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LENIN UND DIE LOSUNG DER »ARBEITERKONTROLLE«


Content:

Lenin und die Losung der »Arbeiterkontrolle«
Das Schicksal einer Losung
Die Losung der »Arbeiterkontrolle« von April bis Juli 1917
Die Losung der »Arbeiterkontrolle« vom Juli bis September 1917
Anmerkungen
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Lenin und die Losung der »Arbeiterkontrolle«

Zu sagen, dass die Klassenpartei – weil sie die grossen, den verschiedenen Phasen der Entwicklung der realen Bewegung entsprechenden Möglichkeiten der taktischen Aktion im voraus kennt – über einen sicheren Kompass im stürmischen Meer der sozialen Konflikte verfügt, hiesse viel und gleichzeitig zu wenig zu sagen.

Viel, weil die Klassenpartei ihren Namen nicht verdienen würde, wenn sie nicht
»jenen systematischen, durch feste Prinzipien erhellten und unbeirrt durchzuführenden Tätigkeitsplan, der allein die Bezeichnung Taktik verdient«[1]
besässe; weil sie ihren Namen nicht verdienen würde, wenn sie darüberhinaus – unter der Bedingung jene
»standhafte, auf dem politischen Kampf in jedem Moment und in allen Situationen vorbereitete Organisation«
zu besitzen, ohne die der systematische Aktionsplan selbst bodenlos bliebe – nicht in der Lage wäre, wirksam in die sich verändernden Kampfsituationen einzugreifen und mehr noch, deren Ausgänge vorauszusehen. Zuwenig, weil andererseits die schwierige Frage offen bliebe, ob die objektiven Bedingungen eine »direkte« praktische Aktion zulassen, das heisst eine Angriffsaktion der kommunistisch geführten Kräfte gegen den bürgerlichen Staat, oder ob solche Bedingungen im Gegenteil fehlen und man demzufolge auf eine »indirekte«[2] Taktik zurückgreifen muss.

Ungelöst bliebe darüberhinaus das nicht weniger schwierige – und in bestimmten Fällen noch kompliziertere – Problem der Einschätzung des tatsächlichen Standes der Kräfteverhältnisse, der auf der sozialen Bühne eingetretenen Verschiebungen, des Einflussgrades der Partei, der »Temperatur« der in Bewegung geratenen Massen, des Molekularspieles der Kräfte, die innerhalb der herrschenden Klasse und der an sie gebundenen Mittelschichten wirken, die ihrer Fähigkeit zur Offensive oder auch nur zur Verteidigung ihres Staates usw., sowie, im Zusammenhang mit dieser Gesamteinschätzung (keine dieser Einschätzungen gibt es im Voraus und ist erst recht nicht direkt in einem Handbuch, in einem Code- oder Rezeptbuch zu finden), die Frage der Dosierung der Losungen, die auf die Realität einwirken und sie verändern können. Gerade in der Konfrontation mit den realen Tatsachen einer in ihren Grundzügen auf jeden Fall vorausgesehenen historischen Bewegung wird die Fähigkeit oder Unzulänglichkeit der Partei, ihre eigenen Aufgaben zu erfüllen, getestet.

Das Schicksal einer Losung

Genausowenig wie die grossen Formeln, in denen die Prinzipien des Kommunismus zusammengefasst sind, werden die Aktionsrichtlinien – die man gewöhnlich Losungen nennt – »in den Wind geschlagen«. Wie Lenin schreibt, lässt die Partei zwar alle Kampfmittel zu,
»jedoch nur wenn sie (und in diesem wenn liegt der Schlüssel zur Lösung zumindest der Hälfte des Problems) den realen Kräften entsprechen«.
Eine Vorwegnahme oder Verspätung, eine Übereinstimmung oder ein Auseinanderklaffen gegenüber den objektiven und subjektiven Bedingungen des historischen Zeitpunktes, eine Erfüllung der realen Erfordernisse oder eine Flucht in die behagliche aber illusorische und verhängnisvolle Illusionen zeugende Welt der »revolutionären Phrase« beim Auswählen der Aktionsrichtlinie können nichtwiedergutzumachende Verwirrungen in der Parteiorganisation verursachen und sogar die Möglichkeit eines schnellen Vormarsches der von uns beeinflussten oder zu beeinflussenden Massen beeinträchtigen.

Die »Arbeiterkontrolle« ist eine der Losungen, die vom Schicksal verfolgt scheinen, entweder zur unpassenden Zeit oder ziellos ausgegeben zu werden – und das sieht man auch heute, wo die Härte der Wirtschaftskrise oft dazu führt, dass man die schwerwiegenden Faktoren vergisst, die hemmend auf der Fähigkeit zur Wiederaufnahme des proletarischen Klassenkampfes, lasten. Wenn wir die erklärten Opportunisten beiseite lassen, die sich eine »Gesetzgebung zur Arbeiterkontrolle« ohne weiteres im Rahmen der Mitverwaltung der Krise und in die vielfachen, damit zusammenhängenden Strukturreformen einfügen lässt, nimmt die Losung der Kontrolle über die gesellschaftliche Produktion und über die Verteilung der Produkte bei Spontaneisten und Immediatisten die Form einer Kampflosung an zwecks Eroberung von »Machtbereichen« im Rahmen der bürgerlichen Gesellschaft selbst oder geradezu von »Sozialismus-Inseln«, die von der unerlässlichen Bedingung der politischen Machtübernahme losgelöst sind. Diese Auffassung ist – wie übrigens die des Ordinovismus (Gramsci) – nur eine Variante des Gradualismus, sei er subjektiv und in der Absicht auch »revolutionär«. Bei den verschiedenen trotzkistischen Gruppen spielt diese Losung eine andere, aber nicht weniger schädliche Rolle. Sie entspricht der falschen Auffassung, wonach der Kapitalismus nunmehr die äusserste Grenze seiner eigenen Ausdehnungsmöglichkeiten erreicht und in der objektiven Wirklichkeit seine historischen Aufgaben erschöpft hätte; somit wären auch alle materiellen Bedingungen für ein Verschwinden des Kapitalismus schon jetzt vorhanden; nur der gelegene Eingriff der Partei als agierende subjektive Kraft würde noch fehlen, damit der Kapitalismus zusammenbräche. Als Vorwegnahme eines wesentlichen Punktes des Programms der despotischen Eingriffe der proletarischen Diktatur auf den Trümmern des kapitalistischen Staates, wird die Losung der Arbeiterkontrolle zum Hebel einer unmittelbaren Aktion, die im Stande wäre, schon heute die revolutionäre Krise auszulösen, welche auch immer die subjektiven und schliesslich objektiven Verwüstungen der langen Phase der vereinten, sozialdemokratischen und stalinistischen Konterrevolution gewesen sein mögen. Das ist aber nicht alles. Diese Losung vom »Übergangsprogramm« wird auch in etwas verwandelt, das den spontaneistischen Losungen sehr ähnelt, denn sie teilt sich in zwei: Einerseits tritt sie sozusagen als Bestandteil des Maximalprogramms auf, das heisst kann nur unter Voraussetzung der Machteroberung verwirklicht werden; andererseits ist sie sozusagen Teil des Minimalprogramms und von vornherein auf der Welle einer steigenden Klassenkampfbewegung durchzuführen (zum Beispiel dadurch, dass die »Rechnungsbücher der grossen Betriebe geöffnet« oder die Preise durch die Gewerkschaften mit Unterstützung von… Hausfrauenvereinen kontrolliert werden usw.). Der auf der Grundlage einer mechanistischen Krisentheorie zur Tür hinausgejagte Gradualismus kommt somit aufgrund eines voluntaristischen »Konkretismus« wieder durch das Fenster herein.

Da man sich in beiden Fällen unglücklicherweise auf Lenin beruft und sogar vorgibt, in diesem Zusammenhang den Gipfel der »leninistischen« Wissenschaft der Taktik zu erreichen, ist es nützlich – nicht aus historischen akademischen Zwecken, sondern mit ganz klaren politischen Klassenzielen – festzustellen, wann und warum Lenin – richtigerweise und ohne jeglichen Utopismus – die Losung der Arbeiterkontrolle benutzte.

Die Losung der »Arbeiterkontrolle« von April bis Juli 1917

Als Lenin im April 1917 nach Russland zurückkehrte, fand er sich vor einer »Wirklichkeit«, die
»sowohl den Übergang der Macht an die Bourgeoisie (›abgeschlossene‹ bürgerlich-demokratische Revolution vom gewöhnlichen Typus)« zeigte, »als auch die Existenz – neben der eigentlichen Regierung – einer Nebenregierung, die die ›revolutionär-demokratische Diktatur des Proletariats und der Bauernschaft‹ verkörpert«,
eben die Sowjets. Und zu allem Übel
»hat diese letztere ›Auch-Regierung‹« – in einer Situation äusserst sozialer und politischer Spannung, die von einer tiefen Wirtschaftskrise und dem anhaltenden Krieg ausgelöst wurde – »selber die Macht an die Bourgeoisie abgetreten, hat sich selber an die bürgerliche Regierung gekettet.«[3].
Es ist ein »überaus eigenartiger, in dieser Form in der Geschichte noch nie dagewesener Umstand«, weil sie »zwei Diktaturen miteinander und ineinander verflochten hat: die Diktatur der Bourgeoisie (…) und die Diktatur des Proletariats und der Bauernschaft«[4].
Es ist nicht nur eine höchst revolutionäre Situation, sondern auch eine Situation von Doppelherrschaft, bei dem die eine oder die andere der beiden Diktaturen früher oder später notwendigerweise überwiegen und seinen Gegner zerschlagen muss. Und zur Zeit läuft die zweite Diktatur Gefahr, zerschlagen zu werden, auch wenn sie in sich alle Elemente birgt, um – wie Lenin schreibt – tatsächlich eine neue Verkörperung der Pariser Kommune auf einer noch höheren Ebene zu sein.

Lenin war das Dilemma in seiner ganzen Tragweite klar und in einer ersten Zeit eben nur ihm. Um aus diesem Dilemma herauszukommen, gab es nur einen möglichen Weg: die Umkehrung der Kräfteverhältnisse, die die Sowjets den Interessen der herrschenden Klasse und ihres legalen Machtapparates unterwarfen. Dass der Arbeiterklasse vorgeschriebene Ziel ist und kann also nur
»die Alleinherrschaft der Sowjets der Arbeiter-, Soldaten-, Bauern- usw. Deputierten im ganzen Lande, und unten bis oben« (von uns hervorgehoben) sein[5].
Aber das kann nur erreicht werden, wenn »das Maximum an Legalität«, das das labile Gleichgewicht der Kräfte den Bolschewiki vorübergehend ermöglicht, mit Geduld und Ausdauer ausgenutzt wird, um den Massen zu erklären, dass die Sowjets einerseits »die einzig mögliche revolutionäre Regierungsform« sind, andererseits aber diese Möglichkeit nur Wirklichkeit werden kann, sich in der Praxis nur realisieren lässt, wenn die Abhängigkeitsfesseln gesprengt werden, an die sie das Zaudern der städtischen und ländlichen Kleinbourgeoisie gegenüber der legitimen Regierung der Miliukow, Gutchkow und Konsorten gekettet hat.

Was werden die Sowjets tun, die durch diese energische Kursänderung auf ihren von der lebendigen Geschichte vorgezeichneten Weg gebracht wurden? Für Lenin bestehen die Aufgaben der künftigen revolutionären Macht nicht in der »Einführung des Sozialismus« – ein Ziel, das sich nicht einmal der Oktober setzt, da die materiellen Bedingungen im Rahmen des riesigen Russlands dafür fehlen –, sondern viel bescheidener im
»Übergang zur Kontrolle der gesellschaftlichen Produktion und der Verteilung der Produkte durch die Sowjets der Arbeiterdeputierten«,
als einzige Lösung, um einen entschlossenen Kampf gegen den Zusammenbruch der Wirtschaft bis zum Ende zu führen, von dem das ganze Land bedroht ist und unter dem besonders die Arbeitermassen der Städte und des Landes leiden[6].

Hier ist also die Losung der Arbeiterkontrolle in ihrem natürlichen Rahmen gestellt: die dringenden Massnahmen, die die im Februar an die Macht gelangte Bourgeoisie nicht trifft und nie treffen wird, um die vom Zarismus geerbte Kriegskatastrophe zu beenden – der Krieg wurde in Gegenteil im Rahmen der errungenen Demokratie mit neuem Eifer wieder aufgenommen –, können nur vom Proletariat und der armen Bauernschaft in die Praxis umgesetzt werden, wenn sie sich vom Joch der Grossbourgeoisie – einer Bourgeoisie, die sich mit ihrer Revolution zufrieden gibt und die Macht siegreich übernommen hatte – befreien und sich zur einzigen und despotischen, revolutionären Macht erheben. Und diese Massnahmen – sagt Lenin – werden sie tausendmal besser als ganze Heere von bürgerlichen Verwaltern, Technikern und Spezialisten ausführen, weil sie nicht davor zögern werden, den ganzen Produktions- und Verteilungsapparat unter diktatorische Kontrolle zu stellen, die Schlüsselindustrien zu kartellisieren, den Boden zu verstaatlichen, die obligatorische Arbeit einzuführen usw.

Es ist notwendig, diese unerlässlichen Massnahmen – die nicht über den Rahmen der kapitalistischen Wirtschaft hinausgehen, auch wenn sie politisch die ersten Schritte auf den Sozialismus hin bedeuten – im Voraus zu formulieren und sie werden auch ständig in der Periode zwischen April und Juli 1917 wiederholt, als Hinweis auf die
»Übergangslieder, die die revolutionäre Wahrheit den unvorbereiteten Leuten verständlich machen sollen«.
Lenin trennt sie jedoch nie von der Vorbedingung, auch wenn diese als Schlussfolgerung erscheint, dass die Macht zuerst gänzlich in die Hände der Arbeiter- und Bauernsowjets als einzige revolutionäre Autorität übergehen muss. Als Lenin zum Beispiel angesichts der für den 13. Juni (31. Mai) einberufene erste Petrograder Konferenz der Betriebskomitees die »Resolution über ökonomische Kampfmassnahmen gegen die Zerrüttung« abfasste, stellt er geduldig in neun Punkten die Liste der unbedingt vorrangig zu treffenden, wirtschaftlichen Massnahmen auf – und unter denen unter Punkt 3
»eine wirkliche Arbeiterkontrolle über die Produktion und Verteilung«
gefordert und die in den folgenden Punkten auf alle Bereiche des Wirtschaftslebens ausgedehnt und mit allen anderen Massnahmen, die sowohl die Bauern als auch die Arbeiter angehen, verbunden wird –, weil er weiss, dass diese Massnahmen sofort beeindrucken werden und das aktive Eingreifen der durch die schon begonnene Revolution bewegten Kräfte anregen werden. Ausgesprochen vorsichtig schliesst er den Text damit, dass
»eine planmässige und erfolgreiche Durchführung aller erwähnten Massnahmen nur möglich ist, wenn die gesamte Staatsmacht in die Hände der Proletarier und Halbproletarier übergeht.«[7].
Und das gilt für alle Punkte des von Lenin geschmiedeten Programms von den »Aprilthesen« bis zum Ende Juni: nein, in der bolschewistischen Auffassung von der Revolution gibt es wirklich kein Platz für die »revolutionäre Phrase«.

Lenin, der innerhalb seiner eigenen Partei in einen heftigen Kampf engagiert ist, geht aber noch weiter. In einer Polemik gegen die »Moskauer«, die die Möglichkeit erwägen, die Kapitalisten durch die »Kontrolle« über die provisorische Regierung zu überwachen, erklärt er auf der »VII. panrussischen Konferenz der SDAPR« vom 24. April bis zum 7. Mai:
»Kontrolle ohne Macht ist eine völlig leere Phrase. Wie soll ich England kontrollieren? Um es kontrollieren zu können, müsste man seine Flotte erobern. Ich verstehe, dass die unentwickelte Masse der Arbeiter und Soldaten, naiv und unaufgeklärt, an die Kontrolle glauben kann, aber es genügt, über die grundlegenden Momente der Kontrolle nachzudenken, um zu begreifen, dass ein solcher Glaube ein Abweichen von den Grundprinzipien des Klassenkampfes ist. Was ist Kontrolle? Wenn ich ein Papierchen oder eine Resolution schreibe, so schreiben sie eine Gegenresolution. Um kontrollieren zu können, muss man die Macht haben. Wenn das der breiten Masse des kleinbürgerlichen Blocks unverständlich ist, dann muss man die Geduld haben, ihr das auseinanderzusetzen, darf ihr aber auf keinen Fall die Unwahrheit sagen. Wenn ich aber diese Grundbedingung durch die Kontrolle verdecke, dann sage ich die Unwahrheit und arbeite den Kapitalisten und Imperialisten in die Hände. – ›Bitte sehr, kontrolliere mich, ich aber werde die Kanonen haben. Werde du satt durch die Kontrolle‹, sagen sie. Sie wissen, dass man heute das Volk nicht abweisen kann. Ohne Macht ist die Kontrolle eine kleinbürgerliche Phrase, die den Gang und die Entwicklung der russischen Revolution hemmt: darum eben wende ich mich gegen den dritten Punkt der Moskauer Genossen.« (von uns hervorgehoben)[8].

Die »Theoretiker«, die die Arbeiterkontrolle bis zum satt werden den Arbeitern auftischen, die mit der Arbeiterkontrolle als Allheilmittel bei jeder Situation, bei jeder eingebildeten »Doppelherrschaft«, bei jeder nur im Wunsch vorhandenen »vorrevolutionären Situation« aufwarten, sollten sich lieber die Mühe geben, über diese kristallklaren Worte ein bisschen nachzudenken.

• • •

Im Juli 1917 hat sich die Situation völlig gewandelt, nicht wegen eines Knalleffektes, sondern weil die von Lenin im Juni auf dem 1. Kongress der Sowjets gestellte unentrinnbare Alternative –
»die Frage steht so: vorwärts- oder rückwärtsgehen. Man kann in einer revolutionären Zeit nicht auf ein und demselben Fleck stehen bleiben«[9].
– sich in Form eines »Rückzugs« gelöst hatte.

War also die Prognose vom April falsch? Keineswegs. In den Monaten unmittelbar nach dem Februar war eine »friedliche« Entwicklung der Revolution und damit ein »friedlicher« Übergang der Macht in die Hände der Sowjets noch möglich.
»Friedlich nicht nur in dem Sinne, dass sich niemand, keine Klasse, keine ernsthafte Kraft [Kraft, sagt Lenin. Darunter verstand er also keinen einfachen Übergang der Staatsmacht durch notarielle Urkunde. Die Frage war eine Frage der Kraft!] damals, vom 27. 2. bis zum 4. 7., den Übergang der Macht an die Sowjets hätte widersetzen oder verhindern können. Das ist noch nicht alles. Die friedliche Entwicklung wäre damals möglich gewesen, sogar in der Beziehung, dass der Kampf [Kampf, betonen wir, keine »zivile Auseinandersetzung«] der Klassen und Parteien innerhalb der Sowjets, wenn die ganze Fülle der Staatsmacht rechtzeitig an die Sowjets übergegangen wäre [ganze Fülle und rechtzeitig haben wir unterstrichen: das eine Wort beinhaltet die unerlässliche Bedingung für das Ende der »Doppelherrschaft«, das andere einen genauen Zeitpunkt], sich möglichst friedlich und schmerzlos (also eine Frage der Quantität und nicht der Qualität) hätte abspielen können«[10].

Darum war die Losung für die Partei die der ausdauernden, beharrlichen und geduldigen Eroberung der Mehrheit in den Sowjets. Es handelte sich aber – fügte Lenin hinzu – um eine besondere, nicht wiederkehrende Situation, die sich nicht unendlich ausdehnen konnte, genau wie es eine besondere Tatsache war, dass die objektiv an die Macht gelangte Klasse sie ganz oder teilweise der besiegten Klasse überliess. Darum musste man früher oder später zum Wendepunkt vom Juli kommen.

Im Juli zeigen die Repression, die Verhaftungen, die Schliessungen der Zeitungen im Innern, die Wiederaufnahme der Offensive und die Erschiessungen an der Front, dass die Bourgeoisie die Macht gegen die Arbeiter, Soldaten und Bauern, die sie ihr streitig machen, benutzen kann. Es ist eine leere Phrase, zu sagen, dass weder die Regierung noch die Sowjets die Schuld an den Massakern tragen:
»Um so schlimmer für die Regierung und die Sowjets!« – schreibt Lenin»denn dann sind sie also Nullen, sind sie Marionetten, dann haben sie nicht die reale Macht«.

»Das Volk muss vor allem und in erster Linie die Wahrheit kennen, es muss wissen, in wessen Händen sich in Wirklichkeit die Staatsmacht befindet«.
Weiter von »Übergang der Macht an die Sowjets« – und in diesem Zusammenhang von Arbeiterkontrolle – zu sprechen, hat folglich keinen Sinn mehr:
»Dieser Weg wäre der schmerzloseste gewesen, und darum musste man mit aller Energie für ihn kämpfen. Doch jetzt ist dieser Kampf, der Kampf für den rechtzeitigen Übergang der Macht an die Sowjets, zu Ende. Der friedliche Weg der Entwicklung ist unmöglich gemacht worden. Es beginnt ein nichtfriedlicher, äusserst schmerzvoller Weg« (von uns unterstrichen)[11].

Was bedeutet das? Das bedeutet, dass
»das revolutionäre Proletariat eben, nach der Erfahrung vom Juli 1917, die Staatsmacht selbständig in seine Hände nehmen muss – anders ist der Sieg der Revolution nicht möglich. Die Macht in den Händen des Proletariats, das von der armen Bauernschaft oder den Halbproletariern unterstützt wird« [wir betonen: wer führt ist hier das Proletariat, das die Kleinbourgeoisie und das Landvolk unterstützen], »dies ist der einzige Ausweg« (von uns unterstrichen)[11].
Der Weg ist klar aufgezeichnet: der bewaffnete Aufstand – natürlich nicht heute, aber von heute an muss er vorbereitet werden – und das
»kann nur der Übergang der Macht an das von der armen Bauernschaft unterstützte Proletariat sein, um das Programm unserer Partei zu verwirklichen«[12].
Wir sind im Juli, der Geist Lenins aber schon mitten im Oktober.

Die Losung der »Arbeiterkontrolle« vom Juli bis September 1917

Haben die Sowjets noch Platz in dieser Perspektive? Gewiss, aber nur unter der Bedingung, dass sie nicht die faulen Sowjets vom im Juli bleiben:
»Sowjets können und müssen in dieser neuen Revolution in Erscheinung treten, aber nicht die jetzigen Sowjets, nicht Organe des Paktierens mit der Bourgeoisie, sondern Organe des revolutionären Kampfes gegen die Bourgeoisie. Dass wir auch dann für den Aufbau des ganzen Staates nach dem Typ der Sowjets eintreten werden, das stimmt. Das ist nicht eine Frage der Sowjets schlechthin, sondern eine Frage des Kampfes gegen die gegenwärtige Konterrevolution und gegen den Verrat der gegenwärtigen Sowjets.«[13]

Und das bedeutet solange mit den Waffen zu kämpfen bis die Sowjets dem bürgerlichen und kleinbürgerlichen Einfluss entrissen und schliesslich das geworden sind, was ihnen die lebendige Geschichte vorschreibt: die Organe der ganzen Macht der Proletarier, gestützt auf die armen Bauern und Halbproletarier. Erinnern wir uns der Perspektive vom April:
»Alle Macht bedeutet, dass der Sowjet keine Organe der politischen Macht anerkennt, die nicht von ihm ins Leben gerufen wurden; dass er keine Machtteilung akzeptiert, da sie unweigerlich den Verzicht auf jede Macht bedeutet. Folglich erkennen wir [das ist Dialektik!] den Sowjet an, weil er die einzige mögliche Form einer revolutionären Regierung ist. Wie erkennen ihn grundsätzlich an, auch wenn seine Mehrheit gegen uns ist, und erklären ihn nicht zum Feind. Wir sagen ihm nicht: entweder gehst du zu uns über oder wir greifen dich an. Wir sagen ihm unter der Bedingung, dass allein mit dem Sowjet regiert wird, erkennen wir selbst als Minderheit diese Regierung an, auch wenn die Menschewiki und die Volkstümler darin die Mehrheit haben sollten. Der Sowjet muss aber die ganze Macht fordern und auch demzufolge die provisorische Regierung nicht anerkennen, er muss mit ihr völlig brechen, er darf mit keiner Partei über die Macht verhandeln, die nicht ausschliesslich auf einer Arbeiterbasis beruht. Die Menschewiki und die Sozialrevolutionäre haben die Wahl: entweder mit den Bourgeois in der provisorischen Regierung oder mit uns im Sowjet, der die ganze Macht haben und an der Spitze des Staates stehen muss (…).«
Als Lenin dies seinen Parteigenossen erklärte, verschwieg er nicht, dass man schon genau wusste, dass die Opportunisten die provisorische Regierung und nicht eine Regierung der Sowjets mit den Bolschewiki wählen würden: ein Kompromiss, der nicht den Sowjets als einziges Machtorgan anerkennt, und nicht jedes ausserhalb der Sowjets erteilte Machtmandat an Politiker zurückweist, sondern sogar die bürgerlichen Minister behält. Wenn diese Entscheidung klar sein wird, wird die Mehrheit des Sowjets die Opportunisten als »Verräter fallengelassen und sie bei der unvermeidlichen Kraftprobe zwischen Organen bürgerlicher und sowjetischer Macht zusammen mit den Bourgeois wegfegen.«[14]
Die Perspektive war klar. Es ist an der Zeit, die Bilanz ziehen.

Als die Bolschewiki in den Untergrund gingen und ihr militärischer Apparat dank des Einschreitens gegen die Offensive von Kornilow – ohne sich jedoch jemals mit Kerenski zu verbinden, ohne jedoch jemals den Arbeitern vorzutäuschen, die Kerenski-Regierung sei eine… Arbeiterregierung! – gestärkt war, gaben sie vorübergehend die Losung, »alle Macht den Sowjets«, auf. Sie bereiteten sich aber darauf vor, entweder sie wieder aufzustellen, wenn die oben genannte Situation nochmals eintritt, oder die Macht selbst zu ergreifen, als sie Sowjets trotz des Zusammenfallens günstiger objektiver Bedingungen, die den Weg des bewaffneten Aufstands zwingend machen, zögern sollten.

Dann, gegen Ende September, als die Lage sich offensichtlich zuspitzte, tauchte die Losung »alle Macht den Sowjets« – nicht als Fetisch, sondern als Form, die im Namen der Interessen einer vollständigen und diktatorisch ausgeübten, revolutionären Macht auch überholt werden kann – wieder auf der Bühne auf, und mit ihr gewinnt die Losung der Arbeiterkontrolle von neuem an Aktualität.

»Die Hauptschwierigkeit der proletarischen Revolution liegt in der Verwirklichung einer vom ganzen Volk getragenen genauesten und gewissenhaftesten Rechnungsführung und Kontrolle, der Arbeiterkontrolle über die Produktion und die Verteilung der Produkte«.
Aber Vorsicht!
»Sagen wir ›Arbeiterkontrolle‹ und stellen dabei diese Losung immer neben die Diktatur des Proletariats, immer im Anschluss an sie, so machen wir damit klar, von welchem Staat die Rede ist. Der Staat ist das Organ der Herrschaft einer Klasse. Welcher Klasse? Herrscht die Bourgeoisie, dann ist es eben ein kadettisch-kornilowisch-kerenskisches Staatswesen, von dem dem arbeitenden Volk in Russland schon seit über einem halben Jahr ›kornilisch und kerenisch‹ zumute ist. Herrscht das Proletariat, handelt es sich um den proletarischen Staat, das heisst um die Diktatur des Proletariats, so kann die Arbeiterkontrolle zu einer volksumspannenden, allumfassenden, allgegenwärtigen, genauesten und gewissenhaftesten Rechnungsführung über die Erzeugung und Verteilung der Produkte werden«.
Sie kann es werden, wenn die »Kontrollapparate«, die der Kapitalismus selbst der siegreichen Klasse hinterlässt, benutzt werden,
»wobei unsere Aufgabe hier lediglich darin besteht, das zu entfernen, was diesen ausgezeichneten Apparat kapitalistisch verunstaltet«.
Gerade hier werden die Sowjets, einmal zu ihrer revolutionären Funktion und ihrem revolutionären Wesen zurückgekehrt, eine wesentliche Aufgabe zu erfüllen haben:
»Ohne die Sowjets wäre diese Aufgabe, zumindest für Russland, unlösbar. Die Sowjets kennzeichnen jene organisatorische Arbeit des Proletariats, durch die diese welthistorisch wichtige Aufgabe gelöst werden kann. (…) Die Konfiskation des Eigentums der Kapitalisten wird nicht einmal der »Kernpunkt« der Sache sein, sondern gerade die allumfassende, vom ganzen Volk getragene Arbeiterkontrolle über die Kapitalisten und ihre möglichen Anhänger. Mit der Konfiskation allein ist es nicht getan, denn sie enthält kein Element der Organisation, der Rechnungsführung über die richtige Verteilung. Die Konfiskation können wir leicht durch die Erhebung einer gerechten Steuer ersetzen (…) - wichtig ist nur, dass es unmöglich gemacht wird, sich der Rechenschaftslegung auf irgend eine Weise zu entziehen, die Wahrheit zu verhehlen, das Gesetz zu umgehen. Diese Möglichkeit wird aber nur durch die Arbeiterkontrolle des Arbeiterstaates ausgeschaltet werden« (hervorgehoben von Lenin: das Gewehr auf der Brust des Kapitalisten muss vom Proletariat gehalten werden, jedoch auf Befehl und mit dem Rückhalt seines Staates)[15].

Wie die Forderung der »Diktatur des Proletariats« verliert also auch die der »Arbeiterkontrolle« – obwohl diese der ersten untergeordnet wird – den vorweggenommenen, jedoch allgemein gehaltenen Charakter einer Verkündung von dem, was die Revolution wird durchführen müssen, und wird jetzt zu einem der Hebel der revolutionären Mobilisierung der Massen. Die objektiven Bedingungen selbst geben ihr einen brennend materiellen Inhalt: wenn sich Hungersnot und wirtschaftliches Chaos auszubreiten drohen, führen sogar die bürgerlichen Regierungen gewisse Massnahmen ein, um den Produktions- und Verteilungsapparat zu kontrollieren – natürlich verfolgen sie dabei nur ein einziges Ziel: die Rettung der bestehenden Ordnung. In Russland tut es die Regierung schlecht oder überhaupt nicht, nicht einmal mit diesem Ziel, weil sie durch die vorkapitalistischen Bedingungen, die mit Bedingungen eines fortgeschrittenen Kapitalismus verstrickt sind, behindert ist. Die proletarische Macht wird es aber tun, um die allgemeinen Interessen der unterdrückten Klassen zu verteidigen:
»Kontrolle, Aufsicht, Rechnungsführung, Regulierung durch den Staat, richtige Verteilung der Arbeitskräfte in Produktion und Distribution, haushalten mit den Kräften des Volkes, Vermeidung jedes überflüssigen Kraftaufwands, sparsames umgehen mit den Kräften«.
Die heute herrschende Klasse hat den Weg auf Weltebene schon geebnet:
»Hätte unser Staat die Kontrolle wirklich ernsthaft und sachlich durchführen wollen [es handelt sich aber hier um eine von vornherein ausgeschlossenen Hypothese und gerade deswegen ist die revolutionäre Machteroberung unerlässlich] (…), so hätte der Staat nur mit beiden Händen aus dem überaus reichen Vorrat an schon bekannten, schon angewandten Kontrollmassnahmen zu schöpfen brauchen.«[16].

Es ist keine technische Schwierigkeit, die sich hier dagegen stellt, sondern eine gesellschaftliche, eine Klassenschwierigkeit. Dieser Staat, dem keinerlei Kontrolle gelingt, der sie nicht ausüben kann und auch nicht ausüben will, ist genauso wenig in der Lage, mit dem Proletariat und den armen Bauern, die ihn unterstützen, fertigzuwerden. Die »Doppelherrschaft« taucht wieder auf, aber in einer anders gelagerten, auf höherer Ebene stehenden Form: entweder Festigung der Diktatur der Bourgeoisie oder Diktatur des Proletariats. Wenn im September 1917 Arbeiterkontrolle gesagt wird, dann heisst das unmissverständlich revolutionäre Machteroberung und Ausübung der Diktatur! In der Tat:
»Nur die Diktatur der Proletarier und armen Bauern ist imstande, den Widerstand der Kapitalisten zu brechen, mit wahrhaft grossartiger Kühnheit und Entschlossenheit die Macht auszuüben und sich die begeisterte, rückhaltlose, wahrhaft heroische Unterstützung der Massen sowohl in der Armee wie in der Bauernschaft zu sichern. (…) Die Macht den Sowjets, das bedeutet den vollständigen Übergang der Verwaltung des Landes und der Kontrolle über seine Wirtschaft an die Arbeiter und Bauern (von uns hervorgehoben), (…), die durch die Erfahrung rasch lernen würden, durch die eigene Praxis lernen würden, den Grund und Boden, die Produkte und das Brot richtig zu verteilen«[17].

Der Boden, der das »Manifest der Kommunistischen Partei« von 1848 mit der Oktoberrevolution von 1917 verbindet, ist dabei, sich genauso zu schliessen, wie Marx und Engels es vorausgesehen hatten: mit dem politischen Sieg – Bildung des Proletariats zur herrschenden Klasse – als Vorbedingung für die »despotischen Eingriffe« in die Wirtschaft und in die Eigentumsverhältnisse. Einen Monat vor dem Oktober schreibt Lenin:
»Infolge einer Reihe historischer Ursachen: der grösseren Rückständigkeit Russlands, der ihm durch den Krieg verursachten besonderen Schwierigkeiten, der weit vorangeschrittenen Fäulnis des Zarismus und der ausserordentlich lebendigen Tradition des Jahres 1905, ist in Russland die Revolution früher als in anderen Ländern ausgebrochen. Die Revolution bewirkte, dass Russland in einigen Monaten seinem politischen System nach die fortgeschrittenen Länder eingeholt hat.«
»Aber das ist zuwenig. Der Krieg ist unerbittlich, er stellt mit schonungsloser Schärfe die Frage: entweder untergehen oder die fortgeschrittenen Länder auch ökonomisch einholen und überholen. (…) Die Kadetten frohlocken schadenfroh: nun habe die Revolution Schiffbruch erlitten, die Revolution sei mit dem Krieg wie mit der Zerrüttung nicht fertig geworden.«
»Das ist nicht wahr. Schiffbruch erlitten haben die Kadetten und die Sozialrevolutionäre samt den Menschewiki, denn dieser Block (dieses Bündnis) hat Russland ein halbes Jahr lang regiert, hat in diesem halben Jahr die Zerrüttung verstärkt und die militärische Lage verwirrt und erschwert.«
»Je vollständiger der Zusammenbruch des Bündnisses der Bourgeoisie mit den Sozialrevolutionären und Menschewiki ist, desto schneller wird das Volk lernen. Desto leichter wird es den richtigen Ausweg finden: das Bündnis der armen Bauernschaft, das heisst der Mehrheit der Bauern, mit dem Proletariat.«[18].

Das wird der Oktober sein. Und durch ihn, einzig und allein durch ihn, wird die »Arbeiterkontrolle« kommen: vorausgesehen – und eingetroffen.

Wir glauben, gezeigt zu haben, dass sich für Lenin in der Zeit von April bis September die Perspektive hinsichtlich der beabsichtigten Möglichkeit des »friedlichen« Übergangs der Macht an die Sowjets, d. h. eines Übergangs, der von keiner realen Kraft ernsthaft behindert wird, dass sich diese Perspektive ändert und der erkannten Notwendigkeit der proletarischen Machteroberung weicht, ob nun die »heutigen« Sowjets sofort mitmachen oder nicht. Genauso haben wir gezeigt, dass sich damit nichts am Inhalt der Losungen ändert, die die Wirtschaftsmassnahmen zusammenfassen, die die neue Macht – und nur sie wird es tun können – treffen muss. Unter diese Massnahmen fällt auch die Arbeiterkontrolle über die Industrie, die von der Partei als Losung ausgegeben wird, denn sie weiss, wie die Massen unter dem herrschenden Hunger und der Wirtschaftszerrüttung für diese Losung empfänglich sind. Die Partei wird aber nie verschweigen, dass die Verwirklichung der Arbeiterkontrolle die vollständige Machtübernahme voraussetzt.

Lenin verschweigt weder, dass diese Massnahmen von einer Notsituation diktiert werden und sogar die allgemeinen Ziele der Umwandlung der russischen Gesellschaft unberücksichtigt lassen, noch die Tatsache, dass sie keineswegs mit der »Einführung des Sozialismus« gleichzusetzen sind. Sie sind jedoch Schritte in diese Richtung, die alle Massnahmen zur Disziplinierung der Produktion, die sogar von den entwickelten kapitalistischen Ländern ohne Zögern vorgenommen werden, auch wenn diese es selbstverständlich im Interesse der Bewahrung der eigenen Klassenherrschaft tun, während es der revolutionären Partei darum geht, sie in den Dienst der Interessen des »Volkes« zu stellen (das heisst nicht nur in den Dienst der Interessen der Proletarier sondern auch der Bauern). Es stimmt, dass sie Revolution, auf die Lenin seit September und während des ganzen Oktobers drängt, politisch proletarisch sein wird, da an ihrer Spitze das Proletariat stehen und die kommunistische Partei die Hauptrolle spielen wird. Das ist aber nicht alles: die despotischen Eingriffe in die Wirtschaft werden die Fesseln des zaristisch-feudalen Regimes und die bürokratischen Hindernisse für die Entwicklung der Produktivkräfte sprengen und somit die Grundlagen für jene sozialistische Umwälzung schaffen, die aber nur infolge einer proletarischen Revolution in Europa (zumindest) möglich sein wird.

Obwohl sie den Rahmen der kapitalistischen Produktionsweise nicht überschreiten, die sie vielmehr – soweit vorhanden – vor der totalen Zerrüttung bewahren und – soweit im Entstehen begriffen – nachträglich vorwärtstreiben, bedeuten diese Massnahmen in diesem Sinne bereits eine Etappe des Weges zum Sozialismus. Sie tendieren dahin, einen monopolistischen Staatskapitalismus zu errichten. Aber schreibt Lenin in »Die drohende Katastrophe und wie man sie bekämpfen soll«:
»Der imperialistischen Krieg ist der Vorabend der sozialistischen Revolution. Und das nicht nur deshalb, weil der Krieg mit seinen Schrecken den proletarischen Aufstand erzeugt – keinerlei Aufstand kann den Sozialismus schaffen, wenn er nicht ökonomisch herangereift ist –, sondern deshalb, weil der staatsmonopolistische Kapitalismus die vollständige materielle Vorbereitung des Sozialismus, seine unmittelbare Vorstufe ist, denn auf der historischen Stufenleiter gibt es zwischen dieser Stufe und derjenigen, die Sozialismus heisst, keinerlei Zwischenstufen mehr[19]

Auf diesen Punkt werden wir noch zurückkommen. Wichtig ist hier nur, zwei Sachen zu unterstreichen:

1.) Die Grösse der Perspektive Lenins in der entscheidenden Periode von April bis Oktober (die übrigens die Widerspiegelung der vor mehr als zwölf Jahren klar angegeben Perspektive ist) zeigt sich schon in der Tatsache, dass eine so bescheidene Massnahme wie die Kontrolle über die Industrie in den Mittelpunkt der Massnahmen der Sowjetmacht und der proletarischen Diktatur gestellt wird – als unlösbares Bindeglied zwischen den unmittelbaren Bedürfnissen der grossen werktätigen Massen und dem ebenso deterministisch durch die Entwicklung der russischen und Weltsituation aufgezwungenen Ziel der Machteroberung. Nach der Februarrevolution war der Produktionsapparat fast völlig lahmgelegt, und in der Phase der »Doppelherrschaft« versuchten die Arbeiter spontan ihn wieder in Gang zu setzen, übrigens ohne Widerstand der Unternehmer (was ein weiterer Beweis dafür ist, dass man theoretisch die Macht hätte »friedlich« erobern können). Die Situation wurde vom Bolschewiki Arsky in einem am 03. 01. 1920 im »Ordine Nuovo« erschienenen Artikel gut beschrieben:
»Die Arbeitslosigkeit stieg an und der Produktionsapparat musste darunter leiden. Nach der Februarrevolution bilden sich Betriebsräte, deren erste Aufgabe darin bestand, jeden Betrieb mit dem notwendigsten zu versorgen. Vor allem musste man Brennstoff an die Betriebe verteilen, damit ihre Tätigkeit aufrechterhalten bleiben konnte. (…) Die Betriebsräte fungierten als Verwalter und waren dabei sehr erfolgreich, aber im Bereich der Produktion mussten sie sich vor den Unternehmern zurückziehen, wie sie es auf politischer Ebene vor der Bourgeoisie tun mussten. (…) Trotz der Arbeitszeitverkürzung, stieg die Produktion, solange nicht die Rohstoffe ausgingen«.

Andererseits reicht die Versorgung allein nicht aus: man musste eine Inventur des Brennstoffs und der Rohstoffe im allgemeinen vornehmen, um nach einem systematischen Plan arbeiten zu können.
»Die Betriebsräte machten eine Bestandsaufnahme aller Lagerbestände der Betriebe und fassten die Zahlen in den regionalen Sowjets zusammen (…). Diese erste Untersuchung der Arbeiter wurde nicht ernsthaft durch die Unternehmer gestört, vielmehr befürworteten sie sie«,
hätten sie allein ja nicht die Kraft, sie bis zum Ende durchzuführen. Die wirtschaftliche Zerrüttung wurde trotzdem nicht angehalten. Von Februar bis Oktober schlossen gut 850 Fabriken und
»vor dieser Sabotage standen die Arbeiter völlig hilflos da. Sie wandten sich an die zuständigen Behörden, an die Wirtschaftsräte, und enthüllten Ursprung und Natur der entstandenen Lage, aber das führte zu nichts. Die Beziehungen wurden immer gespannter, und in der Zeit der Oktoberrevolution drohte einerseits die Aussperrung, andererseits zeichnete sich die Möglichkeit eines offenen Kampfes um Leben und Tod ab«.

Wie in den ersten Monaten die Tatsachen selbst die Arbeiter dazu führten, die Notwendigkeit der »Kontrolle« einzusehen, so waren es gegen Oktober die Tatsachen, die ein entscheidendes Einschreiten notwendig machten. Während die provisorische Regierung ihre Delegierten in die Industriebezirke schickte und ihnen erlaubte
»auf militärische Gewalt zurückzugreifen, um die Arbeiterbewegung zu vernichten«,
begannen die Arbeiter sich der Tatsache bewusst zu werden, dass das Problem der Kontrolle, genau wie die Bolschewiki schrieben und verkündeten, nicht gelöst werden konnte, solange die Bourgeoisie
»nicht in einem offenen Kampf geschlagen würde, solange die Revolution nicht in die absolute Diktatur des Proletariats mündete, solange die Arbeiter sich nicht entschliessen würden, diesen Sieg mit einer ihren Zielen entsprechenden Gesetzgebung zu festigen«.
Hier konvergieren die »unmittelbaren Erfahrungen der Massen« – nämlich dass die Situation unmöglich zu kontrollieren ist – und die Direktiven der Partei, und das macht den Oktober möglich und notwendig. Aus dieser erkannten (und von Lenin im Voraus erklärten) Unmöglichkeit der Kontrolle ohne vorhergehende Machteroberung – wenn auch nicht nur aus ihr – entfesselt sich der revolutionäre Kampf um die Macht. Die riesige Kraft der Partei des roten Oktobers liegt darin, dass sie »die Wahrheit gesagt hatte«, lange bevor die Arbeiter diese Wahrheit erfuhren.

2.) Diese selbe Kraft zeigt sich auch darin, dass die Partei nach der Machteroberung die wirtschaftlichen Notstandsmassnahmen sofort in die Tat umsetzt, die sie von Anfang an angekündigt hatte: nachdem sie »die Wahrheit gesagt hat«, verwirklicht sie sie. Das erste Dekret über die Arbeiterkontrolle wird acht Tage nach der Eroberung der Staatsmacht erlassen, nach dem der Sowjet der Arbeiter- und Soldatendeputierten von Petrograd am 26. Oktober beschlossen hatte:
»Die neue Arbeiter- und Bauernregierung (…) wird sofort das Eigentum der Gutsbesitzer an Grund und Boden aufheben und den Boden der Bauernschaft übergeben. Sie wird die Arbeiterkontrolle über die Produktion und Verteilung der Produkte sowie die allgemeine Kontrolle des Volkes über die Banken einführen und diese gleichzeitig in ein einziges Staatsunternehmen umwandeln.«[20].

Am 21. November, im »Schlusswort zur Agrarfrage« auf dem ausserordentlichen gesamtrussischen Kongress der Sowjets der Bauerndeputierten, betont Lenin:
»Die Ausübung des privaten Grundeigentums, die Einführung der Arbeiterkontrolle, die Rationalisierung der Banken (…): das ist noch nicht Sozialismus, aber das sind Massnahmen, die uns mit Riesenschritten zum Sozialismus bringen. Wir versprechen den Bauern und den Arbeitern nicht sofort ein Land, darin Milch und Honig fliesst, doch wir sagen: das enge Bündnis der Arbeiter und ausgebeuteten Bauern, der harte, unbeugsame Kampf für die Sowjetmacht führt uns zum Sozialismus« (von uns hervorgehoben)[21],
und das ist es, was uns erlaubt, eine Revolution sozialistisch zu nennen, die dennoch nicht im Stande ist, die Wirtschaft zu sozialisieren.

Wie alle »ausserordentlichen revolutionären Massnahmen«, die von der Notwendigkeit diktiert werden,
»die kritische Lage in der Lebensmittelversorgung, die Gefahr einer Hungersnot, die durch die Spekulation, die Sabotage der Kapitalisten und Beamten sowie durch die allgemeine Zerrüttung heraufbeschworen wurde«[22],
zu bekämpfen, schafft
»die Arbeiterkontrolle über die Herstellung, die Lagerung und den Kauf und Verkauf aller Produkte und Rohstoffe«, die »von allen Arbeitern und Angestellten« (…) »in allen Industrie-, Handel-, Banken-, landwirtschaftlichen und sonstigen Betrieben mit (insgesamt) nicht weniger als fünf Arbeitern und Angestellten oder mit einem Jahresumsatz von nicht weniger als 10 000 Rubel« (…), »entweder unmittelbar (…) oder von ihren gewählten Vertretern (…) durchgeführt wird«, das Privateigentum an Produktionsmitteln nicht ab. Ausser mit »Erlaubnis der gewählten Vertreter« wird die Arbeiterkontrolle durchgeführt, um die Stillegung eines Betriebes oder eines Produktionszweiges, »der staatliche Bedeutung hat«, so wie »irgendwelche Änderungen in seiner Tätigkeit« zu verhindern. Zu diesem Zweck »muss diesen gewählten Vertretern die Einsicht in ausnahmslos alle Bücher und Dokumente, ebenso die Prüfung ausnahmslos aller Lager und Vorräte an Materialien, Werkzeugen und Produkten ermöglicht werden«. Sie tragen zusammen mit »allen Besitzern (…) dem Staate gegenüber die Verantwortung für die strengste Ordnung und Disziplin und für den Schutz der Vermögenswerte«. Andererseits »sind [ihre] Beschlüsse (…) für die Besitzer der Betriebe verbindlich und können nur durch die Gewerkschaftsverbände und -kongresse aufgehoben werden.«[23].

In »Die nächsten Aufgaben der Sowjetmacht« vom März/April 1918 zeigt Lenin wieder offen die Schwierigkeiten auf und vernichtet demagogische Phrasen und Illusionen:

»Die Arbeiterkontrolle ist bei uns Gesetz geworden, aber ins Leben und selbst ins Bewusstsein der breiten Massen des Proletariats beginnt sie gerade eben erst einzudringen. Dass das Fehlen einer Rechnungsführung und Kontrolle in der Produktion und Verteilung der Produkte die Keime des Sozialismus vernichtet, Diebstahl an Staatseigentum ist (denn aller Besitz gehört dem Staat, der Staat aber ist Sowjetmacht, die Macht der Mehrheit der Werktätigen), dass Nachlässigkeit in der Rechnungsführung und Kontrolle direkt den deutschen und russischen Kornilow Vorschub leistet, die die Macht der Werktätigen nur dann stürzen können, wenn wir die Aufgabe der Rechnungsführung und Kontrolle nicht bewältigen, und die mit Hilfe der gesamten bäuerlichen Bourgeoisie, mit Hilfe der Kadetten, der Menschewiki, der rechten Sozialrevolutionäre uns »auflauern«, den geeigneten Augenblick abwarten – davon sprechen wir nicht genug in unserer Agitation, daran denken und davon sprechen die fortgeschrittenen Arbeiter und Bauern nicht genug. Solange aber die Arbeiterkontrolle nicht zur Tatsache geworden ist, solange die fortgeschrittenen Arbeiter nicht den siegreichen und schonungslosen Feldzug gegen diejenigen eingeleitet und durchgeführt haben, die diese Kontrolle hintertreiben oder sich um sie nicht kümmern – solange kann man nicht nach dem ersten Schritt (der Arbeiterkontrolle) den zweiten Schritt zum Sozialismus machen [in Richtung zum Sozialismus, und nicht Einführung des Sozialismus!], das heisst zur Regulierung der Produktion durch die Arbeiter übergehen.« (von uns hervorgehoben)[24].

Gezeigt zu haben, dass der Kampf auch noch nach der Machtübernahme weitergeht, war nur ein erster Schritt, und vielen Arbeitern unangenehm, die sich in der Illusion wogen, entweder bereits »im Sozialismus« zu sein, oder es für »Sozialismus« hielten, dass die Fabrik, in der sie arbeiteten, in Gemeineigentum übergegangen war, oder dass sie sie schliesslich wie eine Einzeleinheit verwalten könnten. Die eigene Erfahrung wird den Arbeitern die Notwendigkeit des folgenden Schrittes zeigen, eines Schrittes, den Lenin schon 1918 vorausgesehen hatte und der auf dem VIII. Kongress der Partei im März 1919 angenommen wurde. Hierbei handelte es sich, um mit den Worten Bucharins aus einem Artikel, der bereits erwähnten Nummer des »Ordine Nuovo« zu sprechen, um die Frage der »Leitung der von den Arbeitern verwalteten Betriebe« nach ihrer Verstaatlichung. Arbeiterverwaltung bedeutet nicht, dass die Arbeiter einer Fabrik gemeinsam Verwalter geschweige Besitzer dieser Fabrik werden.
»Würde man tatsächlich zu einer solchen Situation gelangen – schreibt Bucharin weiter –, in der jede Fabrik ausschliessliches Eigentum ihrer Belegschaft allein wäre, würden die verschiedenen Fabriken tendenziell miteinander konkurrieren. Jede würde sich anstrengen, mehr als die andere zu verdienen, jede würde um die Kunden der anderen Fabriken werben, die Arbeiter der einen würden zugrundegehen, während die der anderen reich werden«.
Also ist das Privateigentum (oder das kollektive aber isolierte Eigentum) an den Fabriken allgemein aufgehoben, und die Verwaltung wird der Belegschaft und den Delegierten der Gewerkschaft, der Sowjets und des von der Partei kontrollierten regionalen Wirtschaftsrates gemeinsam anvertraut:
»So wird nicht nur die politische, sondern auch die wirtschaftliche und gesellschaftliche Diktatur des Proletariats verwirklicht werden«. (Der Satz ist zwar missverständlich, der Sinn jedoch klar: die Gesamtheit der Produktion steht unter der direkten Kontrolle des Sowjetstaates, der proletarischen Diktatur, und dient den politischen Zielen, auch wenn Lohn- und Marktverhältnisse weiter bestehen. Die »Selbstverwaltung« tendierte dahin, die Anarchie wieder zu schaffen, gegen die die Kontrolle eingerichtet wurde: daher die Notwendigkeit des »neuen Schrittes auf den Sozialismus hin« und dann noch andere Massnahmen (die zentrale Planung usw.)). Das führt uns aber über das Thema dieser Artikelreihe weit hinaus.

Lenins Position geht also mit wunderbarer Klarheit und Einsicht aus seinen Erklärungen und den Parteidirektiven aus der Periode von April bis Oktober 1917 und unmittelbar danach hervor und wir sind der Ansicht, dass seine Position eine Reihe von nützlichen Überlegungen zwingend macht:

1.) Die Arbeiterkontrolle über die Produktion – die von einer »Bestandsaufnahme« der verfügbaren Mittel und von einer Disziplinierung ihrer Anwendung und Verteilung in den verschiedenen Produktionsbranchen und im Hinblick auf den Verbrauch untrennbar ist – setzt für Lenin revolutionäre Machteroberung voraus. Es handelt sich mit anderen Worten um eine Frage, die erst gelöst werden kann, wenn die ausschlaggebende Frage des Staates in der Tat gelöst ist. Sowohl als allgemeine Richtlinie als auch als Kampfparole führt die »Arbeiterkontrolle« zu dem richtig verstandenen »Übergangsprogramm«, d. h. zu der Vorwegnahme der Massnahmen, die die Diktatur des Proletariats – und nicht irgendeine »Regierung« oder »Arbeiterregierung« als Verwalter eines noch nicht zerstörten bürgerlichen Staates – notwendigerweise im Laufe ihrer »despotischen Eingriffe« in die Wirtschaft und somit auch in die »Eigentumsverhältnisse« treffen wird. Lenin hat die »Arbeiterkontrolle« niemals getrennt von der Forderung nach vollständiger Machteroberung und vollständiger Machtausübung agitiert. Als hundertprozentiger Marxist duldet er nicht einmal, dass man die Vermutung aufkommen lässt, dass es sich bei der »Arbeiterkontrolle« um einen Zauberschlüssel handelt, mit dem man ohne politische Revolution die Tür zu einer neuen Gesellschaft öffnen könnte, oder mit dem man diese Revolution machen könnte… ohne es zu sagen.

2.) Damit wird die Möglichkeit ausgeschlossen, dass in Phasen von hoher sozialer Spannung und von entscheidendem Klassenkampf Basisorganisationen der Arbeiter (Bezirks-, Betriebs- oder nationale Organisationen) auf der Welle günstiger Kräfteverhältnisse bis zu einem bestimmten Grad eine direkte oder indirekte Kontrolle über die Produktion (und ohnehin über den Arbeitsmarkt) ausüben könnten wie es in Russland der Fall war, also dass sie den herrschenden Klassen die gesellschaftliche Kontrolle streitig machen. Dann ist man aber in einer Phase der »Doppelherrschaft«, wo das schwankende Gleichgewicht der Kräfte – wovon eine solche Kontrolle die Widerspiegelung darstellt – früher oder später und auf jeden Fall äusserst kurzfristig zusammenbrechen wird, sei es durch die Vorherrschaft der proletarischen Seite und somit durch den Sturz der bürgerlichen Macht, sei es durch die Zusammenfassung der ganzen Macht erneut in den Händen der Bourgeoisie. Nur und ausschliesslich im ersten Fall verliert die Kontrolle ihren unzulänglichen, beschränkten, unbeugsamen Charakter, um allgemein, durchdringend, wirksam, kurzum despotisch totalitär zu werden. Im zweiten Fall wird sie entweder von der konterrevolutionären Welle geschluckt, oder mit der Unterstützung des Opportunismus als »Selbsterhaltungsmittel« der kapitalistischen Herrschaft erhalten. Gerade darauf hat Lenin unentwegt hingewiesen: weder für ihn noch für die Partei geht es darum, den ursprünglichen, instinktiven Drang der Arbeitermassen zur Kontrolle der Industrie abstrakt und aus Prinzip zu verdammen oder in die eigenen unmittelbaren Aktionsrichtlinien einzuführen, sondern darum, sich auf diese materiell gegebene Bewegung zu stützen, um sie zu beeinflussen, oder besser um sie in einen offenen Kampf um die Macht umzukehren, und dies auf der Grundlage der durch die Massen erkannten und durch die Partei im Voraus erklärten Unmöglichkeit, die Kontrolle ohne siegreichen Ausgang dieses Kampfes auszuüben. Nicht die Kontrolle an sich, sondern der Kampf für die Kontrolle ist in dieser Phase revolutionär, schrieb damals die Kommunistische Linke Italiens in »Il Soviet« vom 11. November 1920, und revolutionär – versteht sich –, weil die Partei die »Funken des sozialistischen Bewusstseins«, die jedem breiten und heftigen Arbeiterkampf entsprechen, als Hebel einzusetzen wusste, um dem Kampf eine politische Richtung zu geben.

Wenn man eine andere Auffassung vertritt, hat der Opportunismus (wie es nach dem Ersten Weltkrieg der Fall war) freie Bahn, um die Parole der »Arbeiterkontrolle« mit konterrevolutionären Zwecken sich zu eigen zu machen, und die Bourgeoisie kann die Kontrolle »gewähren« (und mit Recht!). »Bitte sehr, kontrolliere mich, ich aber werde die Kanonen haben. Werde du satt durch die Kontrolle« (und wer die Waffen hat, hat die Macht).

3.) Bei Lenin wird nicht geduldet, dass die Arbeiterkontrolle idealisiert oder verabsolutiert wird. Das, woran sich einige als an einer Form von »direkter Demokratie« ergötzen, ist in Lenins dialektischer Auffassung nicht anderes als eine Episode des Bürgerkrieges. Dieser Krieg erfordert höchste Zentralisierung, breitet sich aber gleichzeitig über die ganze Gesellschaft aus, erfasst alle Formen des Zusammenstosses zwischen den Klassen und zieht sogar im engsten lokalen Rahmen die grossen Arbeitermassen hinein. Genau gesehen ist der Bürgerkrieg eine einzige riesige Anstrengung der früher beherrschten Klasse, um die früher herrschende und immer noch angriffsbereite Klasse zu kontrollieren. Der Bürgerkrieg verlangt vom Arbeiter nicht nur, dass er sein Gewehr gegen die physischen Repräsentanten dieser Klasse verwendet (und das ist ein rasches und souveränes, wenn auch nicht zu verallgemeinerndes Mittel,… sie zu kontrollieren) sondern auch – und das ist nicht wenig – dass er davon Gebrauch macht, um sie daran zu hindern, die Wiederinstandsetzung der Produktion zu sabotieren, oder ggf. um ihre Hilfe zu erzwingen, oder noch allgemeiner gesagt, um einen sich sperrenden und zerrütteten Wirtschaftsapparat einer erzwungenen Disziplin zu unterwerfen.

Das ist mehr eine politische als eine wirtschaftlich Aufgabe. Es geht darum, die Macht zu behalten und die materiellen Bedingungen hierfür zu sichern. In diesem Sinne ist die Arbeiterkontrolle über die Produktion eine Kriegshandlung: sie war es in der doppelten Revolution in Russland, wo es, wie Lenin wiederholte, unmittelbar lediglich darum ging, gegen die drohende Katastrophe zu kämpfen, und dafür ein System der Kontrolle und Bestandsaufnahme einzurichten, dass mindestens auf der Höhe der entsprechenden Selbsterhaltungsmassnahmen der fortgeschrittensten bürgerlichen Staaten im Krieg stünde, um dieses System einer noch privat verwalteten (und im privaten Besitz stehenden) Industrie aufzuzwingen. Sie wird es aber auch in einer »rein« proletarischen Revolution sein und zwar in zwei qualitativ verschiedenen Formen, entsprechend den (im grossen und ganzen) zwei Hauptsphären der Wirtschaftsorganisation:
a) in der Grossindustrie und den grossen landwirtschaftlichen Betrieben, wo man unmittelbar auf eine staatliche Verwaltung (und tendenziell auf eine gesellschaftliche Verwaltung) übergehen kann, wird die Arbeiterkontrolle ein Bestandteil dieser staatlichen Leitung sein, zumal letztere am Anfang von einer Form von Arbeiterkontrolle nicht zu trennen sein wird, da es sich ja vor allem darum handelt, vom Kapitalismus geerbte Menschen und Apparate einzusetzen;
b) in der breiten und in verschiedenen Ländern heute noch enorm verzweigten Sphäre der mittleren und kleinen Betriebe (vor allem, aber nicht nur, in der Landwirtschaft) und der noch marktwirtschaftlichen Tauschverhältnisse zwischen diesen unzähligen kleinen Betrieben auf dem Lande und der Stadt (und hier ist die Kontrolle über »Wucherer, Spekulanten und Gauner« ein Leichtes im Vergleich zu den Aufgaben gegenüber der historischen Trägheit der Einmann-, Familien- oder auch Genossenschaftsbetriebe) wird die Arbeiterkontrolle einen ersten Schritt auf dem langen und komplizierten Weg darstellen, der zur gesellschaftlichen und planmässigen Verwaltung führen soll.

4.) Daraus ergibt sich auch, wie Lenin es tausendmal wiederholt hat, dass die Arbeiterkontrolle in ihren verschiedenen und stufenweise höhergehenden Formen eine Notmassnahme darstellt, und keineswegs ein »Ideal« oder »Modell«. Man kann sie nicht auffassen, als könnte sie in ihrer ersten Elementarform – zerstreut, lokal, gewissermassen »zentrifugal« (mit allen Illusionen von »direkter Demokratie«, die ihr anhaften und auf ihrer Grundlage blühen) – fortdauern. Wir haben ja gesehen, wie sie dazu bestimmt ist, bald einer einheitlichen, zentralen und planmässigen Kontrolle im Interesse der Gesamtheit und in der Perspektive einer allgemeinen gesellschaftlichen Verwaltung Platz zu machen, was ihren Charakter von Massenbeteiligung und Massenerfahrung keineswegs vernichtet, sondern höchstens auf eine höhere Ebene bringt, wie Lenin es auch tausendmal wiederholt. Dieser Übergang wird sich mit um so grösserer Dringlichkeit aufzwingen, wenn der Bürgerkrieg zu einem offenen Krieg zwischen zwei Armeen wird, wenn er sich in Zeit und Raum verbreitet und härter wird. Die Zitate von Bucharin zeigen – dasselbe kann man aber mit dramatischer Schärfe in allen Schriften und Reden Lenins aus den Jahren 1918 und 1919 und in den Parteibeschlüssen nachlesen –, welcher Widerstand die bolschewistische Partei sogar in ihren eigenen Reihen zu überwinden hatte, um zu verhindern, dass das, was am Anfang eine grosse Kraft dargestellt hatte – nämlich der Drang der Arbeiterklasse »die Sache in ihre eigenen Hände zu nehmen« –, sich in eine Schwäche verwandelt; welcher Kampf erforderlich war, um die Illusionen über die Kontrolle als Brücke zu einer direkten, molekularen und geradezu atomisierten und autonomistischen Verwaltung zu zerstreuen, sowie um im Gegenteil Produktion und Verteilung den Normen und grundsätzlichen Richtlinien einer zentral organisierten und geleiteten Verwaltung unterzuordnen.

Noch weniger ist die »Arbeiterkontrolle« eine Vorwegnahme der wirtschaftlichen und sozialen Ordnung der kommunistischen Produktionsweise, und das nicht nur, weil der Kommunismus überhaupt keine Verwirklichung irgendeines abstrakten »Modells« ist, sondern vor allem, weil er die kapitalistische Produktionsweise mit ihrer Struktur aus geschlossenen Produktionseinheiten, die nur durch den Markt (als Kontaktfläche, aber vielmehr als Schlachtfeld) miteinander verbunden sind, keineswegs zu wiederholen, sondern zu vernichten hat.
»Betriebe zu führen ist kein Sozialismus. Sozialismus heisst, eine Produktion zu erreichen, die nicht vom einzelnen Betrieb ausgeht«,
liest man in unserer »Struttura economica e sociale della Russia d’oggi«,
»und das ist eine langfristige und weltweite Aufgabe«.

Das sind zwei prinzipielle Punkte der marxistischen Lehre, die die immediatistische, ouvrieristische und gramscistische Ideologie ins Herz treffen, und denen man eine besondere Untersuchung – die den Rahmen des kurzen Artikels sprengen würde – widmen sollte.

Anmerkungen:[25]
[prev.] [content] [end]

  1. Lenin, »Womit beginnen?«, »Lenin, Werke« (LW), Band 5, Seite 7, Dietz-Verlag 1973. [⤒]

  2. siehe »Römer Thesen« (1922) in »Defense de la continuité du programme communiste«, Editions Programe Communiste, S. 27 [Im Januar 1977 in »Kommunistisches Programm« unter dem eigentlichen Titel »Thesen über die Taktik der Kommunistischen Partei Italiens« erschienen. (sinistra.net)][⤒]

  3. Lenin, »Briefe über die Taktik«, 8. bis 13. (21. und 26.) April 1917, in: LW, Band 24, Seite 33. Derselbe Gedanke ist selbstverständlich auch in den »Aprilthesen« (LW, Band 24, S. 1–8) enthalten. [⤒]

  4. Lenin, »Die Aufgaben des Proletariats in unserer Revolution«, LW, Band 24, Seite 45. [⤒]

  5. Lenin, »Die Parteien in Russland und die Aufgaben des Proletariats«, Anfang April 1917, LW, Band 24, Seite 85. [⤒]

  6. Die Idee der Einführung des »Sozialismus« in Russland ist »ein Unsinn«, sagt Lenin: es geht weniger darum – für den Augenblick –, die materiellen Grundlagen des Sozialismus zu legen, als um »die Heilung der Wunden die der Krieg geschlagen hat, und die Verhütung des drohenden Zusammenbruchs«, durch jene Reihe von Massnahmen, »die durchaus nicht die »Einführung« des Sozialismus bedeuten« und »die nur Schritte zum Sozialismus und ökonomisch durchaus durchführbar sind«. (Lenin, »Die Aufgaben des Proletariats in unserer Revolution«, LW, Band 24, Seite 59). [⤒]

  7. Lenin, »Resolution über die ökonomischen Kampfmassnahmen gegen die Zerrüttung«, LW, Band 24, Seite 518. [⤒]

  8. Lenin, »Referat zur politischen Lage« (»Siebente gesamtrussische Konferenz der SDAPR (B)«, Aprilkonferenz), vom 24. bis 29. April (7. bis 12. Mai) 1917), in: LW, Band 24, Seite 230. [⤒]

  9. Lenin, »Rede über die Stellung zur provisorischen Regierung«, (»Siebente gesamtrussische Konferenz der SDAPR (B)«, Aprilkonferenz), vom 24. bis 29. April (7. bis 12. Mai) 1917), in: LW, Band 24, Seite 23. [⤒]

  10. Lenin, »Zu den Losungen«, LW, Band 25, Seite 182. [⤒]

  11. Lenin, »Zu den Losungen«, LW, Band 25, Seite 186, 183, 187. [⤒]

  12. Lenin, »Die politische Lage«, 23. (10.) Juli 1917, LW, Band 25, Seite 176. [⤒]

  13. Lenin, »Zu den Losungen«, LW, Band 25, Seite 188. [⤒]

  14. Internationale Kommunistische Partei (IKP), »Struttura economica e sociale della Russia d’oggi« (»Wirtschafts- und Gesellschaftsstruktur des heutigen Russlands«), in: »Il Programma Comunista«, Mailand, 1955 bis 1957. [⤒]

  15. Lenin, »Werden die Bolschewiki die Staatsmacht behaupten?«, LW, Band 26, Seite 88, 89, 91. [⤒]

  16. Lenin, »Die drohende Katastrophe und wie man sie bekämpfen soll«, LW, Band 25, Seite 332, 337. [⤒]

  17. Lenin, »Eine der Kernfragen der Revolution«, LW, Band 25, Seite 386. [⤒]

  18. Lenin, »Die drohende Katastrophe und wie man sie bekämpfen soll«, LW, Band 25, Seite 375,377. [⤒]

  19. Lenin, »Die drohende Katastrophe und wie man sie bekämpfen soll«, LW, Band 25, Seite 370. [⤒]

  20. Lenin, »Resolution«, LW, Band 26, Seite 230. [⤒]

  21. Lenin, »Schlusswort zur Agrarfrage – 18. November (1. Dezember)«, [Zeitungsbericht der «Prawda»], LW, Band 26, Seite 326. [⤒]

  22. Lenin, »Entwurf eines Dekrets über die Durchführung der Nationalisierung der Banken und über die im Zusammenhang damit erforderlichen Massnahmen«, LW, Band 26, Seite 389. [⤒]

  23. Lenin, »Entwurf von Bestimmungen über die Arbeiterkontrolle«, LW, Band 26, Seite 267, 268. Im Artikel »Wie soll man den Wettbewerb organisieren?« vom 25. bis 28. Dezember 1917, schreibt Lenin und hebt den engen Zusammenhang zwischen Kampf gegen Verschwendung und Zerstörung der Produktivkräfte und den Kampf für den Sozialismus hervor:
    »Nur durch die freiwillige und gewissenhafte, mit revolutionären Enthusiasmus geleistete Mitarbeit der Massen der Arbeiter und Bauern an der Rechnungsführung und Kontrolle über die Reichen, die Gauner, die Müssiggänger und Rowdies ist es möglich, diese Überbleibsel der fluchbeladenen kapitalistischen Gesellschaft, diesen Auswurf der Menschheit, diese rettungslos verfaulten und verkommenen Elemente, diese Seuche, diese Pest, diese Eiterbeule zu besiegen, die der Kapitalismus dem Sozialismus als Erbschaft hinterlassen hat.«
    »Arbeiter und Bauern! Werktätige und Ausgebeutete! Der Grund und Boden, die Banken, die Fabriken, die Werke sind Eigentum des ganzen Volkes geworden! Nehmt selbst die Rechnungsführung und Kontrolle über die Produktion und die Verteilung der Produkte in die Hand – darin und nur darin liegt der Weg zum Sieg des Sozialismus, die Bürgschaft für seinen Sieg, die Bürgschaft für den Sieg über jede Ausbeutung, über Not und Elend! Denn in Russland ist genug Getreide, Eisen, Holz, Wolle, Baumwolle und Flachs für alle da. Man muss nur die Arbeit und die Erzeugnisse richtig verteilen, man muss eine allgemeine sachliche, praktische Kontrolle des ganzen Volkes über diese Verteilung einführen und nicht nur in der Politik, sondern auch im täglichen wirtschaftlichen Leben die Volksfeinde, die Reichen und ihre Kostgänger, sodann die Gauner, Müssiggänger und Rowdies besiegen.« (Lenin, LW, Band 26, Seite 409). [⤒]

  24. Lenin, »Die nächsten Aufgaben der Sowjetmacht«, LW, Band 27, Seite 245. [⤒]

  25. Der Text wurde formell überarbeitet: einzelne Zitate wurden berichtigt (anhand der Originaltexte), die Anmerkungen richtig zugeordnet. Alle Zitate wurden von uns einhetlich auf die Werksausgabe Lenins umgestellt und überprüft (sinistra.net, September 2000 und Januar 2024)[⤒]


Source: »Kommunistisches Programm«, Nr.9, Januar 1976 (Übersetzung einer Artikelreihe aus »Il Programma Comunista«, Nr. 11, 12, 13, 14, Mai bis Juli 1975)

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