Die Bildung des vietnamesischen Nationalstaates
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DIE BILDUNG DES VIETNAMESISCHEN NATIONALSTAATES
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Content:

Die Bildung des vietnamesischen Nationalstaates
Eine Gesellschaft im Übergang zum Kapitalismus
Die Wirklichkeit hinter dem Mythos von Vietminh: die soziale Bewegung in den Fangarmen der bürgerlichen Kompromissler
Der erste Indochinakrieg
Der nordvietnamesische »Sozialismus«
Der 2. vietnamesische Krieg
Nun endlich: Aufbau des Kapitalismus
Notes
Source


Die Bildung des vietnamesischen Nationalstaates
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Dieser Artikel ist der zweite Teil der dreigliedrigen Arbeit »Zur Entstehung der bürgerlichen Gesellschaft in Indochina«. Der dritte Teil trägt den Titel »Nationale Revolution und Untergang Kambodschas«.

Eine Gesellschaft im Übergang zum Kapitalismus
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Der östliche Saum des festländischen Südostasien hebt sich durch seine natürliche Abriegelung durch Gebirge und seine stark von China geprägte Kultur deutlich von Hinterindien ab. Trotz der geschichtlichen Verbindung mit Kambodscha und Laos im französischen Kolonialreich und der mehr oder weniger starken Gemeinsamkeiten in einem »indochinesischen Kulturerdteil«, ergibt sich zu den stärker indo-budhistisch beeinflussten Ländern für Vietnam eine klare Sonderstellung aufgrund seiner sino-konfuzianischen Traditionen - was sich übrigens schon im chinesischen Namen »Vietnam« gleich »Land des Südens« festmacht. Denn die Vietnamesen (Annamiten) waren lange Zeit ihrer Geschichte von Chinesen beherrscht: von 11 v.Chr. bis 939 und nochmals um 1400 standen die wichtigsten Siedlungsbereiche der Annamiten unter direkter Kontrolle, in der übrigen Zeit waren sie dem chinesischen Tributritual unterworfen.

Das heutige Vietnam entspricht etwa dem 1802 aus Annam und Tonking wiedervereinigten Reich des Kaisers Gia Long. Es hat eine Fläche von 332 566 km mit einer Bevölkerung von rund 48 Mio., und ist damit das volkreichste Land im festländischen SO-Asien.

Geographisch besteht Vietnam aus drei Landesteilen, die auch mit den historischen wie sozialen und wirtschaftlichen Entwicklungen weitgehend übereinstimmen. Den Norden bildet Tonking mit dem Delta des Roten Flusses, seinem Gebirgshinterland und der Hauptstadt Hanoi. Die Mitte nimmt das gebirgige, schmale Küstenland von Annam ein (d.h. »Befriedeter Süden«) mit der einstigen Kaiserstadt Hué. Das weite südliche Tiefland mit seinem Mekongdelta und Saigon ist Cochinchina. In dieser Gestalt wurde das Land mit seinen beiden Schwerpunkträumen und der schmalen, langen Verbindung entlang der annamitischen Küste mit zwei Reissäcken verglichen, die nach chinesischer Art an einer langen Tragestange hängen, ein Bild, das zugleich die Natur des kargen Küstensaumes und der beiden grossen »Reisschüsseln« nachzeichnet, von denen Tonking dichtbesiedeltes und intensiv bestelltes Altsiedlungsland, das Mekongdelta dagegen junges Kolonisationsland ist. Die Annamiten stiessen in der kontinuierlichen Nord-Süd-Bewegung ihrer Landnahme entlang der Küste vor und besiedelten vom 17. bis 19. Jahrhundert Cochinchina, dessen sumpfige, vorher nur zum Teil genutzte Niederungen sie vor allem den Khmer entrissen. Diese Siedlungsbewegung aus dem Norden liess den permanenten Druck aus dem überfüllten Tonking in den potentiellen Nahrungsraum des Südens zu einem Leitmotiv in der Entwicklung Vietnams werden, das auch die späteren politischen Ziele mit beeinflusst.

Die Konzentration der Vietnamesen beider Landesteile auf die Tiefebenen beruht vor allem auf ihrer Lebensform des Nassreisbaues und dem Fehlen der kulturellen und wirtschaftlichen Tradition von Gebirgsbauern. Diese Zusammenballung der Bevölkerung auf den Reisbauebenen führte die ländliche Besiedelung zu ungewöhnlichen Dichten, bei weitgehender Entleerung der gebirgigeren Zonen. Die menschenarmen Bergländer - rund zwei Drittel Vietnams - sind die Heimat ethnischer Minderheiten. Dazu kommen die eingewanderten Chinesen (Hoa), die mit rund 860 000 in Südvietnam, davon der grösste Teil in Saigon-Cholon, sehr viel stärker waren als in Nordvietnam, wo trotz der Nachbarschaft zu China nur etwa 175 000 Hoa lebten. Insgesamt ergibt sich so für Vietnam eine charakteristische Besiedlungsstruktur: In Nordvietnam gehören zwar rund 90%, in Südvietnam über 80% der Bevölkerung dem kulturell ziemlich einheitlichen »Staatsvolk« der Vietnamesen an; sie leben aber auf kaum einem Drittel des Landes, eben jenen zwei Tieflandzonen mit den Deltas und den schmalen Küstenhöfen Annams. Kaum ein Vietnamese wohnt oberhalb der 100m-Höhenlinie. Das bedeutet in Nordvietnam, dass etwa 97% seiner Bevölkerung auf einem Sechstel seiner Staatsfläche konzentriert ist, während das übrige, vom Gebirge eingenommene Land nur 3% der Einwohner beherbergt. Deshalb können die dicht besetzten Teile des Tonkingdeltas, trotz intensivster Landnutzung, ihre Bevölkerung kaum noch tragen, und es werden Dichten bis über 1260 Ew./km2 der landwirtschaftlichen Nutzfläche erreicht. In Südvietnam fehlen solche Extreme; das Tiefland von Cochinchina, das nur ein Drittel der Fläche umfasst, beherbergt aber auch dort die grosse Mehrheit der Bevölkerung.

Der Anteil der städtischen Siedlungen ist höher als in den meisten Ländern SO-Asiens. Dennoch hatte Südvietnam 1967 noch 88%, Nordvietnam, das reichere Bodenschätze und ältere Industrialisierungsansätze aufweist, 70% agrarische Bevölkerung. Trotz langer Geschichte, besonders des Nordens, waren die Städte zur Zeit der französischen Eroberung, die seit 1858 schrittweise unter Napoleon III. betrieben wurde, relativ unbedeutend. Durch häufige politische Wechsel litten die Handels- und Verwaltungszentren unter mangelnder Stabilität. Erst die koloniale Entwicklung von Wirtschaft und Verkehr führte zum Wachstum und zur baulich französisch beeinflussten Stadtentwicklung. Hanoi, mit langer Tradition als chinesische Verwaltungs-, und vom 10. - 17. Jahrhundert als annamitische Hauptstadt, wurde weitgehend neu gebaut. Saigon, im 17. Jahrhundert gegründet, wurde überwiegend in der Kolonialzeit gestaltet.

Die Mehrheit der Vietnamesen bewohnte aber weiterhin ländliche Siedlungen aus durchweg kleinen, geschlossenen Dörfern. Hier bildeten sich aufgrund der eigentümlichen Bevölkerungsverteilung starke soziale Spannungen, die durch die imperialistischen Veränderungen noch verschärft wurden: im altbesiedelten Tonking durch die ungeheure Überbesetzung und die entsprechende Zersplitterung der Besitzverhältnisse, bei der jungen Erschliessung des Mekongdeltas durch die Bildung des Grossgrundbesitzes mit Ausbeutung der Pächter. In Tonking war etwa ein Viertel des Landes im Grossgrundbesitz, ein weiteres in dem der Gemeinden; die Pachtabgaben der knapp das Existenzminimum erzielenden Kleinbauern lagen bei 40%.

Die anders gelagerte Sozialstruktur des Mekongdeltas entstand mit dessen Melioration durch die französischen Behörden im 19. Und 20. Jahrhundert. Diese überliessen die eigentliche agrarische Erschliessung dem berühmten »freien« wirtschaftlichen Kräftespiel, so dass einzelne Vietnamesen und Chinesen im Lande investierten, es mit Lohnarbeitern erschliessen liessen, um es dann an kleine Bauern zu verpachten. Dabei entstanden z.T. riesige Besitzkomplexe. Die grösseren Landbesitzer residierten durchweg in Saigon, von wo aus sie die Eintreibung der Pachten, kaum aber weitere Verbesserungen des Landes betrieben. Die Franzosen selbst besassen dabei 1930 kaum mehr als 15% des kultivierten Reisbaulandes, das überwiegend vietnamesischen und chinesischen Grundbesitzern gehörte. Auch in der präkolonialen Periode lagen die sozio-ökonomischen Verhältnisse in Vietnam kaum günstiger. Wie explosiv allerdings bis in die jüngste Zeit gerade die Agrarverhältnisse im Mekongdelta blieben, zeigen folgende Angaben: 1967 bestanden hier noch ca. 1 Mio. Pachtbetriebe. Ihr politisches Gewicht wird deutlich, wenn man sie mit durchschnittlich 6 Familienangehörigen multipliziert; bei Hinzurechnung weiterer 2 Mio. Menschen aus Familien ohne Landbesitz, ergeben sich etwa 8 Mio., d.h. 80% der 10 Mio. Gesamtbewohner des Deltas, für die diese extreme Ausbeutung zur Grundfrage ihrer Existenz wurde. (1)

Während aber der Süden Vietnams über eine günstigere agrarische Produktivität verfügt, da bei geringeren ländlichen Bevölkerungsdichten eine grössere landwirtschaftliche Nutzfläche zur Verfügung steht und traditionell Reisüberschuss erzielt werden kann, neben dem noch Handelsgewächse (besonders Kautschuk) mit hohen Produktionswerten ins Gewicht fallen, ergibt sich für den Norden eine ganz andere Situation. Eingeengt auf das Tonkingdelta, umfasst die landwirtschaftliche Nutzfläche hier nur 13% des Landes. Sehr viel besser als der Süden ist dagegen das gebirgsreiche Nordvietnam mit mineralischen Rohstoffen ausgestattet. Seine Kohlenvorräte werden auf 20 Mrd. t geschätzt und die Kohleproduktion betrug in den 30er Jahren bereits rund 1,7 Mio. t. Sehr günstig ist auch die Ausstattung mit Eisenerzen (Vorräte rund 20 Mio. t), weiter werden Zinn, Zink, Chrom, Kupfer, Wolfram, Blei, Gold, Nickel, Kobalt, Mangan, Quecksilber und Bauxit gewonnen. Insgesamt ergibt sich damit eine günstige Basis für eine Eisen- und Stahl- wie NE-Industrie. Mächtige Lager von Phosphaten (etwa 1 Mrd. t) können zur Düngerproduktion genutzt werden. Bei dieser Begünstigung durch Bodenschätze und Energie und mit einer dichtgeballten und arbeitsamen Bevölkerung konnte Nordvietnam das stärkste Industriepotential SO-Asiens erreichen; es gehörte auch zu den wenigen Gebieten, die schon während der Kolonialzeit einen industriellen Ausbau erfuhren. Natürlich betrieben die Franzosen vor allem imperialistischen Raubbau an den Rohstoffen. Aber wichtig ist nur, dass Frankreich mit dem Eindringen in diesen alten Kulturbereich die traditionellen sozialen und wirtschaftlichen Grundlagen immer stärker unterminieren musste. Die vietnamesische Agrargesellschaft wurde zusehends den wirtschaftlichen Belangen Frankreichs dienstbar gemacht. Und hierbei lagen die Interessen neben der Plantagenwirtschaft - vor allem Kautschuk - besonders im Bergbaubereich. Hier investierten die französischen Kapitalisten, und schufen damit die neuen Klassen des Proletariats und der Kompradorenbourgeoisie. Letztere gingen dem »Herrenvolk« der Kolonialisten bei ihrer Ausraubung Vietnams zur Hand, erstere mussten im Schweisse ihres Angesichts die Schätze aus den Bergen hauen. 1928 gab es in Vietnam aber erst rund 33 000 Industriearbeiter, vor allem eben in den Kohlegruben des Nordens, und dazu ein paar tausend Arbeiter der Baumwollspinnereien und Webereien, aber diese Zahl sollte mit dem forcierten Zustrom französischen Kapitals stetig steigen. Dennoch betrug bis zur Unabhängigkeit 1945 der Anteil des reinen Industrieproletariats an der Bevölkerung ganz Vietnams nie mehr als 2 - 3%, und die »demographische« Ballung dieses Proletariats blieb im wesentlichen auf den Norden, auf Tonking, beschränkt. Insgesamt war Vietnam also eine vom Imperialismus beherrschte Feudalgesellschaft, die aber mit der formalen Subsumption unter das internationale Kapital eine dauernde Verschärfung ihrer inneren Auflösungsprozesse erfuhr. Klar überwog bis zum Ausgang des 2. Weltkrieges die traditionelle Wirtschaftsform der weitgehend autarken Dörfer, in denen Bauern das anbauten, was sie brauchten. Die agrarischen Überschüsse gelangten in Form von Zwangsabgaben an die parasitären Grundbesitzer, die sie höchstens für spekulative Handelsgeschäfte verwandten. Da trotz des Eindringens des französischen Imperialismus die überkommene Wirtschaftsform der Subsistenzwirtschaft und des dörflichen Handwerks vorherrschte und die ökonomisch herrschende Klasse ihr Rentier-Dasein pflegte, standen der Entwicklung der kapitalistischen Produktivkräfte starke gesellschaftliche Barrieren entgegen.

Anders als frühere Eroberungen der Chinesen, die an der Produktionsweise nichts Grundsätzliches ändern konnten, da sie keine höhere vertraten, riss zwar die französische Eroberung Vietnam in den Strudel des internationalen Kapitalismus, aber nur soweit, wie die Interessen Frankreichs nach agrarischen und mineralischen Rohstoffen zu befriedigen waren. Politisch stützten sich die Franzosen dabei gerade auf die traditionelle Klasse der Grundbesitzer, die andererseits durch die Franzosen erst ihr gesellschaftliches Überleben sichern konnten. Insoweit repräsentierten die Franzosen für Vietnam beides: zum einen die erste Berührung mit der kapitalistischen Produktionsweise und damit die Möglichkeit einer eigenen kapitalistischen Entwicklung, zum anderen aber gerade die entscheidende politische Barriere, um die überkommenen Schranken der eigenen Produktionsweise zu vernichten.

Zwar löste sich die »autarke« Arbeitsteilung der vietnamesischen Dörfer immer mehr auf. An ihre Stelle trat eine über den Markt vermittelte Arbeitsteilung, die zunehmend auch in Vietnam die Produktion von landwirtschaftlichen Waren dem Lande, die von gewerblichen Waren der Stadt zuwies. Aber die Entstehung dieser einfachen Warenproduktion, als Ursprung und Grundlage einer kapitalistischen Warenproduktion, wurde immer wieder durch den mangelnden agrarischen Überschuss an ihrer grundlegenden Expansion gehindert. So blieb das Marktprinzip für die Dörfer stets weitgehend »peripher«. Sie produzierten in erster Linie Produkte und nicht Waren, d.h. Tauschwerte. Nur zu einem kleineren Teil wurden die bäuerlichen Erträge vermarktet. Eine Wirtschaftsentwicklung im Sinne einer ursprünglichen Akkumulation des Kapitals war noch stets daran gebunden, dass die selbstgenügsame bäuerliche Produktionseinheit aufgebrochen wurde. Erst wenn die Bauern sich entweder als Anbieter von landwirtschaftlichen und gewerblichen Waren, jeweils unter Zurückstellung der Herstellung von Produkten für den Eigenbedarf, also der Spezialisierung, öffneten, konnten sie als relevante Abnehmer der städtischen Waren auftreten. Diese neue Stufe der gesellschaftlichen Arbeitsteilung war aber nur dann erreichbar, wenn den Städten ihre privilegierte Stellung im gesamtwirtschaftlichen Produktions- und Austauschprozess genommen wurde und sich neben ihnen ländliche Standorte der gewerblichen Warenproduktion und Märkte mit einem lokalen Einzugsbereich herausbilden konnten.

Wie gesagt, der französische Imperialismus brachte einerseits entscheidende Impulse für die Herausbildung einer verallgemeinerten Warenproduktion in Vietnam und damit für eine Stärkung der Voraussetzungen für eine kapitalistische Entwicklung. Die vietnamesische Gesellschaft wurde aber andererseits durch die Franzosen ständig gesellschaftlich konserviert. Beide Momente bedeuteten für das Land eine permanente Zuspitzung seiner inneren Widersprüche: Die Bauern wurden zwar zunehmend ihrer traditionellen Arbeitsweise beraubt, wie durch wachsende Pachtzahlungen schwer ausgebeutet. Sie wurden aber höchstens pauperisiert, kaum je proletarisiert, denn die Grundbesitzer sahen keinen Sinn darin, ihre ausgepressten Summen zu »investieren«.

Dass sich andererseits unter solchen sozialen und politischen Verhältnissen Gärungsprozesse bilden müssen, ist nur allzu klar, besonders wenn man es mit einem Volk wie den Vietnamesen zu tun hat, das stets stolz auf seinen hartnäckigen Widerstand gegen ausländische Invasoren war. Dass sich zudem unter den gebildeten Vietnamesen eine Vielzahl von leidenschaftlichen Patrioten formieren musste, die danach trachteten, ihr Land vom Terror der fremden Herrenmenschen zu befreien, dem Land in seinem qualvollen Dilemma von verbauter Zukunft und bedrückender Vergangenheit den Weg nach vorn zurückzuerobern, ist ebenso klar.

Vor diesem bisher skizzierten Hintergrund gewinnen die wichtigsten sozialen Vertreter der gesellschaftlichen Stürme an Kontur: Zuerst die Franzosen als »Sendboten« des imperialistischen Kapitals, dann die einheimischen parasitären Grundbesitzer, zusammen mit der Handelsbourgeoisie, Alliierte dieser reaktionären Funktionäre des Kapitals; auf der anderen Seite die ausgebeuteten Bauern und als neue Klassen die Repräsentanten der kapitalistischen Möglichkeit, der revolutionäre Bourgeois als Citoyen - zusammen mit seinem Counterpart, dem Proletarier; beide allerdings zahlenmässig äusserst schwach, aber als Realität zunehmend präsent, da durch die gesellschaftlichen Widersprüche dieser kolonialen »Übergangsgesellschaft« zum Kapitalismus ständig neu gebildet.

Die Wirklichkeit hinter dem Mythos von Vietminh: die soziale Bewegung in den Fangarmen der bürgerlichen Kompromissler
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Was die heutige Beurteilung der vietnamesischen Ereignisse nach dem 2. Weltkrieg offensichtlich so verwirrend macht, ist allein die Tatsache, dass ein massgeblicher Teil dieser Patrioten formal als »Marxisten« usw. firmiert. Im Grunde heisst das aber nichts, denn mit diesem Abstraktum kann sich schliesslich jeder schmücken. Es ist aber kein Zufall, dass die national-bürgerlichen Bewegungen des 20. Jahrhunderts gern mit diesem Anspruch hausieren gehen. Dass die Bourgeoisie noch stets mit allen hehren Idealen auf den Lippen ihre Klassenherrschaft errichtete und auch stets mit ihren Parolen diese ihre Diktatur kaschieren wollte, ist von der Geschichte schon immer bestätigt worden.

Dass die vietnamesischen Ideologen einer kapitalistischen Entwicklung zumindest äusserlich unter diesem »Markenzeichen« antraten, ist allein Produkt der tragischen Niederlage nicht nur des russischen, sondern vielmehr des internationalen Proletariats nach dem 1. Weltkrieg. Die revolutionäre Kraft des europäischen Proletariats, geschweige des amerikanischen, reichte bekanntlich nicht aus, um gegen »ihre« Bourgeoisie einen Sieg zu erringen, womit die russische Revolution auf ihre nationale Industrialisierungsaufgabe zurückgeworfen wurde. Aber ein Wahnsinn, sich vorzustellen, diese Aufgabe hätte in Russland nur durch die beliebten Klischees von Kapitalisten, womöglich noch mit liberal-demokratischen Sprüchen, erreicht werden können. Ganz im Gegenteil. Die Konterrevolution war zwingend, da nach der internationalen Niederlage des Proletariats allein das nationale Programm einer kapitalistischen Entwicklungsdiktatur auf der Tagesordnung stehen konnte. Und das russische Proletariat musste mit seinen eigenen Waffen geschlagen werden. Unter ihren Sturmzeichen, mit ihren Kampfparolen, unter scheinbarer Berufung auf ihre Zukunftsvision, wurden die besten Revolutionäre massakriert und der Rest zur Fabrik wie zur Zwangsarbeit gezwungen. Dies alles allein aufgrund des Zwanges der rigorosesten Entwicklung der Produktivkräfte, denn stärkere Kapitalisten lagen schon auf der Lauer, um dem sich entwickelnden russischen Kapitalismus das Lebenslicht auszublasen und ihrem Diktat unterzuordnen, es ganz einfach zu kolonialisieren.

In dem stalinistischen Funktionär des russischen Kapitals findet in der Tat die spezifisch bürgerliche Verdoppelung von Praktiker der Ausbeutung und Verkünder der Menschheitsbeglückung seine bizarrsten Resultate. Aus der Not, mit der proletarischen Revolution aufräumen zu müssen, machte er seine ihm eigene konterrevolutionäre Tugend. So konnte er seine Diktatur verbrämen, so konnte er seine Ideologie der Klassenharmonie und der Volksgemeinschaft rechtfertigen, so konnte er jeden Ansatz einer autonomen Arbeiterbewegung im Keim ersticken. Und als Nebenprodukt ergab sich ganz automatisch als glückliche Fügung, dass alle Angriffe gegen ihn zuerst die kommunistische Perspektive einer Revolution treffen mussten: Denn das einzige, was wirklich in diesen Ländern des Ostens klappen sollte, war die permanente Züchtung von radikalen Antikommunisten.

Mit dieser stalinistischen Konterrevolution war auch das Schicksal aller übrigen vorkapitalistischen Länder vorgezeichnet. Mit der Niederlage der proletarischen Revolution in den kapitalistischen Ländern des Westens waren sie alle auf den blutigen Weg der Verteidigung ihrer nationalen Akkumulation gegen einen raubgierigen und brutalen entwickelten Kapitalismus verwiesen. Die grandiose Perspektive einer grundlegenden Veränderung der Entwicklung aufgrund eines Siegs der Revolution gegen den Kapitalismus, die Marx wie die frühe III. Internationale aufzeigten, war damit unmöglich geworden. Was blieb, war die Demagogie. Denn wie sollte man einen Kapitalismus abschaffen, den es gar nicht gab; wie den antikolonialen Kampf als »sozialistisch« ausgeben, wenn man mit der Vernichtung der Kolonialherrschaft erst die wichtigste Schranke für die Entwicklung der bürgerlichen Gesellschaft aus dem Weg räumte; wie konnte man von Abschaffung der Lohnarbeit reden, wenn man die Produzenten erst noch von ihren Produktionsmitteln gewaltsam trennen musste, um sie als Lohnarbeiter schuften zu lassen; wie konnte man von Abschaffung der Warenproduktion reden, wenn es die Warenproduktion als kapitalistische erst noch zu verallgemeinern galt; wie konnte man schliesslich von Überwindung oder Beherrschung des Wertgesetzes reden, wenn sich die quasi naturgesetzlichen Wirkungen dieses Wertgesetzes gerade erst mit der Entwicklung der Produktivkräfte einstellen konnten. Schutz der eigenen Produktivkräfte nach aussen, also möglichste Autarkie, und absolute Konzentration auf produktive Arbeit, also Mehrwertproduktion, das sind die wichtigsten Kriterien einer jeden sich entwickelnden Kapitalakkumulation. Und natürlich sind die Bedingungen für ein sich entwickelndes und ein schon entwickeltes Kapital nicht ein und dieselben. Dies sind zwei völlig verschiedene Perioden der Akkumulation, Auch geschieht jedwede Kapitalentwicklung am Ende des 20. Jahrhunderts unter ganz anderen internationalen Rahmenbedingungen, als zu Beginn der Herausbildung des europäischen Kapitals. Was allerdings bleibt, ist die Notwendigkeit der Ausbeutung und der möglichsten Verschleierung dieser Tatsache durch die Funktionäre des Kapitals.

Die vietnamesischen Patrioten wussten nur, dass es notwendig war, die koloniale Tyrannei zu brechen und mit ihr mit der eigenen feudalen Klasse aufzuräumen, um die Voraussetzungen für die eigene Produktivkraftentwicklung zu legen. Ihr wichtigster Vertreter Ho Tschi Min drückte das immer offen aus. Dass sein Lebensweg ihn in die Reihen der Stalinisten trieb, bestärkte ihn nur in diesem Willen, der ihm von den realen Bedingungen seines Landes vorgegeben war. Zu sagen, Ho sei kein realer Kapitalist gewesen, deshalb sei er kein bürgerlicher Revolutionär, ist einfach lächerlich. Praktisch nie waren reale Kapitalisten bei der Herausbildung der kapitalistischen Produktionsweise die eigentlich treibende Kraft. Sie klebten stets viel zu sehr an ihren Geschäftsbüchern, um die dafür nötige langfristige Perspektive und Radikalität zu besitzen. Die exemplarische »grosse bürgerliche Revolution«, nämlich die französische, wurde deshalb nicht zufällig vor allem von »Kleinbürgern« und »Intellektuellen« in Szene gesetzt. Diese scheuten sogar nicht einmal davor zurück, wenn nötig, die eigentlichen Bourgeois umzubringen, um damit den Sieg der bürgerlichen Revolution vor den Augen ihrer Mitstreiter, den Bauern, Handwerkern und Lohnabhängigen, zu rechtfertigen.

Dass Ho und seine Mannschaft nie proletarische Revolutionäre und Kommunisten, sondern im Vergleich z.B. zu den früheren französischen Kollegen höchst vorsichtige, ängstliche Taktierer waren, zeigt ihr Verhalten in der Stunde der Unabhängigkeit. Und das ist auch kein Zufall, denn Unabhängigkeit ist angesichts der heutigen internationalen kapitalistischen Verflechtungen von Anfang an nichts als eine Farce. Allein hätte man nie eine Chance gegen das entwickelte Kapital. Und die Notwendigkeit eines stärkeren Bündnispartners bringt einen von vornherein in die leidige Zwangslage, sich seinerseits gegen eine allzu starke Vereinnahmung durch diesen »Bruder« zu schützen.

Fern von der Heimat organisierten die vietnamesischen Nationalisten mit Unterstützung der russischen Stalinisten ihre Bewegung. Im Februar 1930 schufen sie aus drei Vorläufern die »Kommunistische Partei Vietnams«, die erst auf einen Ukas aus Moskau hin in »Kommunistische Partei Indochinas« umbenannt wurde. Zum Zeitpunkt der Gründung hatte sie 211 Mitglieder. Und obwohl klar war, dass eine nationale Bewegung allein unter der verelendeten Bauernschaft eine militante Basis gewinnen konnte, stand im Programm eine Landreform keineswegs im Vordergrund.

Dass die Zeit auch in Vietnam reif war, zeigten die ersten Arbeiterstreiks 1928/29 und 1930, die von Gewerkschaften mit rund 10 000 Mitgliedern unter weitgehender Kontrolle der »KP« beherrscht wurden. Auch der Bauernverband der Stalinisten mit seinen rund 70 000 Mitgliedern spielte eine Rolle bei den ebenfalls 1930 einsetzenden Bauernunruhen, die 1931 im Gebiet von Annam zur Gründung der ersten »Sowjets« in Indochina führten - der berühmten Xo Viet Nghe Tinh. Dies war die erste revolutionäre Massenerhebung in neuerer Zeit, die vor allem von den Bauern getragen wurde. Vorerst gelang es allerdings den Franzosen, sie im Blute zu vernichten.

Obwohl die vietnamesischen Bauern ihre Militanz bewiesen und obwohl es klar war, dass nur eine radikale Agrarreform diese Militanz der Bauern zu steigern vermochte, hatten Ho und seine Leute nichts eiligeres zu tun, als von Anfang an die radikalen Bestrebungen der Bauern zu unterdrücken. Vor allem hier erwiesen sie sich als typisch ängstlich taktierende Vertreter ihrer Klasse. Das Grundproblem jeder bürgerlichen Revolution - eben die soziale Frage der Landwirtschaft - wurde wegen seiner Brisanz zugunsten der zweiten Hauptaufgabe - die nationale Befreiung - vorerst weitgehend ausgeklammert. Und das hat auch seine zwingende Logik. Zwar kann die Bourgeoisie nur mit Hilfe der bäuerlichen Bataillone die starke gegnerische Front zerbrechen, aber für ihre Dreckarbeit fordern die Bauern ihren Preis. Sie wollen ihren ewig unerfüllten Traum einer eigenen Landwirtschaft realisieren, sie wollen die grossen Güter ihrer Unterdrücker unter sich aufteilen, und fortan ein friedliches Leben der kleinen Landwirtschaft fristen.

Das ist aber nie das Programm des Bourgeois. Er setzt gegen diese bäuerliche Perspektive der kleinen Landwirtschaft sein Programm einer kapitalistischen Agrarordnung, in denen die Bauern bestenfalls als Landarbeiter einen Platz finden, zum grossen Teil allerdings in die zu entwickelnde Industrie gepresst werden müssen. Die Landwirtschaft der Bourgeoisie rechnet mit grossen Dimensionen, denn hier sollen die Überschüsse erwirtschaftet werden, die Voraussetzung jeder Industrialisierung sind. So ist es für einen Bourgeois stets vordringlich, die aus der sozialen Not erzeugten radikalen Impulse der Bauern im Griff zu halten, sollen sie nicht ihm sein schönes Konzept verderben. Und dass bäuerliche Militanz nicht nur von Vorteil ist, zeigt das Beispiel der französischen Revolution. Sie erlangte sicher abgesehen von den armen Städtern vor allem durch die Radikalität der Bauern ihre beispiellose Militanz. Aber um der Revolution zu ihrem Sieg zu verhelfen, musste die Bourgeoisie zusehen, wie die Bauern ihr Programm der privaten Landnahme in die Tat umsetzten und auch später aufgrund ihres revolutionären Geistes nur schwer wieder von diesem vertrieben werden konnten. Die Wirkung war erstaunlich. Das Land mit der durchschlagendsten bürgerlichen Revolution fand nie die Dynamik im Industrialisierungsprozess wie beispielsweise Deutschland, das bekanntlich nie eine siegreiche bürgerliche Revolution erlebt hatte. Bis zum Ende des 2. Weltkrieges krebste die französische Industrieentwicklung mühsam vor sich hin, und sie hat bis heute ihren relativ starken Agraranteil nie völlig überwinden können.

Die Beziehungen zwischen Bauern und Bourgeoisie in einer bürgerlichen Revolution waren und sind also immer komplex und grundsätzlich widersprüchlich. Erst recht muss dies bei einer Bourgeoisie zum Tragen kommen, die wie die vietnamesische ganz im Schlepptau der russischen Stalinisten hing. Denn in Moskau sassen jetzt die Strategen der russischen Grossmachtpolitik, für die soziale Bewegungen nur soweit in ihr Kalkül passten, als sie die eigene nationale Position absichern halfen.

Während der 1. Kongress der KP Indochinas im März 1935 in Macao in Ho's Abwesenheit die revolutionäre Lage in Vietnam für äusserst günstig befunden hatte, hielt sich Ho in Moskau auf. Dort deklarierten die Stalinisten bekanntlich auf dem 7. Weltkongress [der Komintern] ihre bis heute gültige Formel der Volksfrontpolitik. In letzter Konsequenz bedeutete diese neue Linie für die vietnamesischen Nationalisten nichts anderes, als dass sie ein Bündnis mit ihren Todfeinden, der französischen Kolonialmacht, vertreten durch das Lager der Grundbesitzer, einzugehen gezwungen wurden. Das setzte andererseits voraus, dass man den neuen »Bündnispartner« vor den radikalen Ambitionen der Bauern schützen musste, weswegen man ein Agrarprogramm in den Schubladen verschwinden liess. Immerhin benötigten die Stalinisten jedoch ein volles Jahr, bis sie die Linie der Vietnamesen korrigierten und im Juli 1936 durch einen ZK-Beschluss auf eine »Antiimperialistische Volksfront« umschalteten. Nach dem Sieg der Volksfront in Frankreich nahm man auch rasch Verbindungen zum Kolonialherren auf.

Die anfangs noch starke Opposition gegen diesen Verrat an der nationalen Sache räumte man mit der beim russischen Vorbild gelernten rigorosen Härte aus. Dies war die Zeit der Eliminierung der »Trotzkisten«, natürlich auch in Vietnam »Handlanger der Faschisten«, die es zu vernichten galt. Endgültig wurde der Bruch zum »trotzkistischen« Flügel, der vor allem in Cochinchina stark war, als die Fraktion um Ho die Volksfrontlinie noch um einen entscheidenden Grad verschärfte: Nach dem Ausbruch des chinesisch-japanischen Krieges 1937 riefen diese »Helden« der vietnamesischen Revolution dazu auf, den Kampf gegen die »japanischen Faschisten« gegenüber dem Kampf gegen die Grundbesitzer als vorrangig zu erklären und sich sogar mit den Franzosen gegen die Japaner zu verbünden.

Ihren vorläufigen Höhepunkt fand diese Politik im Mai 1941 auf dem 8. Plenum des ZK, das Ho, der im Januar nach beinahe 30jähriger Abwesenheit nach Vietnam zurückgekommen war, präsidierte. Jetzt wurde die Liga für die Unabhängigkeit Vietnams (Vietnam Doc Lap Dong Minh, abgekürzt »Vietminh«) geschaffen mit dem Ziel,
»
alle Patrioten zu vereinigen, ohne Unterschied von Besitz, Alter, Geschlecht, Religion oder politische Anschauung, um gemeinsam an der Befreiung unseres Volkes zu arbeiten und zum Wohle unseres Vaterlandes« (2).
Jetzt endlich nach 10 Jahren konnte Ho dank der Ausrottung des Widerstandes in den eigenen Reihen auch ein noch so vorsichtiges Agrarprogramm ad acta legen. Sogar die Floskel »Enteignung konterrevolutionärer Grundbesitzer zugunsten armer Bauern« wurde gestrichen. Ho begründete das später so:
»
Die Partei änderte rechtzeitig ihre Taktik. In der Absicht, alle patriotischen Kräfte zu vereinen... nahm die Partei vorläufig die Losung der Agrarrevolution zurück... So suchten wir alle Kräfte im Kampf gegen die Imperialisten zu vereinigen... (und) die patriotischen Grundbesitzer mit einzubeziehen (3).

Zugunsten der Mobilisierung der Bauern setzten die vietnamesischen Stalinisten also auf die einheimischen Grundbesitzer, und damit auf diejenigen, die nur durch die Präsenz der Kolonialisten - und später der Amerikaner - ihren unvermeidlichen Untergang aufhalten konnten. Erst im November 1940 waren Bauernaufstände durch das zeitweilige Zusammengehen von Japanern und Franzosen blutig niedergeschlagen worden. Sich an die Grundbesitzer binden und so den Bauern ihr »Zaumzeug« anlegen, bedeutete deshalb nichts anderes, als jede nationale Bewegung zu verraten, sicherlich nicht zuletzt aus Angst, man könnte die Kontrolle über die Bauern verlieren. Was blieb, war die entwürdigende Rolle des Bittstellers am Hofe der Kolonialisten.

Dieses traurige Schauspiel inszenierte Ho an der Wende des letzten imperialistischen Krieges. Die stärkeren kapitalistischen Länder hatten die Herausforderung durch die »Spätentwickler« pariert. Unter den Schalmeienklängen der Roosevelt'schen Frohen Botschaft machten sich diese Helden der Demokratie wieder daran, sich die zeitweilig aus der Kontrolle geratenen Gebiete wieder untertan zu machen. Für Vietnam hatten sie sich folgendes ausgedacht: England vom Süden und China - natürlich damals noch Chian's - vom Norden sollten das Land besetzen und von den Japanern »befreien«. Anschliessend sollte es dem »rechtmässigen Besitzer« Frankreich übereignet werden, der aufgrund mangelnder Transportkapazitäten seine imperialistischen Ambitionen noch nicht voll wieder aufnehmen konnte. Und der neue lange Held der Franzosen [De Gaulle] hatte schon am 8. Dezember 1943 in Algier von der »Notwendigkeit« für Frankreich gesprochen, sich wieder in Indochina festzusetzen. Selbst wollte man zwar keine »Kolonie« werden, aber andere wollte man sich doch weiterhin dienstbar halten.

Derweil appellierte der Vietminh unermüdlich an die vormals revolutionären Traditionen seines Herrn - als wenn das auch für diese Leute nichts als eine vergangene Episode gewesen wäre. Oder Ho setzte auf die Amerikaner, die ja jetzt die neuen Herren auch der asiatischen Welt werden sollten.

Die u.a. aus je einem Drittel von Sozialisten und Stalinisten gebildete französische Regierung machte andererseits aus ihren Absichten keinen Hehl: Am 24. März 1945 gab sie ihr Indochina-Programm bekannt, in dem sie unmissverständlich die Bildung einer Föderation von fünf Ländern Indochinas forderte. Die französische Regierung wollte auf diese Weise die drei vietnamesischen »Länder« Tongking, Annam und Cochinchina für immer auseinanderhalten, ebenso wie Kambodscha und Laos.

Mit der Kapitulation Japans im August 1945 erreichte die soziale Bewegung andererseits ihren Siedepunkt. Am 16. August wurde ein »Nationalkomitee zur Befreiung Vietnams« gegründet, das die Parole aufstellte, »entschlossen zu sein, noch vor Eintreffen der Alliierten die Macht aus den Händen der japanischen Faschisten zu übernehmen.« In der Nacht vom 19. auf den 20. August machte sich die angestaute Volkswut Luft.

Diese »August-Revolution« Vietnams wurde am 25. August mit der freiwilligen Abdankung des Kaisers Bao Dai - er blieb aber »oberster« Berater der neuen Regierung - zugunsten einer Demokratischen Republik Vietnam besiegelt. Das übrige war nur noch Formsache. Am 29. wurde Ho Präsident der Provisorischen Regierung und am 2. September fand in Hanoi die Proklamation der Unabhängigkeit Vietnams statt. Die Unabhängigkeitserklärung wurde von Ho selbst entworfen. Auch hier blieb er sich wieder treu, indem er sie mit den gleichen hübschen Formeln wie die amerikanische beginnen liess. Er hoffte offensichtlich, so die entscheidende Weltmacht milder zu stimmen, nicht sehend, dass die jetzigen imperialistischen Statthalter kaum noch etwas mit ihren revolutionären Vorfahren zu tun hatten. Es ist die Tragik eines jeden revolutionären Bourgeois, mit den Praktiken seiner konterrevolutionären Kollegen Bekanntschaft zu machen. Zwar hatte Ho bei den Franzosen wahrlich schon genug Anschauungsunterricht erhalten - doch die oft lächerlich wirkende Bestrebung zum Kompromiss mit dem Imperialismus entspricht der Natur der aufstrebenden Bourgeoisie der Kolonialländer.

Gegenüber den Imperialisten hatte er nur Nettigkeiten und aufmerksame Gesten im Sinne. Nicht zuletzt aus diesem Grunde löste Ho am 11. November 1945 offiziell die KP auf - was andererseits natürlich nicht viel bedeutete, hatte man sie doch schon längst hinter den verschiedenen »Fronten« verschwinden lassen. Aber man wusste wohl, dass Imperialisten stets allergisch auf diese Bezeichnung reagieren und sich kaum die Mühe machen, diesen revolutionären Anspruch auf seinen wirklichen Inhalt hin abzuklopfen. Für einen Imperialisten ist diese Geisteshaltung nur konsequent. Er wittert bekanntlich in jeder Änderung des Status quo die dunklen Kräfte der Finsternis, die seiner »lichtvollen« Botschaft den Lebensraum abschneiden wollen. Ob soziale Kämpfe im eigenen Land oder national-bürgerliche Bewegungen, er sieht mit Recht nur den Angriff auf seine Profitmöglichkeiten. Und da man lieber nicht Klartext redet, bevorzugen der Imperialist und sein Ideologe noch stets die moralische Verzierung. Wenn sich der Gegner selbst zum »Teufel« ernennt, um so besser, sonst wird ihm die Propagandamaschine schon das richtige Etikett an den Rock kleben. Und mit diesem Kainsmal geschmückt, ist noch die grösste Schandtat legitim, schliesslich philosophiert ein eingefleischter Imperialist nicht über »Gewalt gegen Sachen« oder »Gewalt gegen Personen«, er kennt nur die Gewalt als solche - denn für ihn sind alle Personen Sachen, nämlich Objekte seiner Ausbeutung.

So höflich und zuvorkommend Ho - den wir hier immer als Personifizierung einer sozialen Kraft nennen - sich gegenüber seinen reichen Verwandten benahm, so brutal konnte er mit denen verfahren, die nicht so wollten, wie er sich das dachte. Vor allem mit den »Trotzkisten« hatte man noch nicht endgültig aufgeräumt. Und weil es so bequem war, wurden gleich alle unbotmässigen, sprich revoltierenden Arbeiter wie Bauern für vogelfrei erklärt. Dies ist auch wieder typisch für jede bürgerliche Revolution, nur mit dem kleinen Unterschied, dass man früher auch gegen »rechts« vorging. Für Ho gab es aber rechts vorerst nur »Freunde«, der Feind stand für ihn links. Der antijapanische Aufstand hatte die Bauern in Bewegung gesetzt, die in diesem Jahr unter einer besonders schweren Hungersnot litten. Jede Bauernbewegung liess die Grundbesitzer erzittern, da diese wussten, dass ihr Boden sich in Gefahr befand und sie sich weder auf die Japaner noch auf die Franzosen stützen konnten, um die Angriffe der Bauern abzuwehren. Aber bei Onkel Ho waren sie gut aufgehoben. Gegen Angriffe von links hiess die klare Warnung:
»
All diejenigen, die die Bauern aufgehetzt haben, um Eigentum der Grundbesitzer zu besetzen, werden streng und unbarmherzig bestraft werden. Wir haben noch nicht die kommunistische Revolution gemacht, welche das Agrarproblem lösen wird. Diese Regierung ist nur eine demokratisch Regierung, weshalb eine solche Aufgabe nicht von ihr gelöst werden kann. Unsere Regierung, ich wiederhole, ist eine bürgerlich-demokratische Regierung, auch wenn die Kommunisten jetzt an der Macht sind (4)
Und das war kein leeres Gerede, sondern brutale Praxis. Die Bauern wurden zur Ruhe gezwungen, die »Rädelsführer« liquidiert - und zur allgemeinen Beruhigung gab es das Spektakel »freier« Wahlen am 6. Januar 1946. Ho tat also alles, um sich seinen Meistern in der Fremde würdig zu erweisen. Für Kolonialisten besteht die entscheidende Prüfung für mögliche einheimische Statthalter bekanntlich darin, ob sie so »Ordnung« im Lande halten können wie sie. Diesen entscheidenden Lackmustest wollte Ho unter allen Umständen bestehen. Das zeigte sich besonders in Südvietnam, wo der Aufstand zwar auch äusserst militant ablief, aber die Stalinisten wegen ihrer geringeren Präsenz als im Norden nicht so einfach alle Aktionen der Arbeiter und Bauern im Keim ersticken konnten. Aber man tat, was man konnte. Über ihre Presse befahl der Vietminh die Auflösung aller Partisanenverbände, die gegen die Japaner gekämpft hatten. Alle Waffen sollten der Polizeitruppe der Stalinisten ausgehändigt werden. Die Gruppen, die man mit dieser Entscheidung treffen wollte, waren nicht so sehr die militanten religiösen Sekten, als besonders die Arbeiterräte, von denen einige bewaffnet waren. Sofort nachdem der Vietminh in enger Zusammenarbeit mit den übrigen nationalen und religiösen Kräften am 25. August auch in Saigon die Macht übernommen hatte, begann er mit seiner Jagd auf die »trotzkistische« Organisation »Der Kampf« (Tranh Dau), und Anfang 1946 wurde deren Chef Ta Thu Thau von ihnen ermordet - dies trotz der ständigen Versicherungen, den Vietminh und seine Regierung »kritisch« zu unterstützen: so lautet ja bekanntlich die opportunistische Formel bei den »Trotzkisten«. Vor allem wollten die Stalinisten aber die kämpfenden Arbeiter ausschalten, denn nicht durch breitesten Kampf wollte der Vietminh Vietnam vom Imperialismus zurückerobern, sondern nur durch Verhandlungen. Und dafür brauchte er »Ruhe und Ordnung« im Lande. Die Bevölkerung Saigons wurde deshalb aufgerufen, sich in die ländliche Umgebung zu verteilen, Zusammenstösse zu vermeiden und »Ruhe zu bewahren«. Und so war es kein Wunder, dass die französischen Truppen, die in der Nacht vom 22. auf den 23. September mit Unterstützung englischer Gurkhas wichtige Gebäude Saigons besetzten, anfangs auf geringen Widerstand stiessen. Diese imperialistische Provokation führte jedoch zu Reaktionen, die sich wie ein Lauffeuer in der Stadt verbreiteten. In allen Arbeitervierteln entflammten daraufhin Aufstände. Der Vietminh setzte sich nicht etwa an die Spitze dieser spontanen Revolten, sondern lancierte vielmehr einen üblen Trick. Auf Flugblättern hiess es:
»
Die Franzosen... haben offenbar Spass daran, unser Volk zu morden. Darauf kann es nur eine Antwort geben: die Lebensmittelblockade

Während der Vietminh versucht, die Franzosen »auszuhungern« - ein lächerliches Unterfangen, denn britische Schiffe kontrollieren den Zugang zum Hafen –, bemüht er sich mit aller Gewalt, mit den Briten zu Verhandlungen zu kommen, die auch tatsächlich stattfinden und am 1.10. mit einem Waffenstillstand enden. Am 5.10. trifft General Leclerc, Oberbefehlshaber der französischen Truppen, in Saigon ein. Sein Auftrag lautet, die »Ordnung« wiederherzustellen und »innerhalb der französischen Union ein starkes Indochina aufzubauen«. Die »Verhandlungen« zwischen dem Vietminh und den Briten gehen unterdessen weiter. Das einzige Ergebnis ist, dass den britischen und japanischen Truppen »freier und ungehinderter Durchgang« durch die von den Aufständischen besetzten Bezirke gestattet wird. Ganz im Sinne seiner Ordnungspolitik hat der Vietminh bewusst dieser Abmachung zugestimmt. Da er zu schwach ist, um mit den Arbeitern fertig zu werden, sollen die Imperialisten für ihn diese Aufgabe erledigen. Die Imperialisten lassen natürlich immer mehr Truppen anrücken, um die noch fehlenden strategischen Punkte in Saigon zu besetzen. Am 12.10. unternehmen dann die Franzosen zusammen mit den Gurkhas einen Generalangriff auf die wichtigsten Aufständigenviertel. Trotz verzweifelter Gegenwehr werden die Verteidigungslinien der Arbeiter rund um die Innenstadt allmählich ausgeschaltet. Dass der Vietminh in den folgenden Jahren zur vorherrschenden Macht wurde, war nur durch das Blut vieler ermordeter Arbeiter und Bauern erreicht worden. Und diese konterrevolutionären Aktionen der Vietminh machten es den Imperialisten auch letztlich erst möglich, so einfach von Vietnam wieder Besitz zu nehmen.

Aber das Repertoire dieser bürgerlichen Revolutionäre war damit noch nicht erschöpft. Jetzt fing die Farce der Verhandlungen mit den Franzosen erst richtig an. Die Franzosen waren wieder im Lande und dehnten sich zielstrebig aus. Am 28. Februar 1946 schlossen sie ein Abkommen mit den Chinesen, die am 12. September den Norden Vietnams bis zum 16. Breitengrad gemäss der alliierten Vereinbarungen besetzt hatten. Hiermit lösten die Franzosen die Chinesen ab. Nach einer Reihe blutiger Zusammenstösse zwischen den Besatzungstruppen und der Bevölkerung wird am 6. März 1946 ein Abkommen zwischen Frankreich und dem Vietminh getroffen. Auf dieser Grundlage erkennt Frankreich die Demokratische Republik Vietnam (DRV) als unabhängigen Staat an, aber die französischen Truppen werden autorisiert, im Norden die Truppen der Kuomintang abzulösen. Darüber hinaus sollen die Verhandlungen an einem anderen Ort fortgesetzt werden.

Am folgenden Tag veröffentlichen Ho und Leclerc ein gemeinsames Kommuniqué, in dem sie das vietnamesische Volk aufrufen, die französischen Truppen freundlich zu begrüssen. Obwohl die Aufregung unter allen Nationalisten gross ist, landen so die ersten französischen Verbände im Norden am 8. März im Hafen von Haiphong. Um die wachsende Opposition gegen diese Politik besser disziplinieren zu können, gründen die Stalinisten am 25. Mai eine noch »breitere« Einheitsfront mit den programmatischen Schlagworten »Unabhängigkeit« und »Freiheit«: die Hoi Lien Hipe Quoc Dan Viet Nam, kurz Lien Viet.

Dank der Hinhaltetaktik permanenter Verhandlungen hatten es die französischen Imperialisten schon wieder weit gebracht. Im Süden wie im Norden hatten sie sich mit Hilfe der Vietminh etablieren können, nicht zuletzt deshalb, weil zielstrebig alle radikalen, militanten Kämpfe der vietnamesischen Bauern und Arbeiter niedergeschlagen wurden, wobei sich der Vietminh sogar, wenn er es allein nicht schaffte, der imperialistischen Hilfe bediente. Aber Ho wollte verhandeln und die Franzosen brauchten Zeit, um sich wieder richtig einnisten zu können. So verfrachtete man eine vietnamesische Delegation unter Ho's Leitung nach Frankreich. Die erste Überraschung ereilte Ho noch auf dem Fluge. Am 1. Juni proklamierten die Franzosen im Süden Vietnams die »Autonome Republik Cochinchina«, obwohl sie sich erst im Vertrag vom März verpflichtet hatten, die Bevölkerung in einem Referendum über die Zukunft entscheiden zu lassen.

Ho machte nicht etwa kehrt, um endlich ernsthaft gegen die Franzosen zu kämpfen. Nein, er hatte seine Prinzipien, die er bei der Rechtfertigung des Vertrages vor »seinem« Volk so formuliert hatte:
»
Es ist ein Zeichen von Klugheit, wenn man verhandelt, statt zu kämpfen. Wozu sollte man 50 000 oder 100 000 Mann opfern, wenn man durch Verhandlungen die Unabhängigkeit erreichen kann, selbst wenn es vielleicht fünf Jahre dauern sollte?« (5)

Aus Angst vor allzu starken sozialen Eruptionen wählen diese modernen bürgerlichen Revolutionäre à la Gandhi scheinbar den weniger blutigen Weg. Dabei verursachen sie genau das Gegenteil. Das indische Original verhinderte ebenso jede breite radikale Bewegung. Der soziale Stau entlud sich dann ganz folgerichtig in einem massenhaften gegenseitigen Abschlachten der hysterischen Religionsgemeinschaften; zählt man dazu die chronische Stagnation der Wirtschaft und das permanente Elend der Bauern aufgrund der verhinderten oder niedergeschlagenen Agrarrevolution - dann kann man erst ermessen, was der scheinbar so gewaltlose Friedensapostel Gandhi für Massengräber produzierte. Beim sanften Ho liegen die Dinge ähnlich. Ein radikaler, sicher nicht unblutiger Schlag gegen die imperialistische Kanaille hätte weit eher Wahrscheinlichkeit auf Erfolg gehabt, als dieses elende Feilschen. Von den noch bevorstehenden Blutopfern ganz zu schweigen. Ho flog also weiter nach Frankreich - und wurde von seinen »Gastgebern« erst mal nach Biarritz abgeschoben. Hier konnte er nun drei Wochen spazieren gehen, bevor der offizielle Staatsbesuch am 22. Juni beginnen sollte. Ganz zufällig hatte sich nämlich herausgestellt, dass Frankreich gar keine Regierung hatte, da just zur gleichen Zeit mal wieder Wahlen stattfanden. Ho's Geduld war ohne Grenzen. Er logierte jetzt in einem Hotel 2. Klasse, war sozusagen »eingesperrt«, sagte aber zu seiner Lage nur lächelnd, er habe »schon schlechtere Aufenthaltsorte« erlebt. Der offizielle Staatsbesuch, auf dem die französischen Bourgeois diesen traurigen Helden mit sichtlichem Unbehagen zur Kenntnis nahmen, dauerte bis zum 4. Juli. Anschliessend begannen die Verhandlungen über die französisch-vietnamesischen Beziehungen in Fontainebleau, extra isoliert von Paris und nur unter Beteiligung französischer »Experten«, d.h. keiner massgeblichen Politiker. Auf vietnamesischer Seite führte den Vorsitz jetzt im übrigen der heutige [1980] Ministerpräsident Pham Van Dong. Kaum erstaunlich, dass sich die Beratungen ohne Ergebnisse durch die Tage schleppten. Frankreich wollte Indochina wiederhaben, Vietnam wollte die Unabhängigkeit. Pham hatte Anfang September die Schnauze voll und fuhr am 9.9. nach Hause. Wer blieb, war Ho, der noch bis Mitte September weitermachte, um auf Biegen und Brechen etwas Schriftliches in seine Hand zu bekommen. Ergebnis war ein offiziell als »Modus vivendi vom 14. September« bezeichnetes Papier. Der Inhalt entsprach in grossen Zügen dem Vertrag vom März, stellte die Garantien der französischen Interessen im Norden fest und fügte hinzu, dass die demokratischen Freiheiten in Cochinchina respektiert würden. Ausserdem war eine Einstellung der Feindseligkeiten im Süden vorgesehen, die von beiden Seiten erfolgen sollte. Also alles nur leeres Gewäsch - und das nach über drei Monaten in Frankreich. So ist wahrscheinlich noch selten in der Geschichte ein vermeintlicher Revolutionär von seinem Gegner abgespeist worden. Und dabei wird Ho heute zum Ahnen des vietnamesischen »Kommunismus« verklärt! Es ist in der Tat kaum zu fassen.

Aber das Rührstück war noch nicht zu Ende. Am 18. Oktober erreichte sein Schiff Vietnam, und gleich tauschte er wieder Freundlichkeiten mit dem französischen Hochkommissar aus. Am 23. trat er mit leeren Händen vor sein Volk, liess in Haiphong zum Empfang die Marseillaise intonieren. Und in Hanoi lautete sein Kernsatz:
»
Die Franzosen stehen uns durchaus gutwillig gegenüber. Das gleiche muss von uns aus ihnen gegenüber der Fall sein. Wir müssen uns den Militärs gegenüber höflich und den französischen Staatsangehörigen gegenüber versöhnlich zeigen. Die ganze Welt muss merken, dass wir ein zivilisiertes Volk sind (6)
Genau dieselben Worte hat inzwischen vor ein paar Wochen Robert Mugabe in Zimbabwe seinem »Volk« wiederholt. Worte und Taten der 1979 in Nicaragua zur Macht gelangten Sandinisten dokumentieren wir in diesem selben Heft. Der soziale Determinismus wirkt unerbittlich und gestaltet selbst die Reden der grossen »Führer«.

Schon einen Monat später stellten die Franzosen die vietnamesische Zivilisation auf die Probe: Im Morgengrauen des 23. November schossen sie aus allen Rohren auf Haiphong. Die Franzosen gaben mehr als 6000 Tote zu, die Vietnamesen redeten von 20 000. Fünf Tage später hatten die Franzosen die Stadt in ihrer Hand. Sie hatten die verflossene Zeit ausgiebig zur Reorganisation genutzt. Jetzt fühlten sie sich stark genug, um endlich mit dem »vietnamesischen Spuk« aufzuräumen. Jetzt erst rief die vietnamesische Regierung zum allgemeinen Aufstand auf, nicht ohne allerdings noch verzweifelt zu versuchen, mit den Franzosen wieder ins Gespräch zu kommen. Man setzte seine ganze Hoffnung auf Léon Blum, der am 12. Dezember neuer Ministerpräsident geworden war. Aber die Franzosen sahen ihre Stunde für gekommen. Der erste Indochinakrieg hatte begonnen.

Der erste Indochinakrieg
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Jetzt beginnt der jahrzehntelange Leidensweg des vietnamesischen Volkes. Wichtig bleibt allerdings festzuhalten, dass vor allem die geringe Radikalität dieser »Revolutionäre« und ihre ständige Furcht vor Volksbewegungen es waren, die das Land quasi hilflos dem Imperialismus auslieferten. Denn dieser wollte nur verhandeln, weil er seine Truppen neu sammeln musste. Erst als die vietnamesischen »Revolutionäre« durch die beständigen Aktionen der Imperialisten gezwungen wurden, mussten sie reagieren. Sie mobilisierten dann je nach Bedarf ihr »Volk«, das in der Tat voll angestauter Wut und wildem Hass gegen die imperialistischen Unterdrücker und ihre einheimischen Lakaien war. Sie mobilisierten es aber nur, um es in der nächsten Runde wieder in Verhandlungen an die Imperialisten zu verraten. Der fast 30jährige Kampf ist gewiss ein heroisches Beispiel für den Kampfwillen und die Tapferkeit des vietnamesischen Volkes, er ist auf der anderen Seite ein fataler Beweis für die beständige Ängstlichkeit und Feigheit seiner Bourgeoisie. Nur unter den blutigen Schlägen fand sie überhaupt jemals eine Spur von Format.

Der 1. vietnamesische Krieg begann mit einem Rückzug aus den Städten, die man schon nach den ersten schwereren Kämpfen den Franzosen überliess. Die einzigen, die bleiben mussten, waren die Arbeiter, die jetzt allein auf sich gestellt gegen den Feind keine Chance hatten. In Hanoi widerstand trotzdem ein Regiment von Arbeitern zwei volle Monate lang, bevor es aufgab. So löschten die Franzosen die proletarische Bewegung, die im Sommer 1946 wieder aufgeflammt war, erneut aus.

Die »Regierung« der DRV [Demokratische Republik Vietnam] hatte sich in die Berge, aufs Land zurückgezogen. Von jetzt an und angesichts des Krieges erlangte die Agrarfrage eine entscheidende Bedeutung, denn es war nicht möglich, diesen Krieg ohne die Unterstützung der Bauern zu gewinnen. Erst jetzt also, wo man Kanonenfutter brauchte, proklamierten die Stalinisten die Notwendigkeit einer Agrarreform, während sie vorher im Namen der nationalen Einheit immer den Grundbesitzer verteidigt hatten. Aber auch jetzt wartete man noch bis 1950, um die Pachtraten zu senken. Das unbebaute Land wurde »kostenlos« verteilt und nach zwei Jahren dem Empfänger als Eigentum übergeben. Gleichzeitig versuchten sie, die Kooperation zu fördern. Stets stand von nun an die Agrarreform unter dem ständigen Zwang, die Bauern für den Krieg zu mobilisieren und eine Produktionssteigerung zu erreichen.

Bis 1949 wurden die Kampfhandlungen von ständigen Verhandlungsangeboten der Vietnamesen an die Franzosen begleitet. Im Januar 1950 appellierte Ho noch einmal verzweifelt an seine Kollegen, ihn doch an ihrem Katzentisch zu dulden. Das Echo kam jedoch aus einer ganz anderen Richtung, denn inzwischen hatte sich die internationale Lage grundlegend gewandelt. Die Maoisten waren 1949 in Peking einmarschiert und nahmen am 18.1. diplomatische Beziehungen mit der DRV auf. Am 31.1. zogen die Russen gleich. Am 1. Mai proklamierten die Vietnamesen ihre Zugehörigkeit zur »von der machtvollen Sowjetunion angeführten demokratischen Front« und am 16.8. erklärte Ho, dass seine Regierung Mitglied des »antiimperialistischen Blocks von 800 Mio. Menschen« sei. Und am 11. Februar 1951 hatte Vietnam wieder eine »Partei der Arbeitenden Vietnams« (Viet Nam Lao Dong).

Es war die Zeit der schlimmsten »antikommunistischen« Hysterie im Westen, die Zeit des Koreakrieges und der Pogrome der McCarthy-Ära in den USA. Diese Experten der globalen imperialistischen Strategie hatten natürlich jetzt, was sie brauchten. Für sie war der Fall klar, Imperialisten wie »Linke« waren und sind sich spätestens seit diesem Datum einig, dass Vietnam zum »kommunistischen« Block gehört. Die trotzkistische Kunstformel vom »deformierten Arbeiterstaat« versucht diese entlarvende Partnerschaft nur mühsam zu übertünchen. Dabei hatte Vietnam gar keine andere Wahl, nachdem die ständigen Verhandlungsangebote an die Franzosen und auch an die USA stets ungehört blieben und statt dessen die imperialistische Eskalation forciert wurde. Unter diesen Bedingungen mussten die vietnamesischen Patrioten zwangsläufig Schutz im anderen sich allmählich profilierenden imperialistischen Lager suchen. Nicht zufällig hatte man damit aber möglichst lange gewartet, denn man war sich klar darüber, dass jetzt der westliche Imperialismus sich nur um so wütender auf einen stürzen und die »Hilfe« des Ostens neue Bindungen und Abhängigkeiten begründen würde. In der heutigen Welt der internationalen Hierarchie verschieden starker Länder gerät der nationale Anspruch eines jeden Landes auf »Souveränität« sehr bald in den Strudel gewaltsamer Kämpfe um den Siegespokal als Weltmarktchampion.

Die Vietnamfrage wurde also jetzt internationalisiert und für die USA war es keine Frage mehr, wie sie sich verhalten sollten. Versuchten sie bis dahin zumindest den Anschein der Neutralität zu erwecken, so griffen sie jetzt den Franzosen voll unter die Arme und sollten in den folgenden Jahren sukzessive der eigentliche imperialistische Gegner werden.

Der Ausgang dieser ersten Runde ist bekannt: Die Franzosen hatten kein Format mehr, sie hatten sich in der Geschichte vertan und waren jetzt selber von den USA abhängig - bald sollten sie sich auf die für sie entscheidenden Besitztümer in Afrika zurückziehen und konzentrieren. Nicht einmal die wachsenden Lieferungen der USA konnten den jetzt von Russland und China unterstützten heroischen Widerstand des vietnamesischen Volkes gegen das imperialistische Diktat niederhalten. Die Franzosen wurden bei Dien Bien Phu im Frühjahr 1954 vernichtend geschlagen. Zwei Drittel des Landes hatten das kämpfende Volk mit seinem Blut von diesen grössenwahnsinnigen Herrenmenschen befreit. Und es wäre jetzt wirklich ein Leichtes gewesen, mit diesem Spuk endgültig aufzuräumen, denn die Niederlage der Franzosen war total gewesen. Aber Ho und seine Mannschaft bewiesen jetzt erst recht, dass sie zwar verstanden zu siegen, dass sie aber als einzige Leidenschaft das Verhandeln kannten, und dafür gerne einen Grossteil der im Kampf eroberten Positionen wieder räumten. Es war die Stunde des Genfer »Friedens«.

Jetzt zeigten die kriegsmüden und geschlagenen Franzosen wieder Verhandlungsbereitschaft - und die siegreiche vietnamesische Regierung hatte nichts eiligeres zu tun, als darauf einzugehen. Unter Berufung auf den »Geist vom 6. März 1946«, diesem ersten betrügerischen Manöver der Franzosen, versammelten sich die Kämpfenden und ihre Assistenten im Juli 1954 in Genf. Sicher auch unter dem entscheidenden und verheerenden Druck der anwesenden »Freunde« Russland und China, aber letztlich doch in Fortsetzung ihrer alten Politik verschenkten diese vietnamesischen Spezialausgaben von Patrioten den von den kämpfenden Bauern und Arbeitern unter schweren Verlusten errungenen Sieg. Statt den Sieg mit der endgültigen Eroberung zu besiegeln, stimmte die vietnamesische Delegation der »vorläufigen« Teilung des Landes am 17. Breitengrad zu. Die Wiedervereinigung wollte man wieder ohne Gewalt erreichen. Man muss sich diese Ungeheuerlichkeit vorstellen: Der Vietminh kontrollierte vor 1954 etwa 2/3 des Landes und sein Einfluss war durch den Kampf im ganzen Land ständig gestiegen. Er war siegreich, aber trotzdem bereit, sich auf ein kleineres Gebiet zurückzuziehen, das zudem ärmer war als die zu räumenden Gebiete. Dabei vertraute man den neuerlichen Schalmeientönen der Imperialisten, die von allgemeinen Wahlen in zwei Jahren sprachen. Als wenn man noch nicht genug Erfahrung mit diesen Demokratien gemacht hätte. Und die USA unterschrieben nicht einmal den Vertrag, sondern drohten ganz offen mit ihren künftigen »antikommunistischen« Absichten. So absurd die Politik der vietnamesischen Patrioten erscheinen mag - sie war unter den gegebenen Bedingungen durchaus logisch. Sie entsprach voll und ganz ihrer Klassennatur, die ihnen selbst ihre Illusionen und ihre Fehleinschätzungen diktiert. Sie wollten es mit den Imperialisten nicht verderben, sondern mit ihnen im »Konzert der Nationen« spielen, d.h. sie rechneten mit ihrer Hilfe für den Aufbau des Landes und sie versuchten, durch einen globalen Kompromiss zu vermeiden, wieder in die totale Abhängigkeit von einer Grossmacht zu geraten. Deshalb wurde der antiimperialistische Kampf jetzt wie auch später gegen die USA durch Annäherungsversuche begleitet, die vor allem nach dem Sieg besonders stark unternommen wurden. Der Balanceakt - eine durchaus konsequente nationalistische Politik - ist ebensowenig zu vermeiden, wie der schliessliche Sturz auf den Boden der Wirklichkeit, sprich in die Arme einer »Schutzmacht«. Hier liegt das Verhängnis der im Zeitalter des Imperialismus aufstrebenden Nationen.

Doch kehren wir zum Genfer Abkommen des Jahres 1954 zurück. Dieses Abkommen enthielt bereits die Voraussetzung für einen neuen Krieg. Es setzte dem Konflikt genau in dem Augenblick ein Ende, in dem die Vietnamesen ihre schlagende Überlegenheit bewiesen hatten. Es verfügte, dass die französischen Truppen im Norden sich konzentrieren sollten, um sich dann südlich des 17. Breitengrades zurückzuziehen. Für die Vietnamesen im Süden galt das Umgekehrte. Zusätzlich hatte man sich besonders auf Druck Chou Enlai's vollständig aus Laos und Kambodscha abzusetzen. Das Ganze erlaubte den Franzosen, ihre Divisionen, die im Delta des Roten Flusses eingeschlossen waren, zu retten. Darüber hinaus sicherte das Abkommen, dass die ca. 100 000 vietnamesischen Soldaten aus dem Süden abgezogen wurden, wobei man die dortigen Bauern, die kaum begonnen hatten, das Land aufzuteilen, ohne Verteidigung der grausamsten Repression überliess.

Der nordvietnamesische »Sozialismus«
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Jede bürgerliche Revolution hat zwei zentrale Aufgaben: erstens die nationale und zweitens die soziale. In einem einheitlichen Wirtschaftsraum müssen so durch Überwindung alter Produktionsverhältnisse die Grundlagen für die kapitalistische Entwicklung der Produktivkräfte gelegt werden. Die nationale Aufgabe hatte man zur Hälfte verraten: Nach dem »Frieden« verfügte die vietnamesische Bourgeoisie über rund 55% der Bevölkerung und 49% der Fläche Gesamtvietnams. Aber traditionell war der Norden von Reislieferungen aus dem fruchtbaren Mekong abhängig gewesen. Durch den »freiwilligen« Verzicht auf den Süden hatte man sich so selbst von diesen Reisbezügen abgeschnitten, Dazu war natürlich die Landwirtschaft und Industrie des Nordens durch den Krieg weitgehend zerrüttet. Die politische Niederlage am Konferenztisch hatte deshalb für die Bevölkerung harte Konsequenzen: Nur durch scharfe Rationierungsmassnahmen konnte man kurzfristig überleben; langfristig bestand die Notwendigkeit, durch eine Agrarreform die Produktivität entscheidend zu stärken, um so die Mittel für die Industrialisierung zu erhalten. Die parasitären Grossgrundbesitzer mussten jetzt endgültig ausgeschaltet werden - sofern sie sich nicht schon in den Süden abgesetzt hatten. In einer durchweg spontanen Bewegung besetzten die Bauern zahlreiche Ländereien. Trotz offizieller Gesetze drohte so die Regierung die Kontrolle über diese Massnahmen zu verlieren. In dieser ersten Agrarreform Nordvietnams der Jahre 1953/57 wurde etwa 45% der Anbaufläche neu verteilt und 2,1 Mio. landarme oder landlose Bauern mit Boden versorgt. Allerdings mit viel zu kleinen Betriebsgrössen. Deshalb folgte bald ein zweiter Umbruch: die »Kollektivierung« in »Produktionsgenossenschaften«. Bis 1963 waren 97% der Höfe in diesen aufgegangen, meist Genossenschaften des »höheren« Typs, in denen nach völliger Übernahme des Landbesitzes und der Arbeitsmittel das Entgelt für den einzelnen ausschliesslich nach der Arbeitsleistung berechnet wurde. 1966 bestanden rund 28 000 Kollektivwirtschaften, daneben einige grössere Staatsgüter, besonders für Exportkulturen. Das Tonkingdelta wurde voll erfasst, der kleine Rest des nicht kollektivierten Landes liegt in den abgelegenen Gebieten der Bergstämme.

Nicht zufällig dauerte die neuerliche Enteignung der Bauern und ihre tendenzielle zwangsweise Umstellung auf Lohnarbeit relativ lange, denn diese bürgerliche Agrarpolitik wurde durch zahlreiche Proteste und Widerstandsaktionen begleitet, von denen der Bauernaufstand vom November 1956 in Nordannam vor allem deshalb sich hervorhebt, weil er von westlichen Zeugen berichtet wurde. Nur eine starke Armeeaktion konnte damals die »Ruhe und Ordnung« wiederherstellen, bei denen rund 6000 Bauern erschossen oder deportiert wurden. Nur der »Vaterfigur« Ho's gelang es immer wieder, die aufgewühlten Gemüter zu beruhigen. Allerdings vermochte auch er keine Wunder zu bewirken. Deshalb ist es kaum erstaunlich, dass Anfang der 60er Jahre Ho's Autorität stark abgewirtschaftet hatte. Erst der Ausbruch des 2. Krieges durch die Amerikaner sollte sein Ansehen im Volke wieder aufmöbeln.

Die soziale Aufgabe einer Bourgeoisie bedeutet nichts anderes, als den Schutt der alten, vorkapitalistischen Verhältnisse nicht zuletzt in der Landwirtschaft wegzuräumen, um der Entwicklung der Produktivkräfte zum entscheidenden Durchbruch zu verhelfen. Die parasitären Grundbesitzer müssen ausgeschaltet, die Kleinbauern und Pächter aus ihrer Subsistenzwirtschaft gerissen werden, um durch eine agrarkapitalistische Wirtschaftsweise die Agrarüberschüsse zu steigern. Dabei ist es ein grundlegender Irrtum, wenn man glaubt, das kleinbäuerliche Programm der Landnahme sei mit dem bürgerlich-kapitalistischen identisch. Für jeden Bourgeois ist dagegen klar, dass vor allem grossflächig betriebene Agrarwirtschaft mit weitgehender Enteignung der Kleinbauern Voraussetzung für eine kapitalistische Entwicklung ist. Dies gilt um so dringlicher in solchen Ländern, die wie Vietnam auf knapper Nutzfläche eine grosse Bevölkerung versorgen müssen, wovon viele in den Städten und in der Industrie leben und arbeiten, also von der Landwirtschaft miternährt werden müssen. Dass diese Reorganisation der kleinbürgerlichen Landwirtschaft nie ohne Zwang abgehen kann, ist klar.

In der Industrie waren die Aufgaben nicht weniger immens. Durch den Krieg hatte die schwache Industrie Nordvietnams rund 85% ihrer Produktionskapazität verloren. Die französischen Konzerne hatten sich meistens freiwillig in den Süden abgesetzt, obwohl die Nordvietnamesen sie gerne behalten hätten. Die Industrie musste also völlig reorganisiert werden. Und es gehört wieder zu den beliebten Bilderbuchvorstellungen, diese Aufgabe könnte nur von einzelnen Unternehmern durchgeführt werden. Seien sie nicht vorhanden und übernehme deshalb der Staat diese Aufgabe, so handele es sich nicht mehr um Kapitalismus. Der Kapitalismus ist verallgemeinerte Warenproduktion, und zwar kapitalistische, d.h. auf Lohnarbeit beruhende, um zu akkumulieren und eine ständige Produktivkraftentwicklung zu forcieren. Der Kapitalismus ist Ausbeutung von Mehrarbeit, und ob das von einem Privatunternehmer oder von einem Staatsbetrieb erledigt wird, spielt für das gesellschaftliche Verhältnis von Lohnarbeit und Kapital überhaupt keine Rolle. Es ist einfach lächerlich zu glauben, ein unterentwickeltes und ständig attackiertes Kapital wie das vietnamesische könnte den Industrialisierungsprozess von der Lust und Laune irgendwelcher Einzelfiguren abhängig machen. Nur wenn man völlig antiquierten Vorstellungen von Kapitalismus anhängt, kann man auf solche Ideen kommen. Im entwickelten Kapitalismus des Westens löst sich mit wachsender Konzentration und Zentralisation das persönliche Kapital immer mehr auf und wird zum unpersönlichen der grossen »Publikumsgesellschaften«; die frühkapitalistischen Gesellschaften stehen unter dem Druck dieses hochentwickelten Kapitals, müssen unter diesem Druck die vorkapitalistischen Fesseln überwinden und den Weg der Akkumulation beschreiten. Und doch gerade in diesen Gesellschaften sollte in der Sicht solcher Ideologen die vergangen »Idylle« wieder lebendig werden!

Kooperation in der Landwirtschaft und Staatskontrolle in Industrie und Aussenhandel sind demnach für die Führer Nordvietnams, für die westliche Bourgeoisie wie für alle Anhänger des russischen oder des chinesischen Blocks »der Sozialismus«. Da dieser »Sozialismus« im Wesen nichts anderes ist als bürgerliche Akkumulationsdiktatur, ist es nicht erstaunlich, dass alle kapitalistischen Kategorien des Lohns, des Profits, des Marktes usw. in ihm ihr Unwesen treiben und proportional zur Entwicklung der Produktivkräfte immer virulenter werden. Erstaunlich auch nicht, dass alle diese Staaten und ihre Politiker sich nicht anders als bürgerliche Nationalstaaten und Repräsentanten schwacher Kapitale verhalten müssen, die nichts anderes wollen, als ihre Produktivkräfte vor einem Angriff der Stärkeren zu schützen, um ihren Aufbau des Kapitalismus zu absolvieren.

Der 2. vietnamesische Krieg
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Es kam, wie es kommen musste. Seit Februar 1955 trat Frankreich - natürlich entgegen den Bestimmungen des Genfer Vertrages - seine Stelle an die USA ab. Das stärkste imperialistische Land übernahm nun die Verteidigung der »freien« Welt, und die Vietnamesen sollten bald spüren, was das bedeutete. Im Windschatten der USA installierte sich im Süden die alten Fraktion der Grundbesitzer und Kompradoren, die immer nur als Parasiten des Imperialismus ihr Dasein verlängern konnte. Natürlich waren diese Aussauger des Volkes gegen eine Veränderung des Status quo, also die idealen Bündnispartner für die USA. Das konterrevolutionäre entwickelte Kapital verbindet sich noch stets mit allen vorkapitalistischen Reaktionären, um eine eigenständige bürgerlich-kapitalistische Entwicklung so weit wie möglich zu verhindern.

Die Wahlen fanden natürlich nicht statt. Ist eine bürgerliche Revolution qua Wahlabstimmung sowieso schon ein übler Scherz, der ja langsam immer mehr in Mode kommt, so verleugnen diese Superdemokraten sehr schnell ihre seichten Parolen, wenn sie nicht für die eigenen Zwecke nutzbar gemacht werden können. Im Westen ist die Demokratie ein Mittel der Bourgeoisie, um ihre Dressur in Kadavergehorsam und Fabrikarbeit sich immer wieder bestätigen zu lassen. In Südvietnam war aber die Volksseele am Kochen und keineswegs von den Segnungen der imperialistischen Moralapostel angetan. Denn im vorwiegend agrarischen Süden sassen jetzt die Grundbesitzer wieder fest im Sattel und ritten den Bauern das Blut aus den Rippen. Die Agrarreformen waren hier nichts als Farce.

Und seit das Betrugsmanöver der Imperialisten mit den verhinderten Wahlen allen klar war, machte sich der Unmut wieder in einem spontanen, ständig wachsenden Widerstand Luft. Seit 1957 nahmen diese Aktionen ernsthafte Formen an und sie werden ab 1960 von der im Süden gebildeten »Front National de Libération« (FNL) - einer Vereinigung von mehr als zwanzig nationalistischen Gruppen - getragen. Nur zögernd sagt Nordvietnam am 14. Mai 1959 seine Unterstützung für diese Befreiungskämpfe zu und erst im September 1960 verkündet der Norden öffentlich, dass er die Kämpfenden nicht allein lassen werde.

Dies ist dann der Anfang einer Spirale ohne Ende, in der die USA immer stärkere Bataillone auffahren. Ab 1962 sind die USA mit eigenen Truppen dabei, die zigtausend »Berater« genügen nicht mehr. In den bekannten »Zwischenfällen« vom 2. und 4. August im Golf von Tonking - ganz in der Tradition des faschistischen Überfalls auf den Sender Gleiwitz am Beginn des 2. Weltkriegs - verschafften sich die Strategen im Pentagon ihre Legitimation vor der Weltöffentlichkeit. Seitdem konnten die Menschen im Westen einem blutigen Militärspektakel ohne Beispiel allabendlich beiwohnen. Und dass die Lohnabhängigen des Westens mit Gleichgültigkeit oder, aufgehetzt von der imperialistischen Propagandamaschine, gar Begeisterung diesem Massenmorden des Imperialismus zusahen und keinen Finger rührten, ist Beweis genug für die dramatische Niederlage, die die internationale Arbeiterbewegung zwischen den zwei Weltkriegen erlitten hat und unter deren Auswirkungen sie immer noch leidet.

Das Kriegsziel war klar: Die Intervention in Vietnam sollte ein historisches Beispiel darstellen und eine Lehre sein für alle unterentwickelten Länder, die das regionale, von den Imperialisten des Westens gewährleistete »Gleichgewicht« in Frage stellen wollten. So sollten denn immer mehr vietnamesische Bauern für die Ruhe der brasilianischen Bürger sterben, für das Königshaus in Rabat, die feudalen »Illustrados« in Manila usw.

Die USA scheuten - wie bekannt - für diese Zementierung des weltweiten Status quo keine Mittel. Ab 7. Februar 1965 wurde auch der Norden bombardiert und seitdem musste Hanoi unter Bomben leben. Im Süden wird die Bevölkerung in die Städte oder in »strategische« Konzentrationslager getrieben. Das Land wird mit allen Waffen »umgepflügt« und durch Chemikalien aller Art verseucht. Die Bauern verlieren ihr Land, die Städter ihre Arbeit. Das produktive Leben erstirbt immer mehr. Bald wurde diese Reiskammer Vietnams wegen der Einmischung der USA in die Wirtschaft des Landes zu einem Gebiet, das Reis importieren musste, um der Hungersnot zu entkommen. Nur die amerikanischen Warenlieferungen halten dieses Volk am Leben und züchten eine Unzahl Schmarotzerexistenzen. Dies und die unzähligen Nutten sind nur die wichtigsten Stichworte der dort erzeugten US-imperialistischen Zivilisationswüste. Alles in allem war in Südvietnam eine vorteilhafte Basis für die USA gegeben, um mit überlegener Wirtschaftsmacht das Regime nach Belieben politisch zu formen, zumal man es verstand, in einer korrupten und terroristischen Oberschicht für Geld Gehilfen zu finden. Die ganze Politik der USA seit 1954 war darauf abgestellt, die Teilung Vietnams unter systematischer Sabotage der Genfer Vereinbarungen zu zementieren. Dies können selbst die Imperialisten seit der Veröffentlichung der sogenannten »Pentagon-Papiere« nicht mehr bestreiten.

Nicht nur die Schrecken des Krieges, die auch vielen anderen Völkern bekannt wurden, sind über Vietnam hereingebrochen, sondern ein Inferno, wie es die Weltgeschichte bisher nicht kannte, suchte ein kleines Land heim, das nichts weiter wollte, als seine nationale und soziale Transformation zur kapitalistischen Produktionsweise durchzuführen. Was dem vietnamesischen Volk bevorstehen sollte, drückte General Westmoreland, der Oberkommandierende der US-Streitkräfte, in zynischer Offenheit so aus:
»
In der weiteren Strategie gegenüber den Nordvietnamesen werden wir so lange einen »maximalen Druck« auf jede nur mögliche Weise ausüben, bis Hanoi erkennt, dass sein Land bis an den Rand der nationalen Katastrophe ausgeblutet ist, und seine Haltung zu überprüfen gezwungen sein wird
Der damalige Generalstabschef der US-Luftwaffe, Le May, hatte schon 1965 erklärt, man werde
»
ganz Nordvietnam durch Luftbombardements in eine Steinwüste zurückverwandeln«.
Das Eingreifen der USA in Vietnam war von Anfang an ein Musterbeispiel moderner Spielart von Kolonialismus zur Verwirklichung imperialistischer Ziele in der südostasiatischen Region.

Aus der Grundentscheidung der USA heraus, sich unter Ausnützung wirtschaftlicher und militärischer Macht in Vietnam stark zu machen und den Südteil des Landes der »freien Welt«, also der eigenen Weltpolitik anzuschliessen, ergaben sich dann alle weiteren Folgen mit zwingender Notwendigkeit. Selbst wenn die Absicht allein das militärische und strategische Ziel des berüchtigten »Containment of Communism« gewesen wäre, wäre damit ein neokolonialer Angriff zweifellos gegeben, denn Kolonialismus bedeutet die Beherrschung eines fremden Landes zum Zwecke seiner Ausbeutung in irgend einer beliebigen Form. Die Ausbeutung braucht nicht in der unmittelbaren Aneignung von Rohstoffen oder in einer sonstigen Bereicherung der Kolonialmacht zu bestehen.

Und mit einer Brutalität ohnegleichen setzten die US-Imperialisten ihr Programm in die Tat um. Das Entsetzen über Auschwitz ist bekanntlich grenzenlos, und es waren zynischerweise gerade die Vertreter der US-imperialistischen Kulturoffensive, die mit ihrem Politkitsch »Holocaust« alle Welt mal wieder zu Tränen rührten. An das Sujet »Vietnam« machen sich diese Spezialisten für Illusionen nur sehr zaghaft und wenn überhaupt, dann natürlich »tiefsinnig« verklausuliert heran. Dabei lief hier der Stoff für einen grandiosen »Paten«. Denn die Mafia ist in der Tat gegen den Imperialismus ein kleiner Fisch, gleichsam nur die Westentaschenausgabe der grossen Politik. Die Gangster terrorisieren die »Klienten« aus dem Mittelstand und säubern ihnen, wenn sie nicht spuren, die Bude mit Dynamit. Der imperialistische Staat redet auch von Schutz und Verteidigung der Freiheit, kann aber im Falle der Weigerung ganz anders auftrumpfen. Er führt dann mit allen Mitteln einen Vernichtungskrieg gegen die Zivilbevölkerung. Im Verhältnis dazu sind die wildesten Ballereien in Chicago nichts als lächerliches Kindertheater. Nicht zufällig mutet einem die Lektüre der Pentagon-Papiere über weite Stellen wie ein Intimbericht aus dem kriminellen Milieu an: Professionelle Folterknechte und Gewalttäter sind hier für den entwickelsten Kapitalismus am Werk; Massstab für ihre Aktionen gegen Vietnam ist die »Vergrösserung des Schmerzquotienten«. Und hier wurde die Folter in der Tat kollektiviert: Sie wollten das vietnamesische Volk durch alle Formen von Leid und Tod bis zu dem Punkt quälen, dass es bereit sei, sich dem Willen der USA bedingungslos zu beugen. Das aber ist nichts Geringeres, als das beliebte Prinzip der Folter nicht gegen einzelne, sondern gegen ein ganzes Volk anzuwenden. Es ist immer dasselbe: Der Status quo ist heilig und jeder Angriff gegen diesen für ewiggültig erklärten Zustand ist nichts als Subversion, der man mit aller Gewalt das Genick brechen muss. Wie gesagt, man glaubt sich im Gangstermilieu zu befinden und schaut doch nur in die seriösen Visagen des imperialistischen Kapitals.

Der Ausgang ist ja noch in Erinnerung. Der Coup ging erst einmal voll in die Hose. Nach der Tet-Offensive im Januar 1968 blieb den Yankees doch die Spucke weg, und sie redeten von Verhandlungen, auf die Hanoi, eilfertig wie immer, sofort einging. Schon am 10. Mai begann die erste Pokerrunde in Paris. Sie zog sich bekanntlich bis Januar 1973 hin, als sie mit dem faulen Kompromiss des »weder Krieg noch Frieden« beendet wurde. Im April 1975 fand dieses Drama mit der Eroberung Saigons und mit der kopflosen Flucht der letzten Imperialisten samt Höflingen endlich ein Ende. Mindestens 2,5 Mrd. Dollar (!) monatlichen Kriegsausgaben und mit asiatischen Landsknechten insgesamt rund 1 Mio. Soldaten hatten eine Niederlage nicht verhindern können.

Nun endlich: Aufbau des Kapitalismus
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Jetzt war das Land zwar geeint, aber durch Kriegsverwüstungen stark gezeichnet. 14 Mio. Tonnen Bomben, Artilleriegeschosse, Minen und Munition waren auf Vietnam niedergegangen. Das waren rund zehn Mal mehr als während des 2. Weltkrieges auf Deutschland. Die Industrie des Nordens war wieder weitgehend zerstört, und weite Teile der Agrarwirtschaft lagen darnieder. 4 Millionen Tote, 5 Mio. Verwundete, je 1 Mio. Witwen und Waisen können nur in dürren Zahlen die soziale Hypothek des Krieges wiedergeben.

Die Aufgaben waren auch sonst gewaltig. Das potentiell reiche Land, mit seiner Verbindung von Rohstoffen im Norden und der fruchtbaren Reiskammer im Süden plus dem vermuteten Erdöl musste so schnell wie möglich zusammengefasst werden. Fehlende Infrastruktur und schwere soziale Spannungen bedeuteten nur die Haupthindernisse. Während der Norden jetzt zumindest seinen Wiederaufbau im Frieden unter bereits gewohnten Politischen Bedingungen einleiten konnte, ergab sich für den Süden eine ganz andere Situation.

Die einst in sich geschlossene Wirtschaftsweise des Südens war zwar seit der französischen Kolonialzeit aufgebrochen worden, aber vor allem von den USA dann zu einem imperialistischen Aussenposten mit all seinen typischen Verzerrungen verkommen. Die Wirtschaft wurde von ausländischen Waren überschwemmt. Weder Zölle noch andere Schranken schützten sie. Dem Durchschnittsvietnamesen blieben im Laufe der kolonialen Entwicklung nur zwei Auswege offen: Entweder flüchtete er in die Landwirtschaft, klammerte sich an die Erde fest und teilte das kleine Stück Familienland immer noch einmal auf, oder aber er wandte sich dem Zwischenhandel und anderen unproduktiven Tertiärberufen zu, die ganz auf die Bedürfnisse der »Metropolen« ausgerichtet waren. Als Resultat dieser Unterwerfung unter die imperialistische »Arbeitsteilung« wurden einerseits die vorkapitalistischen Elemente, u.a. die Reisland besitzenden Grundbesitzer gestärkt und andererseits eine unproduktive Schicht von Zwischenhändlern und Dienstleistungsberufen in den Städten begünstigt. Die koloniale Struktur des Landes führte schliesslich dazu, dass die grossen Städte, vor allem Saigon, auf die Bevölkerung des Landes wie Magnete wirkten und sich ungesund aufblähten. Das US-Bombardement tat da noch sein übriges. Nach südvietnamesischen Statistiken ist der Anteil der städtischen Bevölkerung des Südens in der Zeit von 1960-72 von 15 auf 43% gestiegen. Allein in Saigon wuchs die Einwohnerzahl von 1,8 Mio. (1972) auf 3,8 Mio. (30.4.1975). Im analogen Verhältnis nahm das bebaute Kulturland ab. 1974 entfielen auf den Dienstleistungssektor, der durch die US-Präsenz künstlich aufgebläht wurde, mehr als 50% des Inlandssozialprodukts, auf die Landwirtschaft (einschliesslich Forstwirtschaft und Fischerei) und die Industrie demgegenüber nur 40% bzw. 10%.

Die Konsequenzen für jede Regierung, die den allgemeinen Rahmen für eine Kapitalakkumulation schaffen will, liegen auf der Hand: Nationalisierung des Aussenhandels, Bildung von Genossenschaften in Landwirtschaft und Handwerk, Gründung von Staatsunternehmen, Entflechtung der überbevölkerten Städte und Austrocknen des aufgeblähten Zwischenhandels. Auf allen Gebieten nahm man nach 1975 die Entwicklung in diese Richtung in Angriff. Fast drei Jahre versuchten es dabei die Funktionäre aus dem Norden mit der sanften Tour. Allerdings wurden auch so über eine Million Städter in zwei Jahren in sogenannte neue »Wirtschaftszonen« auf dem Land umgesiedelt, wodurch etwa 350 000 ha neu zur Bearbeitung kamen. (7) Vorallem das Handelsmonopol der Chinesen liess sich aber so nicht knacken. Zu zäh hielten die traditionellen Strukturen von Familien und Geheimgesellschaften zusammen, als dass man hier ohne radikale Eingriffe Erfolge erzielt hätte. Und die wurden immer nötigen. Die Verteilung der Waren brach völlig zusammen, es sei denn, sie lag in chinesischer Hand. Die chinesischen Händler wirtschafteten vor allem auf eigene Rechnung und waren bestrebt, so schnell wie möglich grosses Geld zu machen, denn wer wusste schon, wie lange man es treiben konnte. Jedenfalls verkauften die Bauern des Mekong lieber an die Chinesen zu günstigen Preisen, als dass sie die staatlichen Aufkäufer zu Festpreisen belieferten. Da bauten sie schon eher nur soviel an, wie sie zum Leben brauchten. Der Staat hatte also kaum die Machtmittel, um das, was er dringend brauchte, von den Bauern zu erzwingen. Die Handelskanäle waren eben nicht in seiner Hand. Nicht zuletzt deshalb blieben die Agrarerträge ständig ungenügend. Erst am 23. März 1978 riegelte man das Chinesenviertel von Saigon - Cholon - ab, um diese unkontrollierbare Instanz mit Gewalt auszuschalten.

Die Aufgaben waren durch die materiellen Zwänge klar vorgezeichnet. Der übervölkerte Norden musste landwirtschaftlich entlastet werden, um sowohl seine Bevölkerung zu ernähren als auch Rohstoffe und über den Export Devisen für die Industrialisierung zu bekommen. Dafür galt es vor allem, den Süden auf seinen potentiellen Leistungsstand zu bringen. Die Agrarproduktion musste gesteigert und ein Überschuss tendenziell vergrössert werden. Das bedeutete Ausdünnung der Städte und Neubesiedlung auf dem Lande, Forcierung der agrarischen Arbeitsteilung bis hin zur Bildung agro-industrieller Komplexe, in denen Hochleistungspflanzen unter den Zusatzmassnahmen von Düngung, Bewässerung und Pflanzenschutz und Maschineneinsatz ständig hohe Hektarerträge sichern sollen. So lautet auch bei den Vietnamesen das agrarkapitalistische Modell einer Grünen Revolution. Hier sollen dann die Überschüsse aus dem Süden, eine wachsende Industrie im Norden ergänzen - und das Ganze soll möglichst von dem bislang nur vermuteten Erdöl vor den Küsten finanziert werden. So sieht in groben Zügen der Wunschtraum der vietnamesischen Bourgeoisie aus. Wer darin allerdings einen irgendwie gearteten Sozialismus zu entdecken glaubt, dem ist in der Tat nicht mehr zu helfen. Er lügt sich nur ständig selbst in die eigene Tasche.

Diese Wunschliste wurde nach der offiziellen Vereinigung Vietnams am 2. Juli 1976 auf dem 4. Parteikongress im Dezember präsentiert. Bis zur Jahrhundertwende will auch Vietnam im Club der Kapitalisten Sitz und Stimme haben. Vorerst geht es aber nicht um Träumereien, sondern um Handfestes, denn zu gewaltig türmen sich die Probleme. Den Rahmen gibt ein Vierjahresplan für 1976-80, den man allerdings wohlweislich alljährlich zu korrigieren bereit ist. Und die Wunschliste ist nicht bescheiden: Die Produktionsziele für 1980 waren z.B. ursprünglich folgende: 21 Mio. t Getreide (vornehmlich Reis und Mais), 1 Mio. t Seefische, 1 Mio. ha Neulandgewinnung, 1,2 Mio. ha Aufforstung, 16,5 Mio. Schweine, 10 Mio. t Kohle, 5 Mrd. kWh Strom, 2 Mio. t Zement, 1,3 Mio. t Dünger, 250 000-300 000 t Stahl.

Die Basis soll dabei die Landwirtschaft sein, auf deren Erträge Leicht- und Schwerindustrie aufgebaut werden sollen. Und bei der Legung dieses Fundaments erlebte man bis jetzt nur böse Überraschungen. 1977 wurde Vietnam von Trockenheiten heimgesucht, die sich vor allem auf die Reisproduktion im Norden des Landes schädlich auswirkten. Im Frühling 1978 zerstörte das kalte Wetter im mittleren und nördlichen Teil einen beträchtlichen Teil der Reispflanzen. Im Mekongdelta kamen noch Pflanzenschädlinge dazu, deren Zerstörungswut mangels Versorgung mit Bekämpfungsmitteln nicht eingedämmt werden konnte. Den grössten Schaden aber richteten die Überflutungen im August und September an, die gut 2 Mio. t der Reisernte vernichteten. Entsprechend niedrig lag die Produktion: 1977 mit 11,3 t Reis um 2 Mio. t geringer als geplant, weswegen man gezwungen war, 1,6 Mio. t Reis zu importieren. Nicht weniger katastrophal sahen die Zahlen für 1978 aus, was sich deutlich aus den Reisrationen pro Kopf und Monat ablesen lässt: April 1978 - 13 kg, im Juli 17 kg und nach der Flutkatastrophe: im September 9 kg und im März 1979 gerade noch 1 kg. Wo die Reisschüsseln leer sind, erübrigt sich jedes Geschwätz.

Enttäuschend waren für die vietnamesische Bourgeoisie aber nicht nur die Ergebnisse im Inneren, die trotz massiven Drucks auf die Bauern und Arbeiter bislang kaum Positives ergaben, sondern schwer enttäuscht wurden die Vertreter des Kapitals von ihren etablierten Kollegen im Westen. Sie rechneten jetzt mit der bislang verweigerten Grosszügigkeit. Sie glaubten wohl allen Ernstes, das imperialistische Kapital würde nach diesem unfairen Kampf das Geschehene auf sich beruhen lassen. Wohlgemerkt, nicht der zwar siegreiche, aber stark blessierte »David« wollte jetzt Regress; das konnte er sich bei seiner Zerstörung gar nicht leisten. Nein, die Imperialisten, die einen Neuankömmling so übel zugerichtet hatten, stellten sich weiter stur. Die vietnamesische Bourgeoisie hat offensichtlich die Spielregeln des heutigen Kampfes aller gegen alle auf dem Weltmarkt noch nicht begriffen. Vielleicht hat sie auch die alten Sprüche von »Würde«, »Sittlichkeit«, »Anstand« usw. zu stark verinnerlicht. Aber sie bekam sehr bald die nächste Lektion gesteckt. Für die Ideologen des Imperialismus war die Sache jedenfalls ganz einfach:
»
Die Propaganda Hanois suggeriert dem Westen weiterhin einen Schuldkomplex, eine Verpflichtung, begangene Zerstörungssünden wiedergutzumachen. Demgegenüber ist nicht aus dem Auge zu verlieren, dass Nordvietnam einen Angriffskrieg geführt und Südvietnam nach dem Abzug der Amerikaner mit Waffengewalt besetzt hat«. (8)

Dabei hat Vietnam weniger gebettelt, als Investitionsmöglichkeiten angeboten. Sicher, von den Amis wollten sie 3,25 Mrd. $ »Entschädigung«. Bis heute haben sie bekanntlich keinen Pfennig gesehen. Die Vietnamesen liessen aber sonst nichts unversucht, um mit dem Westen ins Geschäft zu kommen. Vietnam dachte dabei sicher nicht nur an den Import von Technik, sondern vor allem an Unabhängigkeit gegenüber den »kommunistischen Brüdern«. Man wollte nicht in den Konflikt zwischen Russland und China hineingezogen werden und möglichst »neutral« bleiben. Aber auch hier kam bekanntlich alles anders. Jetzt lobt man den russischen Imperialisten über den Klee und wird der Punchingball für China.

Dabei hatte man sich alles so schön ausgedacht. Im April 1977 verabschiedete man ein Gesetz über »ausländische Investitionen in der Sozialistischen Republik Vietnam«, in dem sowohl die Sicherheit des Engagements wie freier Kapital- und Profittransfer garantiert wurde. Mit Joint-ventures, in denen der ausländische Kapitalist bis zu 49% halten könnte, aber auch »freien Produktionszonen« mit Lohnveredelung für den Export und 100%igem Auslandskapital wollte man die Imperialisten aus dem Westen locken. Über die zweite imperialistische Garnitur, besonders Japan und Frankreich, wollte man erreichen, dass Uncle Sam - mit der Zeit wieder gnädig gestimmt - auch den verlorenen Sohn an die Brust drücken würde. Der alte Traum einer friedlichen Partnerschaft, den Ho schon mit Frankreich umsetzen wollte, sollte so doch noch verwirklicht werden. Am 25.4.1977 landete Pham Van Dong in Paris, um mit der ehemaligen Kolonialmacht Bruderschaft zu schliessen. Frankreich hat in den letzten Jahren dann auch rund 1/3 der Wirtschaftshilfe aus dem Westen gestellt. Es war sicher keineswegs Altruismus und späte Reue; sondern für das französische Kapital galt es wohl eher, seine 125 Betriebe in Südvietnam zu sichern.

Gegenüber Japan war Vietnam - wenn auch erst nach drei Jahren - sogar bereit, die Altschulden des Südens in Höhe von 75,7 Mio. $ plus Zinsen anzuerkennen, nur um an die japanische »Wirtschaftshilfe« heranzukommen. Vietnam wurde Mitglied im Internationalen Währungsfonds (IWF) und bei der Asiatischen Entwicklungsbank zu einer Zeit, als es im RGW lediglich Beobachterstatus hatte. Mit aller Gewalt wollte man mit dem Westen wieder ins Geschäft kommen.

Im Kräftefeld der imperialistischen Auseinandersetzungen suchte man einen Punkt, an dem sich die Saugkräfte Chinas, Russlands und der USA im Endergebnis gegenseitig neutralisieren würden. Dort wollte man sich ansiedeln. Doch war dieser Punkt nicht zu finden, schon gar nicht in Südostasien. Dieses Verhängnis der im Zeitalter des Imperialismus aufstrebenden jungen Nationen wirkt in einem komplizierten Wechselverhältnis auf die imperialistischen Mächte zurück. Die USA hatten jahrzehntelang mit allen Mitteln um Indochina gekämpft, um schliesslich, nachdem sie vertrieben wurden, von Vietnam selbst lange und ernsthaft hofiert zu werden. China hatte Vietnam gegen die Amerikaner unterstützt. Der Sieg des Schützlings an der Südflanke musste aber zum Ausbruch von machtpolitischen Gegensätzen zwischen beiden führen und zugleich die Rivalität zwischen Russland und China um eine Vormachtstellung in Vietnam verschärfen. Wegen ihrer Entscheidung zugunsten eines faktischen Bündnisses mit China mussten die USA Vietnams Annäherungsversuche zurückweisen und damit Vietnam gegen dessen Wunsch in die Arme der UdSSR treiben. Diese Verschiebung des Gleichgewichts führte schliesslich zur restlosen Festigung des chinesischen Bündnisses mit den USA gegen Russland. Die Geschichte vollzog sich hinter dem Rücken aller Akteure.

Seit Juli 1978 ist Vietnam also zwangsläufig Vollmitglied des RGW. Für alle Imperialisten und Linken ist das nur wieder der endgültige Beweis für den echten oder deformierten Charakter dieses Landes. Ihre Möchtegerndeuter führt die Geschichte hinters Licht.

Notes:
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  1. vgl. R.L.Sansom, »The economics of Insurgency in the Mekong Delta of Vietnam«, Camb./London, 1970. [back]
  2. vgl.Nguyen Kien Giang, »Les grands dates du parti de la classe ouvrière du Vietnam«, Hanoi, 1960, S. 41. [back]
  3. Ho Chi Minh, »Selected Works«, Vol.4, Hanoi 1962, S.43 [back]
  4. nach R.F. Turner, »Vietnamese Communism. Its Origins and Development«, Stanford 1975, S.43 [back]
  5. J. Lacouture, »HoTschi Minh«, Frankfurt 1968, S.141 [back]
  6. J. Lacouture, »HoTschi Minh«, Frankfurt 1968, S.163 [back]
  7. »Neue Zürcher Zeitung«, vom 30.7.78 [back]
  8. »Neue Zürcher Zeitung«, vom 3.3.79 [back]

Source: »Kommunistisches Programm«, 1980, Nr.25/26, S.38-52

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