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TROTZKISTISCHE PERLEN IM ROSENKRANZ DER BÜRGERLICHEN MORAL UND DES PARLAMENTARISCHEN KRETINISMUS


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Trotzkistische Perlen im Rosenkranz der bürgerlichen Moral und des parlamentarischen Kretinismus
Noch einmal zur TLD und den Terroranschlägen
Die »IV. Internationale« und der ostdeutsche Arbeiteraufstand 1953
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Trotzkistische Perlen im Rosenkranz der bürgerlichen Moral und des parlamentarischen Kretinismus

Noch einmal zur TLD und den Terroranschlägen

Zu der Entführung Schleyers und der Lufthansa-Maschine im Herbst 1977 und zur Reaktion aller politischen Kräfte und Strömungen auf jene Ereignisse nahmen wir in unseren Flugblättern, öffentlichen Veranstaltungen und Presseartikeln in den verschiedenen Ländern, in denen wir tätig sind, ausführlich Stellung. Auf unseren Artikel »Terrorismus, Demokratie und Kommunismus« (»Kommunistisches Programm« Nr. 17, Februar 1978) reagiert die »Trotzkistische Liga Deutschlands« mit einer Kritik in Form eines Leserbriefes, bzw. einer Antwort ihrer Redaktion, erschienen in der »Kommunistischen Korrespondenz« Nr. 22, Juli 1978. Die Position der TLD haben wir im erwähnten Artikel bereits zitiert und kritisiert. Wir möchten hier nur kurz auf diese »Antikritik« eingehen, um einige u. E. wichtige Punkte erneut hervorzuheben.

Im erwähnten TLD-Leserbrief steht u. a. folgendes:
»Die Februar-Ausgabe des ›Kommunistischen Programms‹ (…) verteidigt ›bedingungslos‹ die palästinensischen Nationalisten und charakterisiert unsere Weigerung, die kriminelle Flugzeugentführung zu verteidigen, als eine ›perfide‹ Kapitulation vor der Bourgeoisie«.

Dieser Satz ist kennzeichnend, denn er bringt – bewusst oder unbewusst – alles durcheinander. Fangen wir an bei der Formulierung »palästinensische Nationalisten«. Schon sie ist raffiniert gewählt. Die TLD erspart sich damit den Vorwurf, den sie eigentlich erheben möchte: Die IKP unterstütze bedingungslos die PLO, PFLP usw., ein Vorwurf, der die TLD arg ins Schleudern bringen würde, da gerade die IKP die konterrevolutionäre Politik der PLO, PFLP usw. nicht zuletzt im libanesischen Bürgerkrieg, entlarvt hat und eine Politik verfolgt, die strikt auf der Grundlage der »Leitsätze zur Nationalitäten- und Kolonialfrage« des 2. Kongresses der Kommunistischen Internationale steht. Somit war in allen Stellungnahmen der IKP immer die Rede von der Solidarität mit dem Kampf der ins Fadenkreuz des Imperialismus geratenen, in Flüchtlingslager vertriebenen palästinensischen Massen, ferner von der objektiven antiimperialistischen Sprengkraft und Richtung dieser Bewegung gegen die imperialistischen Staatsschöpfungen des Nahen Ostens und als Ferment der proletarischen, plebejischen und bäuerlichen Massenbewegungen der arabischen Welt. Die Zerschlagung der Kommunistischen Internationale und der proletarischen Bewegung durch die stalinistische Konterrevolution zwischen den zwei Weltkriegen hat diese palästinensischen Massen, wie früher die chinesischen, algerischen, vietnamesischen usw. auch, dem politischen und organisatorischen Einfluss der nationalen Bourgeoisien ausgeliefert, die ihnen in China, Algerien, Angola usw. die revolutionäre Spitze abbrachen und den begrenzten nationalen Zielen im kapitalistischen Staatensystem und auf dem Weltmarkt opferten, indem sie sie ausnutzten, desorientierten, verrieten und gewaltsam niederschlugen, was bei den Palästinensern nach wie vor der Fall ist. Will man die palästinensischen Terroranschläge politisch beurteilen, so kann es nicht darum gehen, wie die TLD moralische Sprüche zu klopfen (»krimineller Terror«, »abscheulicher Mord« u. dgl.). Man muss im Gegenteil den materiellen Boden untersuchen, dem dieser Terror entspringt, und das heisst zugleich die Aufgaben aufzeigen, die sich dem internationalen Proletariat stellen. Die materielle Grundlage der palästinensischen Verzweiflungsakte liegt gerade in ihrer Isolation vom verratenen, niedergeschlagenen, programmatisch entwaffneten Klassenkampf des Proletariats, vor allem des Proletariats der imperialistischen Metropolen und zugleich – im Gegensatz zu den chinesischen und algerischen Massen z. B. – in ihrer Isolation vom nationalen Boden, d. h. im Pauperismus der Flüchtlingslagerexistenz, in der alle heroischen Massenaufstände der Palästinenser durch das Zusammenwirken der arabischen Bourgeoisie und des Imperialismus, zuletzt im Libanon, zurückgemündet sind, und zwar immer nach furchtbaren Blutbädern. Auf diese Blutorgien folgten die bekannten Terroranschläge von München 1972 als Quittung für das jordanische, u. a. mit BRD-Waffen durchgeführte Massaker, von Entebbe und von Mogadischu als Quittung für die Massaker im Libanon, Mogadischu zudem auch als materieller Akt der Solidarität mit den RAF-Gefangenen, in denen die Palästinenser angesichts des nicht vorhandenen proletarischen Klassenkampfes in den imperialistischen Metropolen zwangsläufig Verbündete im Kampf gegen den Imperialismus erblicken müssen, und mit denen sie eine Gemeinschaft der Verzweifelten eingehen. Indessen ist es unseres Erachtens nur konsequent, dass, wer – wie die TLD – im Chor der Bourgeoisie das Massaker von Tel Satar als Krieg religiöser Cliquen bezeichnet, im selben Chor auch den palästinensischen Terror kriminalisieren muss.

So kann die TLD unsere Texte nur bezahlen, aber leider nicht lesen; denn im selben Artikel, den sie kritisieren möchte, werden diese Zusammenhänge aufgezeigt.

Ein weiterer wesentlicher Punkt, den man im Hinblick auf die terroristischen Aktionen der letzten Zeit mit allem Nachdruck betonen muss, ist die Frage des Zusammenhangs der revolutionären Bewegung des internationalen Proletariats mit den antiimperialistischen Bewegungen der unterdrückten Länder. Der wesentliche Feind des revolutionären Proletariats sind die imperialistischen Staaten, denn diese koordinieren die Bourgeoisie der ganzen Welt und auf ihnen beruht der Schutz der kapitalistischen Ordnung im Weltmassstab. Es liegt somit auf der Hand, dass das Proletariat versuchen muss, die antiimperialistischen Bewegungen der unterdrückten Länder dem Einfluss der dortigen Bourgeoisie bzw. der dortigen kleinbürgerlichen Organisationen, entreissen, um diese Bewegungen mit seinem eigenen Kampf gegen den gemeinsamen Feind zu vereinen. Dies ist nur möglich, wenn das Proletariat in den imperialistischen Ländern einen selbständigen Kampf gegen den Staat und alle ihn tragenden Organisationen führt. Die Tatsache, dass eine kleine und verfolgte Gruppe von Palästinensern (siehe die allgemeine Verurteilung des palästinensischen Kommandos, das die Lufhansa-Maschine gekapert hat, durch alle anerkannten »Vertreter des palästinensischen Volkes«) sich veranlasst gesehen hat, vier ihrer wohl besten und fähigsten Militanten für den Versuch einer Befreiung der RAF-Militanten, deren Programm ja der bewaffnete Kampf gegen den deutschen Staat als Bestandteil der imperialistischen Ordnung ist, einzusetzen, die Tatsache dieser Solidarität zeigt, mit welchem grossartigen Unterstützungspotential die kommunistische Revolution bei den unterdrückten Kolonien und Halbkolonien wird rechnen können. Und sie zeigt auch konkret, greifbar, mit schroffer Direktheit, wie die unterdrückten Massen der Dritten Welt den demokratischen, von der Sozialdemokratie geführten und den »Gewerkschaften« mitgetragenen deutschen Staat als einen imperialistischen Ausbeuter und Unterdrücker erkennen und bekämpfen.

Die TLD zitiert den letzten Satz und macht ihrer Entrüstung Luft:
»Aber weder der brutal ermorderte Pilot Schumann noch eine Gruppe Mallorca-Urlauber sind der ›deutsche imperialistische Staat‹. Anschläge gegen unbeteiligte Bürger eines Staates können nur massive BARRIEREN zur – vielfach von der IKP gepriesenen – ›internationalen Solidarität‹ errichten«.

Woran können die palästinensischen Massen aber erkennen, dass es in den unterdrückenden Nationen, dass es in Israel, in der BRD, in Frankreich, in den USA, in Russland usw. nicht nur einen imperialistischen Staat, sondern auch ein internationalistisches Proletariat gibt, wenn dieses Proletariat nicht gegen »seinen« Staat kämpft? Der Pilot Schumann, die Mallorca-Urlauber und die unbeteiligten Bürger im allgemeinen sind nicht das deutsche Proletariat, das Proletariat, das nicht unbeteiligt sein kann gegenüber den Manövern und Massakern des Weltimperialismus, es sei denn, es ist reduziert auf die Klasse an sich, auf die Klasse für das Kapital. In den Augen der palästinensischen Massen können all diese Leute nicht als das deutsche Proletariat erscheinen – sie sind ein Querschnitt der demokratischen Weltöffentlichkeit, in die das Proletariat infolge der stalinistischen Konterrevolution integriert wurde. Und diese Öffentlichkeit ist die Öffentlichkeit der Herrschenden, des Imperialismus. Aber gerade dieser Öffentlichkeit will sich die TLD anbiedern, wenn sie ihren moralischen Fluch gegen die palästinensischen Terroranschläge schleudert – ein moralischer Fluch, der freilich ein politisches Urteil ist, nämlich dasjenige der Bourgeoisie, die nicht umsonst von A bis Z den Palästinenser-Überfall als abscheuliches Verbrechen bewertete.

Schon deshalb, weil diese Verzweiflungsakte als solche und in ihrer Auswegslosigkeit eine Folge des Fehlens des proletarischen Klassenkampfes in den imperialistischen Metropolen sind, wird die Frage niemals dadurch gelöst werden können, dass man den Palästinensern den Schwarzen Peter zuschiebt. Eine solche Haltung lässt sich mit den Pflichten, die sich den Revolutionären in den unterdrückenden Ländern stellen, nicht vereinbaren, sie bedeutet im Gegenteil eine Kapitulation vor diesen Pflichten. Wie von Lenin mehrmals betont, hat das Proletariat der imperialistischen Länder eine besondere revolutionäre Pflicht gegenüber den unterdrückten Massen der Kolonien und Halbkolonien. Und die Revolutionäre müssen es in dieser Richtung erziehen, damit sich dieses Proletariat von einem Zustand befreit, in dem es sowohl die Palästinenser (von denen man heute, da es ja auch unter ihnen keine marxistische Partei gibt, nichts anderes erwarten kann) als auch die Trotzkisten (die sich für Marxisten ausgeben) als Bestandteil der »unbeteiligten Bürger« betrachten kann.

Und eine solche politische Erziehung, diese Entlarvung des »eigenen« imperialistischen Staates, diese Förderung des Klassenbruches in den Metropolen ist auch an solchen objektiven Erscheinungen wie den Verzweiflungsakten der Palästinenser zu vollziehen, die die Bourgeoisie und ihre Trabanten im Gegenteil selbstverständlich im Sinne einer Pflege des demokratischen Bewusstseins und der bürgerlichen Moral in den Reihen des Proletariats immer ausschlachten werden. Und so wird man je nach dem Klassenlager, in dem man sich (oft unbewusst) befindet, den Terroranschlag des palästinensischen Kommandos vor den Augen des Proletariats zu kriminalisieren versuchen, oder man wird seine Kritik am individuellen Terrorismus und seinen absurden Theoretisierungen sowie die Kritik an den Verzweiflungsakten der Palästinenser durchführen, um dem Proletariat klar zu machen, dass der Schlüssel der Geschichte bei ihm liegt, bei seinem Klassenkampf, der keine »Unbeteiligten« anerkennen wird, bei seiner Bildung zur Klasse, d. h. zur internationalen Klassenpartei. Im ersten Fall wird man, wie die bürgerliche Demokratie es will, nicht die Klassen und den potentiellen Kampf des Proletariats gegen »seinen« Staat vor Augen haben, sondern nur die »Bürger eines Staates«, die per definitionem ja »unbeteiligt«, »unschuldige Opfer« usw. sind (die TLD ihrerseits glaubt sogar an… unparteiische Untersuchungskommissionen!). Im zweiten Fall wird man im Gegenteil angesichts palästinensischer Anschläge wie im Herbst 1977 ausrufen können:
»Ihre Solidarität mit der RAF ist ein Mahnruf an das deutsche Proletariat, sich der Kontrolle durch alle mit dem imperialistischen Staat verwachsenen Organisationen zu entziehen und den eigenen Klassenkampf gegen den bürgerlichen Staat zu führen: Gerade in diesem Kampf liegt die Solidarität mit den Befreiungsbewegungen der unterdrückten Länder«. (»Kommunistisches Programm« Nr. 17)

Abschliessend noch zur Richtigstellung ein wahres Zierstück aus der ergänzenden Kritik an der IKP vonseiten der TLD-Redaktion:
»Die IKP spricht selbst von der ›Welle bürgerlicher Anschläge gegen den bürgerlichen Staat und dessen Repräsentanten‹. Ihre ›Klassenachse‹ reduziert sich in ihren eigenen Begriffen auf die Verteidigung von BÜRGERLICHEM Terror gegen unschuldige Urlauber«.
Jedem aufmerksamen Leser unseres Artikels müsste angesichts des ganzen Tenors unserer Ausführungen auffallen, dass es sich bei der »Welle bürgerlicher Anschläge« um einen Druckfehler handelte: es konnte nur heissen »Welle terroristischer Anschläge«. Besondere Aufmerksamkeit war in diesem Fall allerdings nicht einmal erforderlich, denn dieser und andere Druckfehler wurden durch eine beigeheftete Errata deutlich ausgewiesen und berichtigt. Umso schmeichelhafter finden wir, dass man sich auf einen Druckfehler stützen und dabei eine Errata übersehen muss, um unsere Positionen zu kritisieren.

Die »IV. Internationale« und der ostdeutsche Arbeiteraufstand 1953

In »was tun«, dem Organ der GIM, Nr. 216 vom 29. 6. 78 wurde ein Artikel zum 25. Jahrestag des 17. Juni 1953 veröffentlicht, den Ernest Mandel im Juli 1953 unter dem Pseudonym Wilhelm Sprenger verfasst hatte. Veröffentlicht in den »Diskussionsblättern für demokratischen Sozialismus«, die den Titel »pro und contra« trugen (Nr.7), ist dieser Artikel im höchsten Masse geeignet, die IV. Internationale als Fremdenlegion der sozialdemokratischen und stalinistischen Konterrevolution zu profilieren. Unter dem Fanfarentitel »Die Stunde der Sozialdemokratie« beweihräuchert der Hohepriester der IV. Internationale pflichtschuldigst den bisher letzten grossen Arbeiteraufstand auf deutschem Boden (im angeblich »ersten sozialistischen Staat auf deutschem Boden«). Davon gehörig berauscht zelebriert er folgende schwarze Messe:

»Die ostzonalen Arbeiter schauen auf uns. Jede Stimme für Adenauer ist eine Stimme für Ulbricht:
das ist die Lektion des 17. Juni. Alle klassenbewussten Arbeiter, alle Marxisten müssen ihre äusserste Kraft anspannen, damit die Bundestagswahlen mit einem grossen Erfolg der deutschen Sozialdemokratie enden. Ein sozialdemokratischer Wahlsieg wäre unser erster, bescheidener, aber nicht weniger wichtige Beitrag zur selben Sache, wofür die Ostberliner am 16. und 17. so mutig gekämpft haben: die Sache des demokratischen Sozialismus, gegen jede Form der Ausbeutung und Unterdrückung! (…) Die streikenden Berliner Bauarbeiter warfen der SPD am 16. Juni den Ball zu. Es liegt im Rahmen des Möglichen und des Erreichbaren, die Wiedervereinigung Deutschlands zu einem überwältigenden Erfolg der Arbeiterbewegung und des Sozialismus zu gestalten. Freie, geheime, allgemeine Wahlen in Gesamtdeutschland bedeuten, bei einer richtigen SPD-Politik, eine absolute Mehrheit für die deutsche Sozialdemokratie, die erste rein-sozialdemokratische Regierung in der deutschen Geschichte. Gebt den ostzonalen Arbeitern die Garantie, die sie von Euch fordern.
Genossen des Parteivorstandes«
.

Um alle sonstigen Lügen und Verfälschungen gleich auszuschliessen und uns auf die Ausführungen Mandels konzentrieren zu können, erinnern wir zunächst an die Situation des 17. Juni selbst. Von den klassischen Forderungen des Proletariats nach Erhöhung der Löhne und Minderung des Verschleisses der Arbeitskraft (»Runter mit den Normen!«) und von den Bauarbeitern Ost-Berlins ausgehend, setzte der Arbeiteraufstand die ganze SBZ bzw. DDR in Brand, um schliesslich von den Sozialdemokraten und Stalinisten der SED und vor allem den Militärstiefeln der imperialistischen Siegermacht Russland erstickt zu werden. Damit kam die Katastrophe, der Golgothaweg der deutschen Arbeiterbewegung zwischen den beiden Weltkriegen und im 2. Weltkrieg mit seinen Folgejahren zu dem makabren Abschluss, der ihre jahrelange, bis heute andauernde Passivität eröffnete. Krönend in makabrer Weise war dieser Abschluss insofern, als es den Sozialdemokraten und Stalinisten des SED-Monstrums endlich gelungen war, die Quittung zu erhalten für ihre Führung der deutschen Arbeiterklasse auf den Golgothaweg in den Feuerofen des Faschismus und des Weltkrieges: einen veritablen Massenaufstand gegen die von ihnen gebildete »Arbeiterregierung« in der SBZ bzw. DDR. Dennoch unterliegt es keinem Zweifel, dass das Vertrauen der Arbeiter in die westlichen SPD-Führer und damit in die Sozialdemokratie und in die parlamentarische Demokratie ungebrochen war. Um die aufständischen Arbeiter aber nun, da sie bis an die Schwelle des bewaffneten Kampfes vorstiessen, total um ihre Geschichte und um ihre Erfahrung zu täuschen und zu belügen, was SED und russische Militärs nicht so gut konnten, müssen gerade Strömungen wie die IV. Internationale her. Sie müssen, selbst wenn sie wie damals keine überhaupt nennenswerte Kraft darstellen, diese schäbigste aller Rollen übernehmen, dem aufständischen Kampf des Proletariats eine parlamentarische Lösung zugunsten der SPD und der nationalen Einheit Deutschlands aufzudrängen und die Stunde der SPD als die Stunde des Sozialismus zu feiern. Sie müssen das kämpfende Proletariat darüber täuschen und belügen, dass diese Art Lösung keine andere als eine bürgerliche ist, dass die Stunde der SPD die Stunde des Gendarmen und Freikorpssöldners ist, der die bürgerliche Demokratie gegen die Diktatur des Proletariats verteidigt. Genau das waren diese Stunden der Sozialdemokratie: die Ermordung Rosa Luxemburgs, Karl Liebknechts, Eugen Levinés und Tausender revolutionärer Proletarier zu organisieren (1918/19); der Massenmord an den Arbeitern der Roten Armee des Ruhrgebiets, als sie versuchten, nach der militärischen Säuberung des ganzen Industriegebiets von den Kapp-Lüttwitz-Putschisten die Grundlagen ihrer politischen Macht zu erweitern und zu erhalten. Wer hatte sie aufgerufen, den Kapp-Putsch mit allen Mitteln zu bekämpfen? Die SPD. Wer brach nach dem Sturz der Putschistenregierung den Generalstreik ab und hetzte den Ruhr-Arbeitern über alle möglichen Eisenbahnlinien dasselbe weissgardistische Gesindel auf den Hals, das Tausende Arbeiter und Arbeiterinnen ermorderte? Die SPD der Herren Ebert, Scheidemann, Severing! Das war die Stunde der SPD und der parlamentarischen Demokratie, die von den Arbeitern vor Kapp-Lüttwitz gerettet worden war: die Stunde des Gendarmen und Freikorpssöldners, die Stunde der Arbeitermädchen als brennende Fackeln! Wer besorgte die tödliche Isolierung der russischen Revolution, um dem »Sozialismus in einem Lande« den Weg freizumachen zur Ausrottung des Bolschewismus? Die Sozialdemokratie! Wer besorgte 1938 in Spanien zusammen mit den Stalinisten das Massaker an den anarchistischen und trotzkistischen (!) Arbeitern, die 1936 ganz Katalonien von den Franco-Faschisten gesäubert hatten? Die Sozialdemokratie Largo Caballeros und Comoreras! Wer wurde nach dem 2. Weltkrieg als Sozialpolizei von den imperialistischen Mächten USA und England nach Westdeutschland und Berlin eingeflogen, um die ausgebombten Arbeiter mit sozial-demagogischen und vaterländisch-demokratischen Reden zum Wiederaufbau des Kapitalismus anzutreiben? Die SPD. Was war der Anfang vom Ende der KPD? Der Versuch, die SPD oder deren linke und halb-linke Flügel für die Revolution zu gewinnen, was 1923 in der SPD/KPD-»Arbeiterregierung« von Sachsen-Thüringen gipfelte, wo die KPD sich von den sozialdemokratischen Führern erpressen liess, einen Aufruf zum Generalstreik wieder ad acta zu legen, die Regierungskoalition für wichtiger zu nehmen als die von Zaisser und Wollenberg im Ruhrgebiet organisierten Arbeitertrupps! Und so fort: eine konterrevolutionäre Kette ohne Ende, bis diese Partei, die SPD, auch theoretisch in Godesberg endlich das Bekenntnis zu dem findet, was sie ist – eine bürgerliche Volkspartei, die auf eine breite Blutspur in der Arbeiterbewegung zurückblicken kann. Mandels Pamphlet beweist, dass die IV. Internationale schon damals die Konsequenzen hätte ziehen sollen: ihren fort- und parallellaufenden Abbau und Neuaufbau mit all dem sauren Schweiss, der dabei die Luft verpestet, zu beenden und dahin zu gehen, wo sie hingehört: in die Sozialdemokratie! Die qualvollen Teilungs- und Fusionsprozesse der IV. Internationale hätten schon damals einfach gelöst werden können: in der Spaltung in »Ost-Trotzkisten« als Fremdenlegion des Stalinismus und in »Westtrotzkisten« als Fremdenlegion der Sozialdemokratie. Das politische Charakteristikum dieser Kräfte, nämlich alle Ausbrüche der sozialen Gegensätze einer parlamentarischen Lösung zuzuführen, in parlamentarische Kanäle zu leiten, durch parlamentarische Illusionen zu zersetzen, dieses Charakteristikum, das der Sozialdemokratie und dem Stalinismus in Fleisch und Blut übergegangen, von ihrer zweiten zu ihrer absoluten Natur geworden ist, kennzeichnet nicht minder die »trotzkistischen« Kräfte: von ihrer hier dokumentierten Haltung angesichts des ostdeutschen Aufstandes 1953 bis hin zu ihrer Politik der Unterstützung der »Linksunion« bei den letzten Wahlen in Frankreich (es ist wahr, dass einige trotzkistischen Organisationen, so die Spartacist Tendency, diese Politik in Frankreich nicht mitgemacht haben; anbetracht ihrer Programmtik werden sie aber bei entscheidenden Wenden der Geschichte gezwungen sein, eine solche Politik zu führen).

Wenn sich der Prozess der Fusion der IV. Internationale mit der Sozialdemokratie und mit den stalinistischen Parteien zum Teil durchaus vollzog (im trotzkistischen Jargon: pabloistische Tendenz) oder die nationalen Sektionen selbst zu kleinen rein sozialdemokratischen Parteien wurden (Ceylon, USA), so konnte dieser Prozess niemals die ganze IV. Internationale ergreifen. Das Geheimnis dafür liegt weniger in der Entwicklung der Sozialdemokratie und des Stalinismus, in ihrer unmissverständlichen Entpuppung als bürgerliche Volksparteien und in ihrer Intoleranz gegenüber trotzkistischen »Unterwanderern«, sondern vielmehr in der Rolle, die dem politischen Zentrismus angesichts einer solchen Entwicklung zukommt: Die Kräfte – soweit vorhanden –, die darüber enttäuscht sind und sich dagegen wehren, »links« aufzufangen, um sie über das politische Spiel der taktischen Manöver, der »kritischen Unterstützungen«, der Verteidigung von sog. entarteten oder deformierten Arbeiterstaaten usw. zu einem Satelliten und Gehilfen jener Parteien zu organisieren.


Source: »Kommunistisches Programm«, Nr. 19, 1978 (orth. Korr.: sinistra.net 10. 2002/11. 2022)

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