dem Marxismus zu tun hat. Für den Marxismus hängt die Entwicklung der Revolution von dem Heranreifen des Klassenkampfes innerhalb der jeweiligen kapitalistischen Länder ab. Hier liegt in der Tat eine der Voraussetzungen der leninistischen Theorie der ›friedlichen Koexistenz‹«!

Für die Autoren des neuen Handbuchs (die sich rühmen, gewisse Lügen der alten Fassung, z. B. die über Trotzkis Mordverschwörung gegen Lenin in der Zeit von Brest-Litowsk entfernt zu haben, dennoch weiterhin die Lüge verbreiten, Trotzki hätte die Politik Lenins nicht befolgt) bedeutet Marxismus-Leninismus wohl die Theorie der »Einschläferung« der Revolution!

Nun ist das Thema des ersten Kapitels gerade die internationale Bedeutung der russischen Revolution. Man muss Lenins ausdrückliche Erklärungen über die allgemeine internationale Gültigkeit einiger Grundzüge der russischen Revolution mit den offiziellen Thesen zeitgenössischer »Leninisten« des Kalibers eines Chruschtschow oder eines Togliatti vergleichen, um das Ganze richtig auf sich einwirken zu lassen. Seit dem XX. russischen Kongress[18] verkünden diese Herrschaften, dass jedes Land seinen eigenen »nationalen« Weg zum Sozialismus habe und dass dieser Weg also jeweils anders als der russische sein werde. Welches sind aber die Kennzeichen der russischen Revolution, die sich diesen Taschenspielertricks zufolge nicht, wie Lenin es sagte, »mit historischer Unvermeidlichkeit« in allen anderen Ländern wiederholen werden? Sie sagen es ganz offen. Zu den rein zufälligen oder zufällig russischen Kennzeichen gehören: die Diktatur des Proletariats, das Sowjetsystem, der revolutionäre Terrorismus und auch (warum denn auch nicht?) der bewaffnete Aufstand. Selbst die Verjagung des Parlaments (der konstituierenden Versammlung) sei eine Besonderheit der russischen Revolution und keineswegs, wie wir damals begeistert und solidarisch mit dem Prinzip des wirklichen Lenin riefen, eine grundlegende Massnahme in der ersten historischen Verwirklichung der proletarischen Revolution nach den Richtlinien des Marxismus, deren Wiederholung wir für alle Länder erwarteten. Lesen wir jetzt Lenin:
»In den ersten Monaten nach der Eroberung der politischen Macht durch das Proletariat in Russland (25. Oktober/7. November 1917) konnte es scheinen, dass infolge der ungeheuren Unterschiede zwischen dem rückständigen Russland und den fortgeschrittenen westeuropäischen Ländern die Revolution des Proletariats in diesen Ländern der unsern sehr wenig ähnlich sein werde«[19].

Obwohl es sich um eine »populäre Darstellung« und nicht um ein Palimpsest[20] handelt, müssen wir uns schon hier aufhalten. Erstens stellt Lenin nicht die russische Revolution und die Weltrevolution einander gegenüber, sondern redet von den fortgeschrittenen westeuropäischen Ländern.

1920 erwartete Lenin, und wir mit ihm (es steht jedem zu, sich einer Solidargemeinschaft der Trottel zugehörig zu erklären, es sollte aber verboten sein, dass Leute, die Lenins Auffassungen von A bis Z auf den Kopf stellen, sich Leninisten nennen), erwarteten wir alle also die Revolution nicht in Asien oder in Amerika, sondern zwischen Russland und dem Atlantik und sahen darin die Bedingung dafür, dass die sozialistische Revolution in Russland nicht zur historischen Kapitulation gezwungen würde, wie es dann tatsächlich geschehen sollte.

Und darum konnte es scheinen, dass die Revolution in Westeuropa sehr wenig Ähnlichkeit mit der russischen aufweisen würde, und wie sollte man dies verstehen? Russland war vor allem im politischen Sinne rückständig gewesen; erst seit einigen Monaten hatte es den feudalen Despotismus hinter sich gelassen. Die russische Revolution hätte demzufolge ganz anders verlaufen können als die Revolution in einem Lande, das wie Frankreich oder England seit Jahrhunderten den Despotismus und den Feudalismus zerschlagen hatte. Dieser und alle anderen Unterschiede hätten effektiv zur Vorhersage verleiten können, die proletarische Revolution würde in Russland weniger scharfe Konturen aufweisen, würde weniger bestimmt und geradlinig verlaufen als in den Ländern des entwickelten Kapitalismus, deren Revolution man sich mit gutem Recht scharfkantiger, entschlossener, radikaler vorstellte. Es genügt, daran zu denken, dass die Vorherrschaft des Proletariats und seiner Partei über das übrige werktätige Volk, dieser Grundgedanke jener leninschen Schrift, in den Industrieländern Westeuropas leichter und vollständiger hätte durchgeführt werden können.

Nur einige Philister der II. Internationale, die später allerdings von ihren noch widerlicheren Konsorten, die die Leiche der III. Internationale aussonderte, übertroffen werden sollten, hatten damals unterstellen können, proletarischer Terror, Diktatur, Verjagung von Parlamenten usw. seien keine europäischen, sondern »asiatische« Züge.

Dieser lächerliche Gemeinplatz wurde seinerzeit geprägt, um das rote Russland zu brandmarken; er wird von den heutigen Opportunisten unter dem Vorwand wiederholt, Russland dadurch anzuhimmeln – und das ist noch infamer. Wenige Monate, nachdem in Russland ein wirkliches parlamentarisches System zum ersten Mal errichtet worden war, jagte die Revolution das Parlament auseinander. In den Ländern des Westens bestand das Parlament seit Jahrhunderten oder mindestens mehreren Jahrzehnten. Worin sollte der Unterschied also voraussichtlich bestehen? Man muss schon wirklich die Unverfrorenheit der modernen Verräter besitzen, um überhaupt daran zu denken, in solchen Ländern könne das Parlament einen Weg zum Sozialismus darstellen (weiter gingen die Sozialdemokraten der Jahrhundertwende übrigens nicht). Warum wurde es denn in Russland auseinandergejagt? Wohl aus Sport oder aus Versehen oder halt weil sich ein gewisser Lenin voll mit Wodka gepumpt hatte?

Grundzüge aller Revolutionen

Lenin wollte mit seiner Schrift klar machen, dass trotz radikaler Unterschiede in der sozialen und historischen Ausgangslage die wesentlichen Prozesse der bolschewistischen Revolution in allen Ländern auftreten werden. Um was für Prozesse handelt es sich dabei? Eine genaue Untersuchung jener Schrift, bzw. des Gesamtwerkes des unverfälschten Marxismus-Leninismus gestattet eine klare und eindeutige Antwort. Selbstverständlich steht es jedem »frei« zu denken, dass die Ereignisse der letzten vierzig Jahre die Richtlinien der geschichtlichen Entwicklung umgekehrt haben, um dementsprechend dem Marxismus völlig abzuschwören.

»Jetzt (April 1920), liegt uns bereits eine beträchtliche internationale Erfahrung vor, die mit voller Bestimmtheit erkennen lässt, dass einige Grundzüge unserer Revolution nicht örtliche, nicht spezifisch nationale, nicht ausschliesslich russische, sondern internationale Bedeutung haben«[21].

Um Missverständnisse zu vermeiden, verdeutlicht der Autor:
»Ich spreche hier von internationaler Bedeutung nicht im weiten Sinne des Wortes: Im Sinne der Einwirkung unserer Revolution auf alle Länder sind nicht einige, sondern alle ihre Grundzüge und viele, ihrer sekundären Züge von internationaler Bedeutung. Nein, ich spreche hier davon im engsten Sinne des Wortes, d. h. versteht man unter internationaler Bedeutung, dass das, was bei uns geschehen ist, internationale Geltung hat oder sich mit historischer Unvermeidlichkeit im internationalen Massstab wiederholen wird, so muss man einigen Grundzügen unserer Revolution eine solche Bedeutung zuerkennen«[22].

Also einige und nicht alle Grundzüge? Das ist genau die These, die die Linke auf den internationalen Kongressen vertrat. Lenin wird es aber sofort im einzelnen erklären. Es ist aber zunächst interessant zu zeigen, warum im weiten Sinne alle Ereignisse eine internationale Bedeutung hatten und im engen Sinne nur einige, die zum Bestandteil des marxistischen Programms der Revolution wurden bzw. dieses Programm bestätigten. Die Ausrottung der Zarenfamilie hatte eine riesige internationale Bedeutung und ist heute noch Gegenstand von Gekreische[23]. Im engen Sinne ist dies aber kein Zug, der sich überall unvermeidlich wiederholen muss. In den Ländern, wo keine Monarchie besteht, wird es diese Forderung nicht geben. Die Kinder des Zaren wurden infolge des dynastischen Erbprinzips getötet; wo es dieses Prinzip nicht gibt, ist die Hinrichtung entbehrlich.

Also nur einige und nicht alle Wesenszüge der russischen Revolution gelten im engen Sinne auch für alle Revolutionen ausserhalb Russlands; andere gelten eben nicht. Welche und warum? Es genügt, den Text aufmerksam zu lesen, und man wird aus einer unerhört wichtigen Stelle die Antwort erfahren:
»Natürlich wäre es ein grosser Fehler, diese Wahrheit zu übertreiben und sie auf mehr als einige Grundzüge unserer Revolution auszudehnen. Ebenso wäre es verfehlt, ausser acht zu lassen, dass nach dem Sieg der proletarischen Revolution, sei es auch nur in einem der fortgeschrittenen Länder, aller Wahrscheinlichkeit nach ein jäher Umschwung eintreten, dass nämlich Russland bald danach nicht mehr ein vorbildliches, sondern wieder ein (im ›sowjetischen‹ und im sozialistischen Sinne) rückständiges Land sein wird«[24].

Hierin liegt eine Grundauffassung des Leninismus. Die Revolution musste sich in Europa rasch ausbreiten, und nach ihrem Sieg z. B. in Deutschland würde Russland auf dem Weg zur Errichtung einer sozialistischen Wirtschaftsordnung vergleichsweise zurückbleiben, während die Umgestaltung der Wirtschaftsbasis in Deutschland rasch vor sich gehen würde. Lenins Auffassung wird durch den Gedanken abgerundet, dass ein sowjetisches Deutschland, oder besser ein sowjetisches Europa, einen wichtigen Faktor für die Beschleunigung der Entwicklung der russischen Gesellschaft von den alten Wirtschaftsformen zum Kapitalismus, bzw. Staatskapitalismus und dann zum Sozialismus hin bedeuten würde.

Das ist die vollständigste Widerlegung der idiotischen Doktrin des Vaterlandes des Sozialismus, des sozialistischen Vorbildes, des Landes mit der Führungsrolle, die nach Lenins Tod abartigerweise die Oberhand gewann.

Für Lenin würde sich Russland mit der internationalen Ausbreitung der Revolution wieder hinten einreihen müssen; für den Stalinismus hingegen wurde es das ewige Musterländle. Für Lenin würde sich das, »was bei uns geschehen ist, mit historischer Unvermeidlichkeit im internationalen Massstab wiederholen« müssen; für Stalin und dessen Epigonen gibt es hingegen die »nationalen Wege zum Sozialismus«. Wer darin keinen Widerspruch sieht, der wird auch nicht verstehen können, dass die Theorie des russischen Vorbildes des Sozialismus nichts anderes darstellte, als die Urfassung der zeitgenössischen, abergläubischen Vorstellung von einem »friedlichen Wettbewerb unterschiedlicher Systeme«.

Als wir 1920 aus Russland zurückgekommen waren, wollten Massen von Proletariern sozusagen die Beschreibung eines Gelobten Landes von uns hören. Als bescheidene Schüler des grossen Lenin haben wir entschieden die Illusion bekämpft, wir wären nach Russland gefahren, um den fertigen Sozialismus zu sehen, um uns anzuschauen, wie der Sozialismus in der Praxis funktioniert, so als wäre der Sozialismus ein Spielzeug oder eine Art Sputnik, etwas, das man erfinden, zusammenbasteln kann.

Den Sozialismus hatte es auf Erden noch nicht gegeben, wir Marxisten wussten aber sehr genau, wie er entsteht und aussieht, wir waren uns seiner für Russland und für die ganze Welt vollkommen sicher, selbst wenn dieses leuchtende Gemeinwesen nicht einmal in Russland faktisch vorhanden war. Die Revolution aber, sie leuchtete mit voller Kraft in ihrem harten, schmerzlichen aber verstandenen Gang zum entfernten kommunistischen Glück – und es war die Aufgabe aller europäischen Proletarier, die bürgerlichen Staaten des Kontinents bei der ersten günstigen Gelegenheit zu zerschlagen, um sich selbst und den Russen den Weg des Kommunismus freizukämpfen. Diese Aufgabe konnten nur sie erfüllen.

Die Theorie des »sozialistischen Vorbilds«, die heute in der Theorie der »friedlichen Koexistenz« fortlebt, ist antimarxistisch und antileninistisch. In Italien wurde sie bereits kurz nach dem Oktober von Gramsci verkörpert. Gramsci schrieb damals seinen Artikel »Die Revolution gegen ›Das Kapital‹«[25]: Dem historischen Materialismus zufolge wäre die proletarische Revolution im kapitalistisch rückständigen Russland unmöglich; die Revolution hätte dennoch gesiegt, und daraus müsste man ganz einfach folgern, der ökonomische Determinismus und der Materialismus seien falsch, richtig und glänzend hingegen der voluntaristische Idealismus; Lenin als eine Neufassung des antiken Helden hätte es fertig gebracht, der Geschichte Gewalt anzutun, sie zu bezwingen und aus den widrigsten Bedingungen heraus das Vorbild, das erträumte Utopia zu schöpfen; man müsste nur noch zum Propheten pilgern, um den Saum seines heiligen Gewandes zu küssen, nur noch das Vorbild betrachten und es den darauf harrenden Massen des Westens schildern, ihnen dessen Geheimnis offenbaren, damit sie es kopieren.

In Russland war aber kein Poseur[26] mit Messiasgehabe zu finden, sondern ein einfacher und um so grösserer Mann, der sich auf Marx’ Materialismus en bloc[27] berief, die pulsierende Geschichte mit Marx’ Dialektik erhellte und sich über das Vorbild lustig machte: Sein Land sei eigentlich ein schwaches Vorbild und werde bald übertroffen werden, was er verstehe und herbeiwünsche. Wer in Lenin einen Richter gegen das »Kapital« zu finden geglaubt hatte, der musste den Kopf senken und die Augen öffnen – und das hat Gramsci, solange die körperliche Schwäche den scharfen Blick nicht trübte, in der Tat getan.

Heute ist selbst das blaue Licht von Lenins Augen erloschen. Geblieben sind aber seine unschätzbaren Lehren, darunter die Vernichtung der Ideologie eines nachzuahmenden »sozialistischen Musterlandes«; geblieben sind die Waffen seiner scharfen Polemik, mit denen er die affige Heilslehre, derzufolge die Welt kommunistisch wird durch das Wunder der Nachahmung, im voraus zertrümmerte.

Die Lehren aus Russland

In Lenins Auffassung hatte die russische Revolution also nicht die Aufgabe, der Welt eine sozialistische Gesellschaft vorzuführen. Ihre internationale Bedeutung war gleichzeitig anders und wichtiger, nämlich vorzuführen, mit welchen Mitteln und Waffen man überall die Macht des Kapitals und seiner Verbündeten stürzen kann. Diese Lehren waren in den wichtigsten Kapiteln des Marxismus bereits theoretisch enthalten, sie konnten aber damals zum ersten Mal faktisch am Prüfstein der Geschichte verifiziert werden.

Obwohl Russland damals unvergleichlich weniger als heute bedeckt war mit echten Schandflecken des Kapitalismus, des Warenfetischismus und des Konkurrenzgeistes dieses verdammten Westens, ging es nicht darum, Fotos der russischen Gesellschaftsordnung zu knipsen, sondern – wenn der Vergleich zulässig ist – den kinematographischen Film der revolutionären Ereignisse zu bekommen, um daraus die entscheidenden, für ganz Europa allgemeingültigen Bildfolgen zu holen.

In diesem Sinne bot sich der hinreissenden Begeisterung jener Kampfjahre ein Vorbild, das aber keineswegs statisch war, sondern dynamisch, das keineswegs ein Wunderrezept darstellte, sondern das eruptionsartige Aufflammen der sozialen Revolution.

So. In unserem Eifer, die Sache zu beweisen, haben wir es wohl viel zu geschwollen ausgedrückt. Lenin sagte es so:
»Aber im gegebenen historischen Zeitpunkt liegen die Dinge nun einmal so, dass das russische Vorbild allen Ländern (an die Adresse der Verräter: die Hervorhebung ist von Lenin) etwas, und zwar etwas überaus Wesentliches aus ihrer unausweichlichen und nicht fernen Zukunft zeigt«[28].

Unser Vorbild ist kein »Projekt«, das wir heute entwerfen und heute verwirklichen, sondern das Konzentrat aus den Lehren der Vergangenheit, dessen wir uns bedienen, um die unausweichliche Zukunft zu meistern.

Der Mensch ist zwar ein naives Lebewesen, das alles dauernd nachahmt; auf jeden Fall versucht die Menschheit dieser 60er Jahre dies tagtäglich aufs jämmerlichste zu belegen. 1920 erlebten wir jedoch eine brodelnde und ergiebige Zeit, und die Richtigkeit der leninschen Richtlinien, die Vergangenheit und Zukunft aneinander knüpften, war so plastisch greifbar wie der Glaube riesiger Massen an die Unfehlbarkeit der grossen revolutionären Theorie:
»Die fortgeschrittenen Arbeiter aller Länder haben das längst begriffen – noch häufiger freilich haben sie es nicht so sehr begriffen als vielmehr mit dem Instinkt der revolutionären Klasse erfasst, empfunden«[29].

Revolutionärer Instinkt also und keineswegs die »Bildung«, mit der die Opportunisten in Konkurrenz zu den bürgerlichen Schulen das Proletariat vergiften möchten. Lenin fährt fort:
»Daher die internationale ›Bedeutung‹ (im engen Sinne des Wortes) der Sowjetmacht und ebenso der Grundlagen der bolschewistischen Theorie und Taktik«[30].

An dieser Stelle des Einleitungskapitels seiner Broschüre schiebt Lenin eine Polemik gegen die zentristischen Führer der Sozialdemokratie ein. Wir werden sofort auf die Bedeutung dieser Polemik, die uns durchaus zu einem aktuellen Kommentar veranlasst, zurückkommen. Zunächst möchten wir aber feststellen, dass die allgemeingültigen Grundzüge der russischen Revolution, die Lenin nach dem Einschub erläutert, grundsätzlichen Charakter haben und sowohl die Theorie als auch die Taktik der Bolschewiki betreffen. Die glorreiche bolschewistische Partei mit ihrer internationalen Ausstrahlung wurde also durch ein System von Prinzipien gekennzeichnet, auf denen Theorie und Taktik gleichermassen beruhten. Niemand darf daher sagen, nur die Theorie sei an ein System von Prinzipien gebunden, während die Taktik frei, voraussetzungslos sei.

Das, was unsere Linke auf den verschiedenen Kongressen von Moskau vertrat, beruht auf dieser These von Lenin selbst: nicht nur für die Theorie, sondern auch für die Taktik muss man ein System von Grundsätzen festlegen, und diese Grundsätze müssen für alle Länder und alle Parteien der Internationale gültig sein. Die »Römer Thesen« von 1922 waren ein Versuch in dieser Richtung[31].

Lenin warf den zentristischen Führern der II. Internationale vom Schlage Kautskys, Bauers und Adlers (die keine banalen, sondern raffinierte Sozialpatrioten waren) vor, sie hätten das nicht begriffen, sie hätten nicht begriffen, dass die theoretischen und taktischen Prinzipien, die der bolschewistischen Partei zum Sieg verholfen hatten, allgemeingültig waren, und hätten sich gerade deshalb als Reaktionäre und Verräter erwiesen. Lenin brandmarkte vor allem eine pedantische, gemeine und unverschämte Broschüre, »Die Weltrevolution«, die Otto Bauer anonym veröffentlicht hatte. Mit der ganzen Heuchelei, der er fähig war, stellte Bauer der russischen Revolution die angeblich demokratischen, friedlichen und unblutigen (heute könnte man noch ergänzen: wettbewerbsmässigen) Grundzüge der Weltrevolution entgegen; damit wollte er gerade jene Grundzüge der russischen Revolution bekämpfen, die zwangsläufig alle Revolutionen kennzeichnen sollten und den Leitfaden für den revolutionären Kampf im Westeuropa jenes Jahres 1920 – in dem man bewusst alles einsetzte, um alles zu gewinnen – darstellten.

Nach dieser Brandmarkung der Zentristen zeigte Lenin, dass der eben erwähnte Kautsky 1902, als er noch ein Marxist gewesen war, einen »Die Slawen und die Revolution« betitelten Artikel geschrieben hatte. In jenem Artikel war davon die Rede gewesen, dass das Ruder der europäischen Revolution wahrscheinlich in die Hände der russischen Proletarier übergehen würde. Das revolutionäre Zentrum hatte in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts in Frankreich und zeitweise in England, in der zweiten Hälfte in Deutschland gelegen. Kautsky, der 1920 nur banale Verleumdungen für die russische Revolution übrig hatte und alle Betrügertricks benutzte, um das Prinzip der Diktatur des Proletariats zu widerlegen, hatte dreissig Jahre zuvor seinen Artikel in einem lyrischen Anflug so abgeschlossen:
»Die Slawen waren 1848 der eisige Frost, der die Blüten des Völkerfrühlings tötete. Vielleicht ist es ihnen beschieden, nun zum Föhnsturm zu werden, der das Eis der Reaktion zum Bersten bringt und einen neuen, glücklichen Völkerfrühling mit Macht herbeiführt«[32].
»Wie gut schrieb Kautsky doch vor 18 Jahren!«
– rief Lenin aus, derselbe Lenin, der bis zu seinem damals nicht mehr fernen Tod immer gleich gut geschrieben hat. Wie gut schrieb Kautsky vor 58 Jahren – müsste es heute nachhallen.

Aber inzwischen ist das Eis der Reaktion wieder über den unvergesslichen und heldenhaften Kampf der slawischen Proletarier zugefroren und trägt die Grabinschrift: Pazifismus, Koexistenz, Entspannung, demokratischer und parlamentarischer »Weg zum Sozialismus«.

Lenin hatte die Räuberbande, die sich »Völkerbund« nannte, als Festung des Kapitals gebrandmarkt. Das heutige Russland sitzt in der UNO – im Namen derselben dreckigen Prinzipien, die in jenem Eis der Reaktion eingraviert sind. Das ist keine Abweichung von Lenins Politik, sondern Antileninismus.

Die revolutionären Marxisten führen gewiss keine Olympiade der modernen Zeiten; sie reichen sich nicht eine olympische Fackel der kommunistischen Revolution in einer Art Staffellauf weiter. Wenn Marx und Engels, Kautsky – als er noch Marxist war – und Lenin feststellten, dass sich das Zentrum der Revolution von England nach Frankreich, dann nach Deutschland und schliesslich nach Russland verlagerte, so beruhte das auf einer materiellen historischen Entwicklung. Wie sieht es heute aus, nachdem das revolutionäre Russland gefallen ist? Der Brand wird mit aller Gewissheit wieder auflodern, und wir denken dabei an erster Stelle an den Anfang vom »Linksradikalismus«, an das von Lenin beschworene West- und Mitteleuropa. Ein Kampf, der sich gleichzeitig gegen die Unterdrückung durch die monströsen USA und das degenerierte Russland aufrichte, kann nur von dort ausgehen und wird sich wahrscheinlich auf eine proletarische Revolution im zerschundenen Deutschland stützen. Während sich die Diplomaten beider Lager einen glitschigen Manöverwettbewerb um die Frage dieses Landes liefern, kann die Geschichte – es handelt sich freilich um eine langfristige Perspektive – gerade dort eine Revolution entfachen, die mit einem Schlage die eigene Bourgeoisie wegfegt und die USA und die UdSSR – egal, ob diese sich miteinander verbünden oder gegenseitig bekämpfen – in ihren Grundfesten erschüttert. Das weisse Proletariat hat zwar indessen über ein halbes Jahrhundert verloren, das jedoch wahrscheinlich wieder nachgeholt werden kann kraft des Vormarsches der gelben und schwarzen Brüder, der sich stürmisch beschleunigt!

Die Diktatur und die Philister

Bevor wir dieses Einleitungskapitel der leninschen Schrift verlassen, sind noch einige Folgerungen aus seinen vernichtenden Angriffen gegen Kautsky, Otto Bauer und Friedrich Adler zu ziehen. Für uns hat es eine immense geschichtliche Bedeutung, dass Lenin seine härtesten Schläge unentwegt gegen solche Typen, die damals sogenannten Zentristen, Unabhängigen, Zweieinhalb-Internationalisten, gerichtet hat.

Lenin erkannte in diesen Elementen, die zwischen der I. und der III. Internationale schwebten, eine ernstere Gefahr als in den Rechten, den Sozialdemokraten und Sozialpatrioten, wie Scheidemann, Noske, Vandervelde, MacDonald usw., den Helden des imperialistischen Chauvinismus und der Konterrevolution.

Kautsky z. B. gehörte in Deutschland zu den ersten, die eine Opposition gegen die sozialpatriotische Mehrheit der Parteifraktion im Reichstag ins Leben riefen (bezüglich der Bilanz des Parlamentarismus, auf die wir noch zurückkommen werden, ein kurzes Wort: selbst Karl Liebknecht hat am 4. August 1914 aus Parteidisziplin – im gegebenen Fall handelte es sich allerdings nur um Disziplin gegenüber der Reichstagsfraktion! – eher passiv für die Kriegskredite gestimmt). Bauer und Fritz Adler, der Sohn des Altmarxisten Viktor Adler, waren die Führer des sogenannten Austromarxismus (als könnte es nationale Marxismen geben!). Der Leser wird sich daran erinnern, dass die österreichische Monarchie Fritz Adler wegen seiner mutigen Opposition gegen den Krieg vor Gericht schleppte.

Es handelte sich um Leute, die seit Jahrzehnten den Ruhm genossen, grosse Theoretiker zu sein, was sie auch voll und bewusst auf die Waagschale warfen, um eine angebliche Unvereinbarkeit zwischen Marxismus und Diktatur glaubwürdig zu machen bzw. um den Bolschewismus und Leninismus ätzend als eine Abweichung vom wahren Marxismus zu verleumden. Sie vertraten die Auffassung, die Marxisten hätten die Pflicht, die Normen des freien, demokratischen Konsenses, die Zustimmung von der Basis und die liberal-demokratisch gebildete Meinung der Mehrheit der »Staatsbürger« zu respektieren. In der Verfälschung des Marxismus waren sie kaum zu übertreffen.

Lenin ging mit Feuer und Schwert gegen sie an, und darin liegt ein historisches Beispiel, das wir, Zeugen und Mitstreiter jenes Totalkrieges, niemals vergessen werden. Lenin nahm eine realistische, praktische, materielle Kampfstellung ein – unsere ewigen Widersacher würden sie mit dem bürgerlich angehauchten Ausdruck »konkret« bezeichnen –, deren Wert als lebendige Leitlinie und Lehre für den heutigen Kampf womöglich die Bedeutung der ursprünglichen, im »Linksradikalismus« meisterhaft schriftlich fixierten Polemik übertrifft. Lenin war alles andere als ein akademischer Pedant. Er war ein Massenführer, der sich seiner kolossalen Verantwortung vor der Geschichte bewusst war. Er wusste, dass die Renegaten alle seine Worte ausschlachten würden, um mit der angeblichen Unreife des russischen Proletariats, das die antizaristische Revolution soeben hinter sich gelassen hatte, zu spekulieren. Er musste seine Worte daher genau abwiegen und konnte nicht rundweg sagen: Es ist uns piepegal, wie sich die Meinungen und Wahlergebnisse zahlenmässig äussern, das sind pathologische Erscheinungen der Unterdrückung und der Untertanenmentalität des bürgerlichen Zeitalters, und wir sind sicher, dass der richtige Weg ihnen davonläuft, in entgegengesetzter Richtung davonläuft.

Wer damals noch jung war und sich in der Zwischenzeit nicht korrumpieren liess, prägte sich jedoch die Regel endgültig ein (und hätte sie sich auch dann, wenn sie nicht in den theoretischen Leitsätzen und Büchern zu finden wäre, einprägen müssen): Man handelt niemals falsch, wenn man mit aller Kraft auf den »Nachbarn«, den »Verwandten«, den »Cousin« losschlägt!

Wir werden darin nicht nur durch das Beispiel Lenins, d. h. durch das Konzentrat jener revolutionären Jahre, in denen sich Millionen Menschen geschlagen haben, sondern auch durch das jämmerliche Ende aller Renegaten bekräftigt. Diese haben unter Anwendung aller erdenklichen Fälschungsmethoden Lenins Werk über den Haufen geworfen, um die entgegengesetzte Regel zu befolgen: die der Block- und Frontbildung, um an der extremen Rechten einen fiktiven Feind zu isolieren. Das war im Grunde nichts anderes als eine Wiederholung der Politik, die die Verräter während des I. Weltkrieges betrieben hatten. Die Helden der dritten opportunistischen Pestwelle beschränkten sich nicht auf den Block mit den älteren Verrätern, mit den zentristischen und rechten Sozialdemokraten, sondern gingen zu Kriegs- und Friedenszeiten viel weiter, bis hin zu dem Block mit den demokratischen, liberalen und katholischen Parteien der Bourgeoisie; sie bildeten einen Klassenblock nicht nur mit Proletariern, die auf die andere Seite übergelaufen waren, sondern auch mit der Kleinbourgeoisie und den mittelgrossen Unternehmern.

Die Fragen der Theorie und der Praxis stehen in einem untrennbaren Zusammenhang zueinander. Lenin ging es nicht um die müssige Bekämpfung einer falschen, professoralen Lesart des Marxismus, sondern um viel mehr: Als die weissen Armeen, gestützt auf die westlichen Bourgeoisien, die bolschewistische Macht und die Revolution überhaupt im Blut zu ersticken versuchten, hatte sich jene ganze Kanaille mit der Konterrevolution solidarisch erklärt und den Sieg der Weissen als Strafe gegen die »Verbrechen« der heldenhaften bolschewistischen Avantgarde, nämlich die Diktatur und den Terrorismus, herbeigewünscht. Wir haben uns damals für alle Zeiten die Lehre angeeignet, dass diese herumhurende Bande von falschen Verwandten auf jeden Versuch des Proletariats, die Macht zu erobern und zu behalten (und das geht nur über den »historisch unvermeidlichen« Weg), unentwegt so reagieren wird. Wenn das Proletariat sich nicht rechtzeitig darauf einstellt, dann wird es dem Verrat zum Opfer fallen.

Aus gutem Grund fiel das Kanonenfeuer des russischen Bürgerkriegs mit den Angriffen Kautskys, des giftigsten Gegners der Bolschewiki, zusammen – und mit der Antwort von Lenin und Trotzki: »Die proletarische Revolution und der Renegat Kautsky«, bzw. die einmalige Schrift »Terrorismus und Kommunismus«.

Von Kautsky und entsprechend schlechter Gesellschaft unterscheiden sich die »Leninisten« unserer Tage überhaupt nicht, denen zufolge Diktatur und Terror »russische Besonderheiten des Jahres 1917« waren, die man heute den anderen Ländern ersparen kann und ersparen muss. Gegen sie hat Lenin die unwiderrufliche Verurteilung ausgesprochen: Liberale Marxisten, Marxisten, die voll und ganz auf die Seite der Bourgeoisie übergelaufen sind.

Immer dieselbe Verleumdung

Heute noch werden die Namen der Herren Bauer und Adler in der bürgerlichen Presse hie und da erwähnt, so in der römischen Zeitung »Messagero« vom 2. September 1960, die ihre Kritik an dem Bolschewismus wieder einmal ins Gedächtnis der Öffentlichkeit rief. Bei diesen Gelegenheiten ereifert sich die bürgerliche Publizistik warnend zu erklären, die Theorie, derzufolge die proletarische und sozialistische Bewegung »ohne Diktatur und Terror« den Sieg erringen werde, hätte sich als falsch erwiesen, was dem Inhalt nach auch stimmt. Es ist immer dasselbe: Aus der entgegengesetzten Ecke hat man einen besseren Überblick als aus der sogenannten Umgebung.

Der Pole Isaac Deutscher hat nach dem Tode Stalins ein Buch über »Russland nach Stalin« [1953 auf Englisch als »Russia after Stalin« bzw. »Russia, What Next?« erschienen] geschrieben. Dieser zeitgenössische Schriftsteller vertritt die These, das moderne Russland entwickele sich in Richtung auf liberale, sozialdemokratische Formen, oder wie man sie sonst nennen will. Ein anderer »Sowjetologe«, der Amerikaner Melvin Croan, entgegnete, Deutscher hätte nichts Neues gesagt, sondern eine These aus einem Buch des berühmten Otto Bauer über die Entwicklung von Kapitalismus und »Sozialismus« im Hinblick auf den Weltkrieg wiederholt.

Das Buch von Bauer war 1931 erschienen.

So. Vierzig Jahre sind vergangen, seitdem Lenin Otto Bauer für immer erledigt hatte, und der Kerl hängt uns noch an den Füssen. Das ist das Verdienst der vermeintlichen Schüler, in Wirklichkeit Verweser und Verfälscher des Leninismus. Ihr Verdienst allein.

Genau diese Leute spielen seit dem XX. Kongress der »KPdSU« die Posse der Reue vor: »Ach, wie wir die Diktatur und den Terror bereuen, diese Sachen waren aber rein russisch«, der rote Oktober war »lokal« bedingt, in den anderen Ländern wird sich die antikapitalistische Revolution ganz anders abspielen usw. Natürlich kann die Kremlclique die Diktatur nicht als Kampfmittel des revolutionären Proletariats akzeptieren, soll sich doch das Proletariat der Kultur, der Zivilisation und des friedlichen Wettbewerbs bedienen und nicht des Terrors; wenn es aber um ihre eigene Macht geht, dann sind Diktatur, Terror und noch schlimmere Mittel absolut in Ordnung!

Wie sieht die »marxistische« Theorie von BauerDeutscher aus? Stalin hätte Lenins Motto: russische Revolution = Sowjets + Elektrifizierung, sich zu eigen gemacht, dann allerdings die Sowjets in Wirklichkeit abgeschafft, auf jeden Fall aber die Elektrifizierung durchgeführt. Nebenbei gesagt, diese Herren verstehen die Sowjets als politische Organe einer authentisch demokratischen Volksvertretung, kurz und gut als ein lächerliches neues Parkett für den parlamentarischen Parteienreigen, während die Sowjets im Gegenteil ausschliesslich proletarische Organe der Klassendiktatur sind und zwangsläufig Schiffbruch erleiden, wenn es keine Diktatur der revolutionären Partei gibt, wie es Lenin in der behandelten Schrift beweist. Gut. Stalin hat das Land also elektrifiziert, und Hand in Hand damit musste sich das allgemeine und technologische Bildungsniveau des russischen Volkes heben. Darin liegen die Voraussetzungen dieser bewunderungswürdigen demokratischen Systeme, in denen Bauer, Deutscher & Co. zufolge der Sozialismus gedeiht. Ergo hätte Stalin, ohne es zu wissen, geschweige denn zu wollen, die Grundlage eines neuen Russland, wo in einer liberalen und parlamentarischen Atmosphäre mehrere Parteien sich zur Wahl stellen usw., geschaffen.

Gegen diese alte These von Bauer war seinerzeit selbst Kautsky aufgesprungen. Dieser beharrte mit seiner giftigen Natur darauf, das Diktaturverbrechen könnte allein durch die bewaffnete ausländische Repression, die er wollüstig herbeisehnte, gesühnt werden.

Während Kautsky seinen »Sozius« Bauer wegen dessen Optimismus hinsichtlich einer »gesunden« Entwicklung Russlands beschimpfte, nahm unser dritter Mann, Adler, Bauer in Schutz. Adler sprach damals als Sekretär der I. Internationale (die später die dritte überleben sollte, o Schande aller Schanden!) und liess sich nicht so sehr durch das Vertrauen auf eine Demokratisierung des Stalinregimes verleiten, als vielmehr durch die Furcht vor dem faschistischen Totalitarismus, der sich in Europa ausbreitete; er hegte nämlich die Hoffnung, durch eine Allianz mit Russland die bürgerliche Demokratie vor der faschistischen Gefahr retten zu können. Diese Hoffnung sollte später bekanntlich in Erfüllung gehen – darin liegt auch die höchste Schmach und Schande, die je der bolschewistischen Tradition angetan wurde.

Das Hin und Her dieser Fachleute des Opportunismus kann aber die wesentliche Bedeutung ihrer perversen These nicht verdecken. Diese liesse sich so formulieren: In den »fortgeschrittenen« und »zivilisierten« Ländern wird die proletarische und sozialistische Revolution einen Prozess darstellen, der Diktatur und Terror ausschliesst. In Russland haben verschiedene Faktoren eine Rolle gespielt, durch die sich dieses Land von der modernen und entwickelten Welt unterschied. Zu diesen Faktoren gehörte der Zarismus, aber vor allem die ungeheuerliche Ignoranz (sic!) des russischen Volkes. Wäre dieses Volk nicht so ungebildet gewesen, dann hätte es die Methoden jenes asiatischen Despoten (Lenin in der Kennzeichnung dieser Nudeln) nicht toleriert.

Für uns liegt die Sache ganz anders: Die Anwendung jener glorreichen Methoden war das Ergebnis des Zusammentreffens des genialen revolutionären Instinkts des russischen Proletariats mit der marxistischen Geschichtsauffassung, mit der Wissenschaft der Zukunft, die in seiner Partei verkörpert war. Bei westlichen Professoren waren Instinkt und Wissenschaft schon längst zur Pflege des Kulturerbes verkümmert.

Der Instinkt steht in umgekehrtem Verhältnis zur Kultur, die die herrschende Klasse vermittels ihrer verschiedenen Bildungsinstitute verbreitet. Wir Marxisten bewunderten das russische Proletariat: Es besass keinerlei Schulzeugnisse, nicht einmal von der Volksschule, aber – und das ist das höchste aller Zeugnisse – es besass, weil es sie erlebte, die revolutionäre Wahrheit, von der die bürgerliche Ideologie durch einen Abgrund getrennt ist.

Ein Windei also die kleine Geschichte, Stalin hätte das russische Volk über den Weg der Schulbildung auf die Höhe des Sozialismus gebracht. Über diesen Weg wurde das russische Volk lediglich auf die Höhe des bürgerlichen Stumpfsinns gebracht, der vollgespickt ist mit Technologien und akademischen Instituten, mit heuchlerischer Bigotterie und den modernen Auguren des sogenannten »wissenschaftlichen Fortschritts« einer Welt der gemeinsten Dekadenz.

Aus dieser kulturellen Verblödung des russischen Volkes ist jedoch kein parlamentarischer Liberalismus hervorgegangen, und dafür gibt es eine deterministische Erklärung. Die Klassenherrschaft der Bourgeoisie durchläuft einen dialektischen Weg, dessen erste Etappe, durch Aufklärung und freie Entwicklung gekennzeichnet, nicht nur für sie selbst, sondern für die ganze Menschheit einen Fortschritt bedeutete. Marx erklärte, dass sie sich in einer zweiten Etappe weiterhin als Klasse und als Produktionsweise auf allen Ebenen entfalten würde (wie sich der Kapitalismus in Amerika und Russland entfaltet), diese Entfaltung würde jedoch von einem schrecklichen Absturz in eine unmenschliche und finstere Gesellschaftsordnung begleitet werden.

Die kapitalistische Gesellschaft ist in einem Zersetzungsprozess begriffen; sie erstickt uns, sie vernichtet die ganze Welt, und der Schaden, den sie durch ihre Schulen, durch ihre Werbung, durch ihre Massenmedien und durch das ununterbrochene Hinausposaunen ihrer »Fortschritte« unter den Massen anrichtet, verpestet die Atmosphäre noch zusätzlich – die proletarische Diktatur muss dringend her.

Das konnten Otto Bauer, Fritz Adler usw. nicht begreifen; das können die heutigen Tintenkleckser und die Unglücklichen, die ab und zu mit ihnen in die Jauche fallen, ebensowenig begreifen.



Notes:
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  1. Der XX. Kongress der KPdSU fand nach dem Tode Stalins statt – auf ihm entlarvte Chruschtschow halbherzig und weiterhin verlogen den stalinschen Terror. [⤒]

  2. LW, Band 31, S. 5; EA, Dietz, S. 5. [⤒]

  3. Der (oder das) Palimpsest (= altgriechisch »wieder abgekratzt«) bezeichnet eine wiederbeschriebene Handschrift (lat. Codex rescriptus). Da Schreibmaterial zur Sklavenhalterzeit, etwa bei den Römern, aber auch noch im Mittelalter knapp oder kostspielig war, wurden ältere Handschriften auf Papyrus oder Pergament ausradiert, um sie neu zu beschreiben. Die älteren Texte lassen sich heute durch z. B. Fluoreszenzphotographie sichtbar machen. [⤒]

  4. LW, Band 31, S. 5; EA, Dietz, S. 5. [⤒]

  5. LW, Band 31, S. 5; EA, Dietz, S. 5 (Hervorhebung sinistra.net). [⤒]

  6. Die revolutionäre Tragweite und Richtigkeit dieser Aktion wird heute, nach der »Wende« in der Sowjetunion erst richtig deutlich: sie verhinderte einen Rückfall Russlands in eine »konstitutionelle Monarchie«, das Zarenproblem wurde historisch ein für alle Mal gelöst. Das »Gekreische« freilich ist damit nicht verstummt und die Ausrottung der Zarenfamilie wird von den bürgerlichen Philistern besonders gern heran gezogen, um die »menschenverachtende Brutalität« der Bolschewiki anzuprangern. Dass die Zarendynastien nicht nur im Verlauf der Jahrhunderte, sondern auch während des 1. Weltkrieges abermillionen Bauern und Arbeiter in den Kriegs- und Hungertod hetzten, das wird dabei stets geflissentlich »vergessen«… (sinistra.net). [⤒]

  7. LW, Band 31, S. 5/6; EA, Dietz, S. 5/6. [⤒]

  8. Eine deutsche Übersetzung gerade dieses Artikels erschien 1991 im Buch (mit dem bezeichnenden Titel) »Antonio Gramsci – vergessener Humanist?« im Dietz-Verlag Berlin. (sinistra.net). [⤒]

  9. Poseur = frz. für »Wichtigtuer«. [⤒]

  10. en bloc = frz. im Sinne von »in Gänze«, »in seiner Gesamtheit«, »ohne Einschränkungen«. [⤒]

  11. LW, Band 31, S. 6; EA, Dietz, S. 6. [⤒]

  12. LW, Band 31, S. 6; EA, Dietz, S. 6. [⤒]

  13. LW, Band 31, S. 6; EA, Dietz, S. 6 (Hervorhebung: IKP). [⤒]

  14. Die »Römer Thesen« wurden auf deutsch in »Kommunistisches Programm«, Nr. 13, Januar 1977, veröffentlicht. [⤒]

  15. LW, Band 31, S. 7; EA, Dietz, S. 7. [⤒]


Source: »Kommunistisches Programm«, Nr. 19, August 1978. Der ursprüngliche Text datiert auf das Jahr 1964.

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