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ULSTER – LETZTE ENGLISCHE KOLONIE


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Ulster – letzte englische Kolonie
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Ulster – letzte englische Kolonie

Die Zerstörung der kolonialen Abhängigkeitsverhältnisse zwischen Nordirland und Grossbritannien: »direktes, absolutes Interesse der englischen Arbeiterklasse«.

Will man sich auf eine nicht allein theoretische Weise vergegenwärtigen, dass die vollständige und endgültige Zerstörung der zwischen Nordirland und Grossbritamien bestehenden kolonialen Abhängigkeitsverhältnisse als »das direkte, absolute Interesse der englischen (und irischen) Arbeiterklasse«[1] betrachtet werden muss, so gibt es kein besseres Mittel, als die daraus für die Arbeiterklasse hervorgehenden, nach wie vor zutiefst negativen Folgen und deren materielle Wurzeln zu untersuchen.

Wie Engels am 23. Mai 1856 an Marx geschrieben hatte, war Irland die »erste Kolonie« Englands gewesen. Ein Streifen der Insel sollte ein letztes Überbleibsel des Kolonialreiches bilden: Ulster mit seinen sechs Grafschaften wurde im Dezember 1921 von der jungen irischen Republik getrennt, um zu einem »autonomen« Bestandteil des Vereinigten Königreiches von Grossbritannien und Nordirland zu werden. Seitdem war es der Londoner Regierung klar, dass die Aufrechterhaltung der Zwangsherrschaft eine wesentliche Bedingung hatte. Man musste in der Lage sein, sich nicht allein die »Loyalität«, sondern auch die Unterstützung seitens einer Arbeiteraristokratie, bestehend aus einer dünnen Schicht von qualifizierten Arbeitern englischen Ursprungs (und als solche protestantischen Glaubens) sichern, einer Arbeiteraristokratie, die sich von der grossen Masse der einfachen Arbeiter irischen Blutes und katholischer Konfession abhob.

Die Arbeiter englischer Herkunft hatten im Laufe der ganzen Periode nach dem ersten Weltkrieg Löhne erhalten, die höher als der englische Durchschnitt lagen. Heute geniessen sie nicht mehr dasselbe Privileg. Im Vergleich zur überwältigenden Mehrheit der »einheimischen« Arbeiter werden sie dennoch deutlich bevorteilt. Letztere lebten in den 20er und 30er Jahren unter Bedingungen, die im allgemeinen erheblich ungünstiger waren, und in den Krisenperioden wurden sie im Laufe von wahrhaftigen Pogromen regelmässig aufs Pflaster geworfen. In den Jahren nach dem zweiten Weltkrieg mussten sie erleben, wie ihre benachteiligte Lage nicht allein fortdauerte, sondern sich sogar verschlechterte.

Im letzten Jahrhundert hatte der Anschluss der grünen Insel an Grossbritannien eine echte Teilung der englischen Arbeiterklasse in »zwei feindliche Lager« herbeigeführt. Wie Marx, Engels und der Generalrat der Internationale erklärten, ergab sich daraus die unabdingbare Notwendigkeit, die jahrhundertealte Abhängigkeit Irlands von England abzuschaffen, und zwar nicht aus einer Art Faible für Irland oder aus humanitären, nationalen oder religiösen Schrullen, sondern als Forderung, die, wie Marx in seinen zitierten Brief erklärte, im Interesse des Proletariats vorzubringen war.

Im 20. Jahrhundert hat sich diese Spaltung in Ulster wiederholt und verschärft: aufgrund ganz materieller und also tausendmal überzeugenderer Ursachen als den angeblich »ideologischen« Gründen hat sie somit verhindert, dass die zwei »Hälften« ein und derselben Arbeiterklasse im Kapital, sowohl den irischen als auch dem englischen wie internationalen Kapital, ihren wirklichen und gemeinsamen Feind und Ausbeuter erkennen. Ganz im Gegenteil hat sie diese zwei Hälften der Arbeiterklasse in einen Kampf gegenübergestellt, der nach aussen hin das absurde Äussere eines Rassen- und Religionskrieges aufweist.

Diese Lage, die die wahre Natur des Kampfes zwischen Ausbeutern und Ausgebeuteten deformiert und mystifiziert, hätte sich vielleicht in der Zeit nach den zweiten Weltkrieg ändern können, als die traditionellen Industrien Ulsters (Textil und Schiffbau) und die Landwirtschaft in Krise gerieten[2]: Auf der Suche nach rentableren Anlagemöglichkeiten kam es damals zu einer Kapitalflucht, die das gesamte Proletariat – englischen und irischen Ursprungs, Protestanten und Katholiken – mit Massenentlassungen bedrohte. Aber sein politisches und strategisches Interesse an Nordirland legte London damals eine Wirtschaftspolitik nahe, die sich zunächst in Form von Subventionen für private Investitionen niederschlug, – Subventionen, die vor allem (und nicht grundlos) die protestantischen Gebiete begünstigten – und dann zu Direktinvestitionen des Staates im Maschinenbau, der Leichtindustrie und im Dienstleistungsbereich führte. Einerseits liess diese Politik die Diskriminierungen gegenüber den »katholischen Arbeitern fühlbarer und also weniger leicht erträglich werden: Die Industrien entstanden vor allem in den »protestantischen« Gebieten, die von der Arbeitslosigkeit weniger stark betroffen waren; die den »Loyalisten« vorbehaltenen Arbeitsplätze waren im allgemeinen besser bezahlt; die starke Nachfrage nach qualifizierten Arbeitskräften liess die Lohnskala noch breiter werden usw. Andererseits schuf diese Politik eine Art objektive Interessengemeinschaft zwischen der privilegierten Arbeitskraft von Ulster und der einheimischen Bourgeoisie, aber auch dem englischen Staat und also der City. Diese Interessengemeinschaft brachte den privilegierten Teil der Arbeiterklasse Nordirlands in Widerspruch zu ihrem weniger privilegierten Teil, der auch deshalb schlecht angesehen war, weil die wachsende Anzahl arbeitssuchender Hilfsarbeiter, vor allem Frauen, Druck auf die Durchschnittslöhne ausübte. Darüberhinaus aber setzte sie diese privilegierten nordirischen Arbeiter tendenziell in Widerspruch zur gesamten, gegen ihre eigene herrschende Klasse und deren Institutionen kämpfenden britischen Arbeiterklasse.

1977 konnte man aufgrund der Untersuchung einer Erhebung von 1971 feststellen[3], dass die
»Protestanten mit allergrösster Wahrscheinlichkeit qualifizierte Arbeiter sind, während die Katholiken im allgemeinen Hilfsarbeiter und angelernte Arbeiter sind«; dass »die Industrien, wo die Durchschnittslöhne 1971 am höchsten lagen, im allgemeinen dazu neigten, Loyalisten einzustellen«;
dass die Katholiken von der Arbeitslosigkeit weit stärker (250 %) betroffen waren als die Protestanten; schliesslich, dass unter den beschäftigten Arbeitern die Protestanten vor allem im Maschinenbau und im tertiären Sektor konzentriert waren, während die Katholiken vor allem auf dem Bau beschäftigt waren, wo die Arbeit nicht nur anstrengender und gesundheitsschädlicher, sondern auch unsicherer und schlechter bezahlt ist.

Einige weitere Daten lassen die materiellen Wurzeln einer wahrhaft tragischen Lage noch krasser zutage treten. Einer Lage, die auf der einen Seite die »privilegierte« Minderheit der Arbeiterklasse Nordirlands dazu treibt, sich auf die Seite der lokalen, englandfreundlichen Bourgeoisie und die des britischen Imperialismus zu stellen, und die auf der anderen Seite die überausgebeutete Mehrheit dazu führt, ihre Sache mit der des bürgerlichen Nationalismus und des Katholizismus zu identifizieren.

Im Juni 1975 betrug die Arbeitslosigkeit bei den Männern in Grossbritannien durchschnittlich 4,9 %. In den drei als Muster ausgewählten protestantischen Regionen Ulsters bewegte sie sich zwischen einen Minimum von 3,2 % und einem Maximum von 3,9 %. In den drei katholischen Regionen von Newry, Omagh und Strabone dagegen belief sie sich jeweils auf 19,7, 14,8 und 26,1 %. Diese Erscheinung ist nichts neues, aber die offizielle Unterstützungspolitik für die neuen Industrien hat sie noch verschärft. Laut einer Untersuchung von 1970
»wurden von den 217 neuen (nach 1945 errichteten) Fabriken nur 31, das heisst 14 % weiter als 30 Meilen von Belfast entfernt gebaut: eine geplante Politik öffentlicher und privater Investitionen hat dazu geführt, dass sich in Städten des Ostens (also in »protestantischen« Städten), die kleiner sind als jene im Ostteil der Provinz gelegenen (und also »katholischen«) mehr Unternehmen niedergelassen haben; so hat z. B. Lurgan, welches 18000 Einwohner zählt und knapp 21 Meilen vor Belfast liegt, 13 neue Fabriken angezogen; die Stadt Londonderry, die 55000 Einwohner zählt, aber 70 Meilen von Belfast entfernt liegt, hat nur 7 angezogen, wovon zwei 1968 ihre Tore schlossen«.

Die Kategorien, denen die zwei »Teile« der Arbeiterklasse angehören, sind aus den folgenden Daten ersichtlich, die sich auf das Unternehmen Autolite beziehen, welches sogar in einem katholischen Getto im Westen von Belfast, nämlich in Andersonstown, liegt. Anzahl an Arbeitern: 1136; Katholiken: 33,3 %; höhere Kategorien: Katholiken, 19,3 %; untere Kategorien: Katholiken, 40,2 %. Man braucht wohl nicht erst hinzuzufügen, dass es sich hierbei nicht um zufällige, sondern um systematische Diskriminierungen handelt, denen sich die Gewerkschaften scheinbar weder entgegengesetzt haben noch entgegensetzen, es sei denn in Form rein verbaler Erklärungen.[4]

Die elenden Lebensbedingungen der katholischen, meist armen und grösstenteils proletarischen Mehrheit spiegeln sich auch in den Wohnungsstatistiken wieder. In der katholischen Region von Fermanagh werden 40 bis 45 % der Wohnungen als »ungeeignet« betrachtet; in den protestantischen Gegenden von Antrim, Lisburn und Down bewegen sich die Zahlen dagegen zwischen 10 und 20 %. Was die Kindersterblichkeitsrate in Nordirland betrifft, der höchsten in Europa, so reicht sie von 18,1 und 19,7 % im (protestantischen) Norden und Osten bis 24,8 % im katholischen Westen (32,3 % in der Gegend von Fermanagh). Die sich aus den folgenden Zahlen ergebende Häufigkeit von Infektionskrankheiten (pro 100 000 Einwohner) bei den Katholiken springt krass ins Auge: starke Meningitis, England und Wales 4, Nordgrafschaften Nordirlands (protestantisch) 13, Westgrafschaften Nordirlands (katholisch) 26; Tuberkulose jeweils 20, 6 und 13; Scharlach jeweils 19, 13 und 23; Keuchhusten jeweils 8, 3 und 50.

Aber die ungeschminkte Sprache der Zahlen sagt allein noch nicht viel aus, denn hinter jeder Schikane, hinter jeder Diskriminierung stehen mehrere Jahrhunderte von wahrhaftiger ökonomischer, sozialer und politischer Apartheit, von militärischer Unterdrückung und polizeilicher Verfolgung. Diese Geschichte hat in dem kollektiven Gedächtnis der irischen Bevölkerung so tiefe Spuren hinterlassen, dass alle Beziehungen zwischen den Herrschern und den Beherrschten (wie auch zwischen der Arbeiterklasse der »kolonisierten« Nationalität und derjenigen, die sie als ein Anhängsel der kolonisierenden Nationalität betrachtet) in ein besonderes, dunkles und notwendigerweise entstellendes Licht getaucht sind.

Für die revolutionären Kommunisten ist es selbstverständlich eine zwingende Aufgabe, den beiden Teilen der Arbeiterklasse Nordirlands zu zeigen, dass sie, trotz des äusseren Scheins, durch gemeinsame Interessen und Ziele miteinander verbunden sind. Sie haben ein und denselben Feind, den sie nur dann niederwerfen können, wenn sie die Schranken der Nationalität, der Religion und der Kategorie überwinden, Schranken, mit deren Hilfe der Kapitalismus die Kräfte spaltet und zerstreut, die ihn zu zerstören berufen sind.

Es ist für sie eine zwingende Aufgabe, den protestantischen Arbeitern das Geheimnis ihrer relativ privilegierten Lage zu enthüllen, die einerseits auf der Überausbeutung ihrer Klassenbrüder beruht und die andererseits die Produktionsweise unterstützt und fortsetzt, die darauf gründet, dem gesamten Proletariat Mehrwert abzupressen. Gleichzeitig müssen sie vor den Augen der katholischen Arbeiter den täuschenden Mythos einer sozialen Befreiung entlarven, die mit der nationalen und schlimmer noch der religiösen »Befreiung« identifiziert wird.

Aber die Kommunisten wissen: Solange die englische Kolonialherrschaft über Ulster fortbestehen wird, wird dieser Aufruf zur notwendigen Einheit der Ziele und des Kampfes der Arbeiterklasse nur bei einer verschwindend kleinen Minderheit von Proletariern ein Echo finden, die durch ein günstiges Zusammentreffen von Umständen in die Lage versetzt wurden, diesen Aufruf zu hören und in sich aufzunehmen. Was die grosse Mehrheit der Arbeiter angeht und unter normalen Umständen ist ein solcher Aufruf dazu verurteilt, auf die Mauer objektiver sozialer und politischer Verhältnisse zu stossen, die nur klassenversöhnlerische Illusionen und Ideologien nähren können. Verhältnisse, die dazu führen, dass sich Arbeiter, die in verschiedenen Formen und in verschiedenem Ausmass dennoch Opfer ein und desselben Ausbeutungssystems der Arbeitskraft sind, auf entgegengesetzten Fronten gegenüberstehen.

Aus diesem Grunde müssen die Kommunisten auf beiden Seiten des St.Georg-Kanals dafür kämpfen, dass jedes Abhängigkeitsverhältnis, welches Nordirland an Grossbritannien bindet, zerstört wird. Dabei müssen sie freilich gleichzeitig und unentwegt die Falschheit der Ideologien von der »nationalen Befreiung« entlarven, dabei dürfen sie nie verbergen, dass sich unter der irischen wie unter der britischen Fahne die Arbeits- und Lebensbedingungen der Lohnabhängigen nie grundlegend verändern werden, denn dies ist unmöglich. Dieser Kampf wird es ermöglichen, dass die mystifizierenden Schleier fallen, die nicht nur die freie Entwicklung des Klassenkampfes behindern, verzögern oder gar verhindern, sondern das Feuer der Guerilla auch zwischen den Arbeitern schüren. Dieser Kampf wird es ermöglichen, dass die Proletarier der beiden »Nationalitäten« und der beiden »Religionen« das Gesicht ihres Feindes, ihre eigene Bourgoisie[5], klar unterscheiden und ihre heute tragischerweise gespaltenen und feindlichen Kräfte im gemeinsamen Kampf zur Zerschlagung eines Kapitalismus vereinen, der seit langem schon keine Grenzen mehr kennt.

Notes:
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  1. Der Satz stammt aus dem Brief Marx’ an Engels vom 10. Dezember 1869 (MEW, Bd. 32, S. 414) und bezieht sich auf die Forderung nach der Lostrennung Gesamtirlands von Grossbritannien, welche Form diese Lostrennung auch immer annehmen mag. [⤒]

  2. Zwischen 1950 und 1973 ist die Anzahl der Arbeiter in der Textilindustrie von 72 800 auf 39 000 (-46,4 %) gesunken, im Schiffbau von 24 200 auf 9800 (-59,5 %), in der Landwirtschaft von 101 000 auf 53 500 (-47 %). Dagegen stieg die Anzahl der Arbeiter im Bau um 87,4 %, im Maschinenbau um 45,6 % und im Dienstleistungsbereich um 37,6 %. [⤒]

  3. Die hier und im weiteren Verlauf des Artikels angegebenen Daten stammen aus »Revolutionary Communist«, Nr. 8/1978. [⤒]

  4. Die Zahlen über Autolite stammen aus »Hands off Ireland«, Juni 1977. [⤒]

  5. Es sei nebenbei gesagt, dass sich das englische Kapital seit 1922, allein oder in Verbindung mit dem internationalen Kapital mit einer solchen Geschwindigkeit und einer solchen Raubgier auf Eire gestürzt hat, dass die herrschende Klasse in Dublin nunmehr mit London eng verbunden ist. Andererseits hat die Gleichgültigkeit fast aller »linken« Gruppen gegenüber der Lostrennung Ulsters von Grossbritannien es den entschieden nationalistischen Strömungen erlaubt, sich mit »Sozialismus« zu brüsten und sich somit dem »katholischen« Proletariat Nordirlands unter, vom sozialen Standpunkt aus gesehen, anziehenden Farben darzustellen. [⤒]


Source: »Kommunistisches Programm«, Nr.27, Januar 1981, S.30–32

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