IBKL – Internationale Bibliothek der Kommunistischen Linken
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IHRE MORAL UND UNSERE


Content:

Ihre Moral und unsere
Moralausdünstungen
Marxistische Amoral und ewige Wahrheiten
»Der Zweck heiligt die Mittel«
Jesuitismus und Utilitarismus
»Moralvorschriften, die für alle bindend sind«
Die Krise der demokratischen Moral
»Der gesunde Menschenverstand«
Die Moralisten und die GPU
Die Anordnung der politischen Schachfiguren
Der Stalinismus – ein Produkt der alten Gesellschaft
Die Revolution und die Einrichtung der Geisel
»Kaffernmoral«
Der »amoralische« Lenin
Eine lehrreiche Episode
Die dialektische Wechselbeziehung zwischen Ziel und Mittel
Post Scriptum
Notes
Source


Ihre Moral und unsere

Moralausdünstungen

In einer Epoche der siegreichen Reaktion beginnen die Herren Demokraten, Sozialdemokraten, Anarchisten und übrigen Vertreter des »linken« Lagers das Doppelte Ihres gewöhnlichen Quantums von Moralausdünstungen auszuscheiden, gleich Leuten, die vor Furcht doppelt stark schwitzen. Diese Moralisten wenden sich, indem sie die zehn Gebote oder die Bergpredigt neu umschreiben, nicht so sehr an die siegreiche Reaktion, wie an jene Revolutionäre, die unter deren Verfolgung leiden und die mit ihren »Exzessen« und »amoralischen« Grundsätzen die Reaktion »provozieren« und ihr eine moralische Rechtfertigung geben. Überdies verordnen sie ein einfaches aber sicheres Mittel, um die Reaktion zu vermeiden: wir müssen nur danach streben, uns selbst moralisch zu erneuern. Gratismuster moralischer Vollkommenheit werden von allen beteiligten Redaktionen an Interessenten abgegeben.

Die Klassenbasis dieser falschen und hochtrabenden Predigt ist die kleinbürgerliche Intelligenz. Die politische Basis: deren Ohnmacht und Verwirrung angesichts der herannahenden Reaktion. Die psychologische Basis: deren Bestreben, das Gefühl der eigenen Minderwertigkeit zu überwinden, indem sie mit dem Bart des Propheten Mummenschanz treibt.

Die Lieblingsmethode des moralisierenden Philisters besteht darin, das Verhalten der Reaktion mit dem der Revolution zu identifizieren. Dabei erzielt er nur Erfolg, indem er sich auf formale Analogien stützt. Für ihn sind Zarismus und Bolschewismus Zwillinge. Ebenso entdeckt er, dass Faschismus und Kommunismus Zwillinge sind. Er trägt ein Inventar zusammen aus den gemeinsamen Zügen von Katholizismus – oder genauer von Jesuitismus – und Bolschewismus. Hitler und Mussolini, die ihrerseits genau die gleiche Methode benutzen, enthüllen, dass Liberalismus, Demokratie und Bolschewismus nur verschiedene Erscheinungsformen ein und desselben Übels sind. Die Auffassung, dass Stalinismus und Trotzkismus »wesentlich« ein und dasselbe sind, erfreut sich jetzt der vereinten Zustimmung von Liberalen, Demokraten, frommen Katholiken, Idealisten, Pragmatikern und Anarchisten. Die Stalinisten sind offenbar nur deshalb nicht in der Lage, sich dieser »Volksfront« anzuschliessen, weil sie zufällig mit der Ausrottung der Trotzkisten beschäftigt sind. Charakteristisch für diese Analogien und Ähnlichkeiten ist, dass man bei ihrer Anwendung die materielle Grundlage der verschiedenen Strömungen, d. h. deren Klassennatur und dadurch deren objektive historische Rolle, vollständig ignoriert. Stattdessen nimmt man irgendeine äusserliche und zweitrangige Erscheinung zum Ausgangspunkt der Beurteilung und Wertung der verschiedenen Strömungen, und zwar meistens deren Verhältnis zu irgendeinem abstrakten Prinzip, welches für den betreffenden Kritiker einen besonderen berufsmässigen Wert besitzt. So sind Freimaurer, Darwinisten, Marxisten und Anarchisten für den römischen Papst Zwillinge, weil sie alle gotteslästerlich die unbefleckte Empfängnis leugnen. Für Hitler sind Liberalismus und Marxismus Zwillinge, weil sie nichts von »Blut und Ehre« wissen wollen. Für einen Demokraten sind Faschismus und Bolschewismus Zwillinge, weil sie sich nicht dem allgemeinen Stimmrecht unterwerfen. Und so weiter. Unzweifelhaft haben die oben zusammengestellten Strömungen einige gemeinsame Züge. Aber der Kern der Sache liegt darin, dass sich die Entwicklung der Menschheit weder im allgemeinen Stimmrecht noch in »Blut und Ehre«, noch im Dogma der unbefleckten Empfängnis erschöpft. Der historische Prozess drückt in erster Linie den Klassenkampf aus; überdies wenden verschiedene Klassen im Namen verschiedener Ziele in gewissen Augenblicken gleiche Mittel an, im Wesen kann es gar nicht anders sein. Einander bekämpfende Heere sind immer mehr oder weniger symmetrisch; gäbe es nichts Gemeinsames in ihren Kampfmethoden, könnten sie einander keine Schläge zufügen. Ein unwissender Bauer oder Krämer, der weder den Ursprung noch den Sinn des Kampfes zwischen Proletariat und Bourgeoisie begreift, wird, wenn er entdeckt, dass er sich zwischen den beiden Feuern befindet, beide kriegführenden Lager mit dem gleichen Hass betrachten.

Und wer sind alle diese demokratischen Moralisten? Ideologen der Zwischenschichten, die zwischen die beiden Feuer geraten sind, oder sich vor diesem Schicksal fürchten. Verständnislosigkeit gegenüber den grossen historischen Bewegungen, eine verhärtete konservative Mentalität, selbstzufriedene Beschränktheit und primitivste politische Feigheit zeichnen die Propheten dieses Typus aus. Mehr als alles andere wünscht der Moralist, die Geschichte möge ihn mit seinen Büchlein, kleinen Zeitschriften, Abonnements, seinem gesunden Menschenverstand und seinen moralischen Schreibheften in Ruhe lassen. Aber die Geschichte lässt ihn nicht in Ruhe. Sie pufft ihn bald von links und bald von rechts. Es ist klar: Revolution und Reaktion, Zarismus und Bolschewismus, Kommunismus, Stalinismus und Trotzkismus – das alles sind Zwillinge. Wer immer daran zweifelt, der mag die symmetrischen Beulen auf der rechten wie auf der linken Schädelhälfte unserer Moralisten nachfühlen.

Marxistische Amoral und ewige Wahrheiten

Die volkstümlichste und eindrucksvollste der gegen die bolschewistische »Amoral« gerichteten Anklagen gründet sich auf die sogenannte jesuitische Maxime des Bolschewismus: »Der Zweck heiligt die Mittel«. Von hier aus ist es nicht weit zur nächsten Schlussfolgerung: da die Trotzkisten, wie alle Bolschewiken (oder Marxisten), die Prinzipien der Moral nicht anerkennen, gibt es folglich keinen »prinzipiellen« Unterschied zwischen Trotzkismus und Stalinismus. Was zu beweisen war.

Eine ganz und gar vulgäre und zynische amerikanische Monatsschrift veranstaltete eine Enquete über die Moralphilosophie des Bolschewismus. Die Enquete hatte, wie gebräuchlich, gleichzeitig den Zielen der Ethik wie denen der Reklame zu dienen. Der unnachahmliche H. G. Wells, dessen grosse Einbildungskraft nur durch seine homerische Selbstzufriedenheit übertroffen wird, zögerte nicht, sich mit den reaktionären Snobs des Common Sense zu solidarisieren. Insofern war alles in Ordnung. Aber selbst solche Teilnehmer, die es für notwendig hielten, den Bolschewismus zu verteidigen, taten dies in der Mehrzahl der Fälle nicht ohne schüchterne Ausflüchte (Eastman). Die Grundsätze des Marxismus sind natürlich schlecht, aber unter den Bolschewiken gab es nichtsdestoweniger wertvolle Leute. Wahrhaftig, solche »Freunde« sind gefährlicher als Feinde.

Könnten wir uns dazu entschliessen, die Herren Entlarver ernst zu nehmen, dann müssten wir sie an erster Stelle fragen: Was sind eure eignen moralischen Prinzipien? Das ist eine Frage, auf die wir kaum eine Antwort erhalten werden. Nehmen wir für einen Augenblick an, weder persönliche noch soziale Ziele könnten die Mittel heiligen. Dann ist es offenbar notwendig, Kriterien ausserhalb der historischen Gesellschaft und der Ziele, die sie sich im Laufe ihrer Entwicklung steckt, zu suchen. Aber wo? Wenn nicht auf Erden, so im Himmel. Die Pfaffen haben seit langem unfehlbare Moralkriterien in der göttlichen Offenbarung entdeckt. Kleine weltliche Pfaffen reden über ewige moralische Wahrheiten, ohne deren Ursprung zu erwähnen. Wir sind jedoch zu dem Schluss berechtigt: da diese Wahrheiten ewig sind, müssen sie nicht nur vor der Erscheinung des Halbaffen-Halbmenschen auf der Erde, sondern sogar vor der Entstehung des Sonnensystems existiert haben. Woher sind sie also gekommen? Die Theorie der ewigen Moral kann keineswegs ohne Gott bestehen.

Sofern sich die Moralisten der angelsächsischen Schule nicht auf den rationalistischen Utilitarismus, die Ethik der bürgerlichen Buchführung beschränken, erscheinen sie alle als die bewussten oder unbewussten Schüler des Grafen Shaftesbury, der – zu Anfang des 18. Jahrhunderts! – die Moralurteile von einem besonderen »moralischen Sinn« ableitete, der nach seiner Voraussetzung dem Menschen ein für allemal verliehen war. Eine Moral über den Klassen führt unvermeidlich zu der Anerkennung einer besonderen Substanz, eines »moralischen Sinns« oder »Gewissens«, zur Anerkennung von irgendetwas Absolutem, was nichts anderes ist als das philosophisch-feige Synonym für Gott. Wenn wir die Moral unabhängig von den »Zielen«, d. h. von der Gesellschaft betrachten, erweist sie sich letzten Endes, gleichgültig ob wir sie von »ewigen Wahrheiten« oder von der »menschlichen Natur« ableiten, als eine Form der »Naturtheologie«. Der Himmel bleibt die einzige befestigte Position für militärische Operationen gegen den dialektischen Materialismus.

Zu Ende des letzten Jahrhunderts entstand in Russland eine ganze Schule von »Marxisten« (Struwe, Berdjajew, Bulgakow u. a.), die die marxistische Lehre mit einem sich selbst genügenden, d. h. über den Klassen stehenden moralischen Prinzip zu ergänzen wünschten. Diese Leute begannen natürlich mit Kant und dem kategorischen Imperativ. Wie aber endeten sie? Struwe ist heute Minister a.D. des Barons Wrangel und ein treuer Sohn der Kirche; Bulgakow ist ein orthodoxer Priester; Berdjajew legt die Apokalypse in verschiedenen Sprachen aus. Diese auf den ersten Blick überraschenden Wandlungen erklären sich keineswegs durch die »slawische Seele« – Struwe hat eine deutsche Seele – sondern durch die Wucht des sozialen Kampfes in Russland. Der Grundzug dieser Metamorphose ist im wesentlichen international.

Der klassische philosophische Idealismus stellte, insoweit er seinerzeit versuchte, die Moral zu verweltlichen, d. h. von ihrer religiösen Sanktion zu befreien, einen gewaltigen Schritt vorwärts dar (Hegel). Aber nachdem sich die Moralphilosophie vom Himmel losgelöst hatte, musste sie irdische Wurzeln finden. Es war eine der Aufgaben des Materialismus, diese Wurzeln zu entdecken. Nach Shaftesbury kam Darwin, nach HegelMarx. Wer heute an »ewige moralische Wahrheiten« appelliert, versucht, das Rad rückwärts zu drehen. Der philosophische Idealismus ist nur ein Übergangsstadium: von der Religion zum Materialismus, oder umgekehrt, vom Materialismus zur Religion.

»Der Zweck heiligt die Mittel«

Der Jesuitenorden, der in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts zur Bekämpfung des Protestantismus gegründet wurde, lehrte übrigens niemals, dass jedes Mittel, selbst wenn es vom Gesichtspunkt der katholischen Moral verbrecherisch war, erlaubt sei, wenn es nur zum »Ziel«, d. h. zum Triumph des Katholizismus führe. Solch eine innerlich widerspruchsvolle und psychologisch absurde Lehre wurde den Jesuiten von ihren protestantischen und teilweise katholischen Gegnern böswillig zugeschrieben, die sich in der Wahl der Mittel, um ihre Ziele zu erreichen, nicht genierten. Die jesuitischen Theologen, die sich wie die Theologen anderer Schulen mit der Frage der persönlichen Verantwortung befassten, lehrten in Wirklichkeit, dass das Mittel an sich eine gleichgültige Angelegenheit sein kann, und dass die moralische Berechtigung oder Beurteilung des gegebenen Mittels sich aus dem Ziel ergibt. So ist das Schiessen an und für sich eine neutrale Angelegenheit; Schiessen auf einen tollen Hund, der ein Kind bedroht – eine Tugend; Schiessen mit dem Ziel zu verletzen oder zu morden – ein Verbrechen. Die Ausführungen der Theologen dieses Ordens gingen über solche Gemeinplätze nicht hinaus.

Was ihre praktische Moralphilosophie angeht, waren die Jesuiten keineswegs schlimmer als andere Mönche oder katholische Priester, sie waren ihnen im Gegenteil überlegen; jedenfalls waren sie ausdauernder, kühner und scharfsichtiger. Die Jesuiten stellten eine streng zentralisierte, aggressive, kämpferische Organisation dar, die nicht nur für die Feinde, sondern auch für die Verbündeten gefährlich war. In seiner Psychologie und in der Methode seines Handelns unterschied sich der Jesuit der »heroischen« Periode von einem durchschnittlichen Pfaffen wie der Krieger der Kirche von ihrem Krämer. Wir haben keinen Grund, einen der beiden zu idealisieren. Aber es ist ganz und gar unwürdig, einen fanatischen Krieger mit den Augen eines stumpfen und trägen Krämers zu betrachten. Wenn wir auf der Ebene der rein formalen oder psychologischen Verwandtschaften verbleiben, dann kann man, wenn man will, sagen, dass die Bolschewiki sich zu den Demokraten und Sozialdemokraten aller Schattierungen verhalten wie die Jesuiten zur friedlichen Hierarchie. Im Vergleich zu den revolutionären Marxisten erscheinen die Sozialdemokraten und Zentristen wie Minderjährige oder wie der Quacksalber im Vergleich zum Arzt: sie denken kein einziges Problem bis zu Ende, glauben an die Macht der Beschwörung, gehen feig jeder Schwierigkeit aus dem Weg und hoffen auf ein Wunder. Die Opportunisten sind die friedlichen Krämer der sozialistischen Idee, während die Bolschewiki ihre eingefleischten Krieger sind. Daher der Hass und die Verleumdung gegen die Bolschewiki von seiten derer, die ihre historisch bedingten Schwächen im Überfluss, jedoch keinen einzigen ihrer Vorzüge besitzen.

Immerhin bleibt jedoch die Nebeneinanderstellung von Bolschewismus und Jesuitismus völlig einseitig und oberflächlich und ist eher literarischer als historischer Natur. Geht man von Charakter und Interessen derjenigen Klassen aus, auf die sich Jesuiten und Protestanten stützen, so stellten erstere die Reaktion und letztere den Fortschritt dar. Die Begrenztheit dieses »Fortschritts« fand wiederum ihren direkten Ausdruck in der Sittenlehre der Protestanten. So hinderten den Stadtbürger Luther die von ihm »gereinigten« Lehren Christi keineswegs daran, dazu aufzurufen, die aufständischen Bauern wie »tolle Hunde« niederzumachen. Dr. Martin war offenbar, noch bevor dieser Grundsatz den Jesuiten zugeschrieben wurde, der Ansicht, »der Zweck heilige die Mittel«. Die mit dem Protestantismus konkurrierenden Jesuiten passten sich ihrerseits in steigendem Masse dem Geist der bürgerlichen Gesellschaft an, und von den drei Gelübden: Armut, Keuschheit und Gehorsam, blieb nur das dritte übrig und das sogar in äusserst abgemilderter Form. Vom Standpunkt des christlichen Ideals verfiel die Moral der Jesuiten in dem Masse, wie sie aufhörten, Jesuiten zu sein. Die Krieger der Kirche wurden ihre Bürokraten und, wie alle Bürokraten, leidliche Spitzbuben.

Jesuitismus und Utilitarismus

Diese kurze Diskussion genügt vielleicht, um zu zeigen, wieviel Unwissenheit und Beschränktheit erforderlich sind, um ernsthaft das »jesuitische« Prinzip: »Der Zweck heiligt die Mittel«, einer anderen, scheinbar höheren Moral gegenüberzustellen, in der jedes »Mittel« sein eigenes Moraletikett trägt etwa wie eine Ware mit festen Preisen in einem Spezialgeschäft. Bemerkenswert ist, dass der gesunde Menschenverstand des angelsächsischen Philisters es fertig gebracht hat, sich über das »jesuitische« Prinzip zu entrüsten und gleichzeitig sich an der für die britische Philosophie so charakteristischen utilitaristischen Sittenlehre zu inspirieren. Denn das Kriterium Benthams und John Mills: »Das grösstmögliche Glück für die grösstmögliche Anzahl«, bedeutet, dass diejenigen Mittel sittlich sind, die zur allgemeinen Wohlfahrt als dem höheren Ziel führen. Der angelsächsische Utilitarismus stimmt also in seinen generellen philosophischen Formulierungen völlig mit dem »jesuitischen« Prinzip: »Der Zweck heiligt die Mittel«, überein. Der Empirismus existiert demnach, wie wir sehen, nur zu dem Zweck in der Welt, um uns von der Notwendigkeit zu befreien, die Dinge miteinander ins Reine zu bringen.

Herbert Spencer, dessen Empirismus Darwin mit der Idee der Evolution impfte, wie man gegen Pocken impft, lehrte, dass in der Sphäre der Moral die Entwicklung von »Empfindungen« zu »Ideen« fortschreitet. Die Empfindungen richten sich nach dem Kriterium des unmittelbaren Vergnügens, während die Ideen gestatten, sich von dem Kriterium des zukünftigen, dauernden und höheren Vergnügens leiten zu lassen. »Vergnügen« oder »Glück« ist also auch hier Kriterium der Moral.

Aber die Breite und Tiefe des Inhalts dieses Kriteriums hängt von dem Massstab der »Entwicklung« ab. Auf diese Weise bewies auch Herbert Spencer durch die Methoden seines eigenen »evolutionären« Utilitarismus, dass das Prinzip: der Zweck heiligt die Mittel, nichts Unmoralisches enthält.

Es wäre jedoch naiv, von diesem abstrakten »Prinzip« eine Antwort auf die praktische Frage zu erwarten: was dürfen wir tun und was nicht? Überdies wirft natürlich das Prinzip, der Zweck heiligt die Mittel, die Frage auf: und was heiligt das Ziel? Im praktischen Leben wie im Verlauf der Geschichte verändern Ziel und Mittel fortlaufend ihre Stellung. Eine im Bau befindliche Maschine ist nur insofern ein »Ziel« der Produktion, wie sie in eine andere Fabrik als »Mittel« eingeht. Die Demokratie ist in gewissen Perioden das »Ziel« des Klassenkampfes nur, um danach in sein Mittel verwandelt zu werden[1]. Enthält das jesuitische Prinzip auch nichts Unmoralisches, so ist es jedoch andererseits weit davon entfernt, das Problem der Moral zu lösen.

Der »evolutionäre« Utilitarismus Spencers lässt uns ebenfalls auf halbem Wege ohne Antwort stehen, da er, Darwin folgend, versucht, die konkrete historische Moral in den für ein Herdentier charakteristischen biologischen Bedürfnissen oder »sozialen Instinkten« aufzulösen, während der Begriff der Moral selbst erst in einem antagonistischen Milieu, d. h. in einer von Klassen zerrissenen Gesellschaft, entsteht.

Der bürgerliche Evolutionarismus bleibt auf der Schwelle der historischen Gesellschaft ohnmächtig stehen, weil er die treibende Kraft in der Entwicklung historischer Formen, den Klassenkampf, nicht erkennen will. Die Moral ist nur eine der ideologischen Funktionen in diesem Kampf. Die herrschende Klasse zwingt ihre Ziele der Gesellschaft auf und gewöhnt sie daran, alle solche Mittel, die ihren Zielen widersprechen, als unmoralisch anzusehen. Das ist die wichtigste Funktion der offiziellen Sittenlehre. Sie verfolgt die Idee des »grösstmöglichen Glücks« nicht für die Mehrheit, sondern für eine sich ständig verringernde Minderheit. Durch Gewalt allein könnte sich ein solches Regime auch nicht eine Woche lang halten. Es braucht den moralischen Zement. Das Mischen dieses Zements bildet den Beruf der kleinbürgerlichen Theoretiker und Moralisten. Sie schillern zwar in allen Regenbogenfarben, letzten Endes bleiben sie jedoch ohne Ausnahme Apostel der Sklaverei und der Unterwerfung.

»Moralvorschriften, die für alle bindend sind«

Wer nicht zu Moses, Christus oder Mohammed zurückkehren will und wer nicht mit eklektischem Hokuspokus zufrieden ist, muss einsehen, dass die Moral ein Produkt der historischen Entwicklung ist, dass es in ihr nichts Unveränderliches gibt, dass sie sozialen Interessen dient, dass diese Interessen widerspruchsvoll sind, dass die Moral mehr als irgendeine andere ideologische Form Klassencharakter trägt.

Aber existieren denn keine elementaren moralischen Vorschriften, die sich in der Entwicklung der Menschheit als integraler Bestandteil der Existenz jeder kollektiven Körperschaft herausgebildet haben? Solche Vorschriften existieren unzweifelhaft, aber ihr Aktionsradius ist äusserst begrenzt und unstabil. Je schärferen Charakter der Klassenkampf annimmt, desto wirkungsloser werden die Normen, die »für alle bindend sind«. Der Kulminationspunkt des Klassenkampfes ist der Bürgerkrieg, der alle moralischen Bande zwischen den feindlichen Klassen in die Luft sprengt.

Unter »normalen« Bedingungen befolgt ein »normaler« Mensch das Gebot: »Du sollst nicht töten«. Aber wenn er unter der anormalen Bedingung der Notwehr tötet, verzeiht ihm der Richter seine Handlung. Wenn er das Opfer eines Mörders wird, wird das Gericht den Mörder töten. Die Notwendigkeit der Handlung des Gerichts als einer Selbstverteidigung ergibt sich aus antagonistischen Interessen. Was den Staat angeht, so beschränkt er sich in Friedenszeiten auf vereinzelte Fälle des legalisierten Mords, um in Kriegszeiten das »bindende« Gebot: »Du sollst nicht töten« in sein Gegenteil zu verwandeln. Die »humansten« Regierungen, die in Friedenszeiten den Krieg »verabscheuen«, erklären während des Krieges die Ausrottung einer grösstmöglichen Zahl von Menschen zur höchsten Pflicht ihrer Armeen.

Die sogenannten »allgemein anerkannten« Moralvorschriften haben im Wesen der Sache einen algebraischen, d. h. unbestimmten Charakter. Sie drücken nur die Tatsache aus, dass der Mensch in seinem individuellen Benehmen durch eine gewisse Anzahl allgemeiner Normen gebunden ist, die sich aus seiner Existenz als Mitglied der Gesellschaft ergeben. Die höchste Verallgemeinerung dieser Normen ist der kategorische Imperativ von Kant. Aber trotz der Tatsache, dass dieser Imperativ einen hohen Rang im philosophischen Olymp einnimmt, enthält er nichts Kategorisches, weil er nichts Konkretes enthält. Er ist eine Schale ohne Kern.

Diese Leere in den für alle bindenden Vorschriften ergibt sich aus der Tatsache, dass die Menschen in allen entscheidenden Fragen ihre Klassenzugehörigkeit bedeutend tiefer und direkter empfinden als ihre Zugehörigkeit zur »Gesellschaft«. Die »bindenden« Moralvorschriften besitzen in Wirklichkeit Klasseninhalt. Das heisst einen antagonistischen Inhalt. Die sittliche Norm wird um so kategorischer, je weniger sie für alle bindend ist. Die Solidarität der Arbeiter, im besonderen der Streikenden oder Barrikadenkämpfer, ist unvergleichlich »kategorischer« als die menschliche Solidarität im allgemeinen.

Die Bourgeoisie, die das Proletariat an Vollständigkeit und Unversöhnlichkeit des Klassenbewusstseins bei weitem übertrifft, hat ein Lebensinteresse daran, ihre Moralphilosophie den ausgebeuteten Massen aufzuzwingen. Eben zu diesem Zweck werden die konkreten Vorschriften des bürgerlichen Katechismus hinter moralischen Abstraktionen versteckt, die dem Patronat von Religion, Philosophie oder von jenem Bastard, den man »gesunden Menschenverstand« nennt, unterstellt werden. Der Appell an abstrakte Normen ist kein uneigennütziger philosophischer Fehler, sondern ein notwendiges Element in der Mechanik des Klassenbetrugs. Die Entlarvung dieses Betrugs, der über eine vieltausendjährige Tradition verfügt, gehört zur obersten Pflicht des proletarischen Revolutionärs.

Die Krise der demokratischen Moral

Um den Sieg ihrer Interessen in grossen Fragen zu sichern, sind die herrschenden Klassen bereit, in zweitrangigen Fragen Konzessionen zu machen, natürlich nur so lange, wie sich diese Konzessionen mit der Buchführung vertragen. In der Epoche des kapitalistischen Aufschwungs, besonders in den letzten Jahrzehnten vor dem Weltkrieg, waren diese Konzessionen durchaus real, zum mindesten in Bezug auf die oberen Schichten des Proletariats. Die Industrie dehnte sich zu dieser Zeit fast ununterbrochen aus. Der Reichtum der zivilisierten Nationen und teilweise auch der arbeitenden Massen wuchs an. Die Demokratie schien gesichert. Die Arbeiterorganisationen wuchsen. Gleichzeitig vertieften sich die reformistischen Tendenzen. Die Beziehungen zwischen den Klassen nahmen, wenigstens äusserlich, an Spannung ab. So entstanden parallel mit den Normen der Demokratie und den Gewohnheiten der Klassenzusammenarbeit gewisse elementare Moralvorschriften in den Gesellschaftsbeziehungen. Der Eindruck einer stets freier, gerechter und menschlicher werdenden Gesellschaft wurde geschaffen. Die aufsteigende Linie des Fortschritts schien dem »gesunden Menschenverstand« unendlich.

Stattdessen brach jedoch der Krieg aus mit seinem Gefolge von Erschütterungen, Krisen, Katastrophen, Epidemien und Bestialitäten. Das Wirtschaftsleben der Menschheit geriet in eine Sackgasse. Die Klassengegensätze traten scharf und nackt hervor. Die Sicherheitsventile der Demokratie begannen eins nach dem anderen zu explodieren. Die elementaren Moralvorschriften erwiesen sich gar noch zerbrechlicher als die demokratischen Einrichtungen und die reformistischen Illusionen. Lügenhaftigkeit, Verleumdung, Bestechung, Käuflichkeit, Zwang und Mord nahmen ungeahnte Ausmasse an. Dem verdutzten Einfaltspinsel erschienen alle diese Laster als ein vorübergehendes Resultat des Krieges. In Wirklichkeit handelt es sich um Erscheinungen des imperialistischen Niedergangs. Der Verfall des Kapitalismus bestimmt den Verfall der heutigen Gesellschaft mit ihrem Recht und ihrer Moral.

Die »Synthese« der imperialistischen Schändlichkeit ist der Faschismus, das direkte Resultat des Bankerotts der bürgerlichen Demokratie angesichts der Aufgaben der imperialistischen Epoche. Rudimente der Demokratie existieren nur noch in den reichen kapitalistischen Aristokratien: Auf jeden »Demokraten« in England, Frankreich, Holland und Belgien kommt eine bestimmte Anzahl von Kolonialsklaven: »60 Familien« beherrschen die Demokratie der Vereinigten Staaten, und so weiter[2]. Überdies befinden sich faschistische Schösslinge in allen Demokratien in raschem Wachstum. Der Stalinismus ist einerseits das Produkt des imperialistischen Drucks auf einen rückständigen und isolierten Arbeiterstaat[3], der auf seine Art ein symmetrisches Komplement zum Faschismus darstellt. Während idealistische Philister – die Anarchisten natürlich immer an der Spitze – in ihrer Presse unermüdlich die marxistische »Amoral« entlarven, geben die amerikanischen Trusts, nach Angabe von John L. Lewis (C.I.O.), nicht weniger als 80 Millionen Dollar im Jahr für den praktischen Kampf gegen die revolutionäre »Demoralisierung« aus, d. h. für Spionage, Bestechung von Arbeitern, Justizverbrechen und heimliche Morde. Der kategorische Imperativ wählt bisweilen Umwege, um zum Sieg zu gelangen! Der Gerechtigkeit halber wollen wir zugeben, dass die ehrlichsten und gleichzeitig beschränktesten kleinbürgerlichen Moralisten selbst heute noch in der idealisierten Erinnerung an die Vergangenheit und in der Hoffnung auf ihre Rückkehr leben. Sie verstehen nicht, dass die Moral eine Funktion des Klassenkampfes ist, dass die demokratische Moral der Epoche des liberalen und fortschrittlichen Kapitalismus entspricht, dass die Zuspitzung des Klassenkampfes, der seine letzte Phase durchläuft, diese Moral endgültig und unwiderruflich zerstört hat, dass an ihre Stelle einerseits die Moral des Faschismus, andererseits die Moral der proletarischen Revolution trat.

»Der gesunde Menschenverstand«

Die Demokratie und die »allgemein anerkannte« Moral sind nicht die alleinigen Opfer des Imperialismus. Der dritte leidende Märtyrer ist der »universale« gesunde Menschenverstand. Diese niedrigste Form des Intellekts ist nicht nur unter allen Umständen absolut erforderlich, sondern unter gewissen Umständen auch ausreichend. Das grundlegende Kapital des gesunden Menschenverstandes besteht aus den elementaren Schlüssen der allgemeinen Erfahrung: man soll seine Finger nicht ins Feuer stecken, möglichst eine gerade Linie einschlagen, keinen bissigen Hund reizen… und so weiter und so fort. In einem stabilen sozialen Milieu reicht der gesunde Menschenverstand aus, um Geschäfte zu machen, Kranke zu heilen, Artikel zu schreiben, Gewerkschaften zu leiten, im Parlament abzustimmen, sich zu verheiraten und die Rasse zu erneuern. Aber wenn derselbe gesunde Menschenverstand versucht, die ihm gesetzten Grenzen zu überschreiten, und die Ebene komplexer Verallgemeinerungen betritt, erweist er sich als eine Anhäufung von Vorurteilen einer bestimmten Klasse und einer bestimmten Epoche. Schon eine gewöhnliche kapitalistische Krise bringt den gesunden Menschenverstand in eine Sackgasse; und gegenüber solchen Katastrophen wie Revolution, Konterrevolution und Krieg entlarvt sich der gesunde Menschenverstand als vollkommener Narr. Um die katastrophalen Störungen des »normalen« Ablaufs der Dinge zu erfassen, ist jene höhere Qualität des Intellekts erforderlich, die bisher ihren philosophischen Ausdruck nur im dialektischen Materialismus gefunden hat.

Max Eastman, der mit Erfolg versucht, den »gesunden Menschenverstand« mit einem äusserst anziehenden literarischen Stil auszustatten, hat den Kampf gegen die Dialektik zu nichts weniger als seinem Beruf gemacht. Eastman hält ernsthaft die Verkupplung der konservativen Banalitäten des gesunden Menschenverstandes mit gutem Stil für »die Wissenschaft der Revolution«. Indem er die reaktionären Snobs des Common Sense unterstützt, offenbart er der Menschheit mit unnachahmlicher Sicherheit: hätte Trotzki sich statt von der marxistischen Doktrin vom gesunden Menschenverstand leiten lassen, er würde… die Macht nicht verloren haben. Jene innere Dialektik, die bisher in der unvermeidlichen Aufeinanderfolge bestimmter Stadien in allen Revolutionen aufgetreten ist, existiert für Eastman nicht. Für ihn erklärt sich die Ablösung der Revolution durch die Reaktion durch ungenügenden Respekt vor dem gesunden Menschenverstand. Eastman versteht nicht, dass es gerade Stalin war, der historisch gesehen dem gesunden Menschenverstand, d. h. dessen Unzulänglichkeit, zum Opfer fiel, weil die von ihm ausgeübte Macht dem Bolschewismus feindlichen Zielen dient. Andererseits erlaubte uns die marxistische Doktrin, uns rechtzeitig von der thermidorianischen Bürokratie zu trennen und weiterhin den Zielen des internationalen Sozialismus zu dienen[4].

Jede Wissenschaft, und in diesem Sinne also auch die »Wissenschaft der Revolution«, wird durch die Erfahrung geprüft. Da Eastman so gut weiss, wie man die revolutionäre Macht unter der Bedingung der Weltreaktion behält, weiss er hoffentlich auch, wie man die Macht erobert. Es wäre sehr zu wünschen, dass er endlich seine Geheimnisse enthüllt. Am besten würde er dies in der Form eines Programmentwurfs für eine revolutionäre Partei tun unter dem Titel: Wie erobern und behalten wir die Macht? Wir fürchten jedoch, dass gerade der gesunde Menschenverstand Eastman von solch einem gefährlichen Unternehmen abhalten wird. Und in diesem Falle müssen wir dem gesunden Menschenverstand Recht geben.

Die marxistische Doktrin, die Eastman leider niemals verstand, gestattete uns vorauszusehen, dass unter gewissen historischen Umständen der Sowjetthermidor mit einem ganzen Gefolge von Verbrechen unvermeidlich war. Dieselbe Doktrin hat seit langem den Niedergang der bürgerlichen Demokratie und ihrer Moral vorausgesagt. Die Doktrinäre des »gesunden Menschenverstands« dagegen wurden von Faschismus und Stalinismus überrumpelt. Der gesunde Menschenverstand arbeitet mit unveränderlichen Grössen in einer Welt, wo nur die Veränderung beständig ist. Die Dialektik dagegen begreift alle Erscheinungen, Einrichtungen und Normen in ihrem Entstehen, Bestehen und Vergehen. Die dialektische Auffassung der Moral als eines abhängigen und vergänglichen Produktes des Klassenkampfes erscheint dem gesunden Menschenverstand als »amoralische«. Und doch gibt es nichts Flacheres, Schaleres, Selbstzufriedeneres und Zynischeres als die Moralvorschriften des gesunden Menschenverstandes!

Die Moralisten und die GPU

Die Moskauer Prozesse gaben Anlass zu einem Kreuzzug gegen die »Amoral« des Bolschewismus. Dieser Kreuzzug begann jedoch keineswegs sofort. Die Wahrheit ist, dass die Moralisten in ihrer Mehrzahl die direkten oder indirekten Freunde des Kremls waren. Als solche versuchten sie lange, ihre Bestürzung zu verstecken, und taten gar, als ob nichts Ungewöhnliches geschehen sei. Und doch waren die Moskauer Prozesse alles andere als ein Zufall. Servile Unterwürfigkeit, Heuchelei, der offizielle Kult der Lüge, Bestechung und andere Formen der Korruption begannen bereits in den Jahren 1924–25 offensichtlich in Moskau aufzublühen. Die zukünftigen Justizverbrechen wurden offen vor den Augen der ganzen Weit vorbereitet. Es fehlte nicht an Warnungen. Die »Freunde« zogen jedoch vor, nichts zu sehen. Kein Wunder: die Mehrzahl dieser Herren stand seinerzeit der Oktoberrevolution in unversöhnlicher Feindschaft gegenüber und versöhnte sich erst mit der Sowjetunion in dem Masse, wie ihre thermidorianische Entartung fortschritt: die kleinbürgerlichen Demokraten des Westens erkannten in den kleinbürgerlichen Demokraten des Ostens verwandte Seelen.

Glaubten diese Leute wirklich an die Moskauer Beschuldigungen? Nur die Allerbeschränktesten. Die anderen wollten sich nur durch Aufdeckung der Wahrheit aus der Ruhe bringen lassen. Ist es vernünftig, auf die schmeichelhafte, bequeme und oft gut bezahlte Freundschaft mit den Sowjetgesandtschaften zu verzichten? Überdies – oh, das vergassen sie nicht! – kann die indiskrete Wahrheit dem Prestige der Sowjetunion schaden. Diese Leute deckten die Verbrechen auf Grund von zweckmässigen Betrachtungen, d. h. sie wandten bedenkenlos das Prinzip an: Der Zweck heiligt die Mittel.

Der Kronanwalt Pritt, der gerade zur rechten Zeit der stalinistischen Themis[5] unter den Rock blicken durfte und dort alles in Ordnung fand, übernahm die schamlose Initiative. Romain Rolland, dessen moralische Autorität vom Staatsverlag der Sowjetunion hoch taxiert wird, beeilte sich, eins seiner Manifeste loszulassen, in denen sich melancholische Lyrik mit senilem Zynismus vereint. Die französische Liga für Menschenrechte, die 1917 über »die Amoral Lenins und Trotzkis« wetterte, als diese das Militärbündnis mit Frankreich brachen, zögerte nicht, Stalins Verbrechen im Jahre 1936 im Interesse des französisch-russischen Abkommens zu decken. Ein patriotischer Zweck heiligt bekanntlich jedes Mittel. Die amerikanischen Zeitschriften »The Nation« und »The New Republic« schlossen vor Jagodas Taten die Augen, da ihre »Freundschaft« mit der Sowjetunion ihre eigene Autorität garantierte. Noch vor kaum einem Jahr waren diese Herren keineswegs der Ansicht, Stalinismus und Trotzkismus seien ein und dasselbe. Sie erklärten sich offen für Stalin, für seine Realpolitik, für seine Gerichtsbarkeit und für seinen Jagoda. An diese Position klammerten sie sich, solange es ging.

Bis zum Augenblick der Hinrichtung Tuchatschewskis, Jakirs und der anderen beobachtete die Grossbourgeoisie der demokratischen Länder nicht ohne Vergnügen, wenn auch mit einer Mischung Unbehagen, die Hinrichtung der Revolutionäre in der Sowjetunion. In diesem Sinne entsprachen »The Nation« und »The New Republic«, von Duranty, Louis Fischer und dergleichen Prostituierten der Feder gar nicht zu reden, voll und ganz den Interessen des »demokratischen« Imperialismus. Die Hinrichtung der Generäle beunruhigte die Bourgeoisie und zwang sie zu verstehen, dass die fortschreitende Zersetzung des stalinistischen Apparats Hitler, Mussolini und dem Mikado die Aufgabe erleichtert. Die »New York Times« begann vorsichtig, aber hartnäckig, ihren eigenen Duranty zu korrigieren. Der Pariser »Temps« stellte einige Spalten zur Verfügung, um Licht auf die Lage in der Sowjetunion zu werfen. Die kleinbürgerlichen Moralisten und Sykophanten waren schon von jeher nichts anderes als das dienstfertige Echo der Kapitalistenklasse. Ausserdem wurde es nach der Urteilsverkündung der Internationalen Untersuchungskommission unter dem Vorsitz von John Dewey für jeden Menschen mit auch nur einer Spur von Denkvermögen klar, dass die weitere offene Verteidigung der GPU mit der Gefahr des politischen und moralischen Todes gleichbedeutend war. Erst in diesem Augenblick entschlossen sich die »Freunde«, die ewigen moralischen Wahrheiten auf Gottes schöner Erde einzuführen, d. h. sich in die zweite Schützengrabenlinie zurückzuziehen.

Nicht den letzten Platz unter den Moralisten nehmen erschrockene Stalinisten und Halb-Stalinisten ein. Eugene Lyons lebte Jahre hindurch mit der thermidorianischen Clique im schönsten Einvernehmen und fühlte sich beinahe selbst als Bolschewik. Als er sich – aus welchem Grunde ist uns gleichgültig – vom Kreml zurückzog, schwebte er natürlich sofort in den Wolken des Idealismus. Liston Hook erfreute sich bis vor kurzem eines solchen Vertrauens von Seiten der Komintern, dass sie ihn mit der Führung der englischsprachlichen Propaganda für das republikanische Spanien beauftragte. Das hinderte ihn natürlich nicht daran, sobald er einmal seinen Posten aufgegeben hatte, gleichzeitig das marxistische ABC aufzugeben. Der heimatlose Walter Kriwitzki schloss sich nach seinem Bruch mit der GPU ohne Umschweife der bürgerlichen Demokratie an. Augenscheinlich ist dies auch die Metamorphose des hochbejahrten Charles Rappoport. Leute dieses Schlages – und sie sind zahlreich – suchen, nachdem sie den Stalinismus über Bord geworfen haben, in den Postulaten der abstrakten Sittenlehre eine Entschädigung für die von ihnen erlebten Enttäuschungen und die ihren Idealen zugefügten Erniedrigungen. Fragt sie: »Warum habt ihr das Lager der Komintern oder der GPU mit dem der Bourgeoisie vertauscht?«, ihre Antwort ist bereit: »Der Trotzkismus ist nicht besser als der Stalinismus«.

Die Anordnung der politischen Schachfiguren

»Trotzkismus ist revolutionäre Romantik; Stalinismus – Realpolitik.« Von dieser banalen Gegenüberstellung, mit der der durchschnittliche Philister bis gestern seine Freundschaft mit dem Thermidor gegen die Revolution rechtfertigte, bleibt heute auch nicht die Spur zurück. Trotzkismus und Stalinismus werden überhaupt nicht mehr einander gegenübergestellt, sondern miteinander identifiziert. Sie werden jedoch nur der Form, nicht dem Wesen nach miteinander identifiziert. Nachdem sich die Demokraten auf den Meridian des »kategorischen Imperativs« zurückgezogen haben, fahren sie in Wirklichkeit fort, die GPU zu verteidigen, nur auf eine verstecktere und perfidere Art. Wer das Opfer verleumdet, hilft dem Henker. Hier wie sonst dient die Moral der Politik.

Der demokratische Philister und der stalinistische Bürokrat sind, wenn nicht gerade Zwillinge, so doch Brüder im Geiste. Jedenfalls gehören sie dem gleichen politischen Lager an. Das gegenwärtige Regierungssystem in Frankreich und – wenn wir die Anarchisten hinzurechnen – in Spanien hat die Zusammenarbeit von Stalinisten, Sozialdemokraten und Liberalen zur Grundlage. Die britische Unabhängige Arbeiterpartei sieht nur deshalb so mitgenommen aus, weil sie sich eine Reihe von Jahren hindurch der Umarmung durch die Komintern nicht entzogen hat. Die französische Sozialistische Partei schloss die Trotzkisten gerade zu der Zelt aus ihren Reihen aus, als sie die Verschmelzung mit den Stalinisten vorbereitete. Wenn die Verschmelzung bisher nicht zustande kam, so nicht wegen prinzipieller Meinungsverschiedenheiten – welche bleiben noch übrig? – sondern weil die sozialdemokratischen Karrieristen für ihre Posten fürchteten. Norman Thomas erklärte nach seiner Rückkehr aus Spanien, dass die Trotzkisten »objektiv« Franco helfen, und mit dieser subjektiven Absurdität leistete er den GPU-Henkern einen objektiven Dienst. Dieser Gerechte schloss die amerikanischen »Trotzkisten« genau zu dem Zeitpunkt aus seiner Partei aus, als die GPU deren Gesinnungsgenossen in der Sowjetunion und in Spanien niedermachte. Trotz ihrer »Amoral« sind die Stalinisten in vielen demokratischen Ländern mit Erfolg in den Regierungsapparat eingedrungen. In den Gewerkschaften leben sie im besten Einvernehmen mit Bürokraten anderer Schattierungen. Zwar nehmen die Stalinisten eine äusserst leichtfertige Haltung gegenüber dem Strafgesetzbuch ein und schrecken dadurch ihre »demokratischen« Freunde in friedlichen Zeiten ab; aber unter ausserordentlichen Umständen werden sie um so sicherer die Führer der Kleinbourgeoisie gegen das Proletariat, wie es das spanische Beispiel zeigt[6].

Die Zweite und die Amsterdamer Internationale übernahmen natürlich nicht die Verantwortung für die Justizverbrechen; dies überliessen sie der Komintern. Sie selbst verhielten sich ruhig. Privat erklärten sie, dass sie vom Standpunkt der »Moral« gegen Stalin seien, vom Standpunkt der Politik jedoch – für ihn. Erst als die Volksfront in Frankreich unheilbare Risse bekam und die Sozialisten sich gezwungen sahen, an den morgigen Tag zu denken, fand Léon Blum auf dem Boden seines Tintenfasses die geeignete Formulierung seiner moralischen Entrüstung.

Otto Bauer verurteilte schonungsvoll die Wyschinskische Rechtsprechung, nur um Stalins Politik mit desto grösserer »Unparteilichkeit« unterstützen zu können. Das Schicksal des Sozialismus, erklärte Bauer kürzlich, ist mit dem Schicksal der Sowjetunion verbunden.
»Und das Schicksal der Sowjetunion«, fährt er fort, »ist das Schicksal des Stalinismus, so lange nicht (!) die innere Entwicklung der Sowjetunion selbst die stalinistische Phase der Entwicklung überwindet«.
In diesem bemerkenswerten Satz spiegelt sich der ganze Bauer, der ganze Austromarxismus, die ganze Heuchelei und Fäulnis der Sozialdemokratie! »So lange« die stalinistische Bürokratie genügend stark ist, die fortschrittlichen Vertreter der »inneren Entwicklung« abzuschlachten, hält Bauer mit Stalin. Wenn die revolutionären Kräfte Bauer zum Trotz Stalin stürzen, dann wird Bauer grosszügig die »innere Entwicklung« anerkennen – d. h. mit einer Verspätung von wenigstens 10 Jahren.

Hinter den alten internationalen zottelt das Londoner Büro der Zentristen einher, welches die Merkmale eines Kindergartens, einer Schule für geistig zurückgebliebene Jünglinge und eines Invalidenheims harmonisch in sich vereint. Der Sekretär des Büros, Fenner Brockway, begann mit der Erklärung, dass eine Untersuchung der Moskauer Prozesse »der Sowjetunion schaden« könne, und schlug stattdessen eine Untersuchung… der politischen Tätigkeit Trotzkis durch eine »unparteiische« Kommission vor, die aus fünf unversöhnlichen Gegnern Trotzkis bestehen sollte. Brandler und Lovestone solidarisierten sich öffentlich mit Jagoda, sie zogen sich erst von Jeschow zurück. Jacob Walcher weigerte sich unter einem offensichtlich falschen Vorwand, vor der von John Dewey geleiteten internationalen Untersuchungskommission eine für Stalin ungünstige Zeugenaussage zu machen. Die verfaulte Moral dieser Leute ist nur ein Produkt ihrer verfaulten Politik.

Die erbärmlichste Rolle dürften jedoch die Anarchisten spielen. Wenn Stalinismus und Trotzkismus ein und dasselbe sind, wie sie in jedem Satz behaupten, weshalb sind dann die spanischen Anarchisten den Stalinisten dabei behilflich, sich an den Trotzkisten und gleichzeitig an den revolutionären Anarchisten zu rächen? Die ehrlicheren unter den anarchistischen Theoretikern antworten: damit bezahlen wir die Waffenlieferungen. Mit anderen Worten: das Ziel heiligt die Mittel. Aber was ist ihr Ziel? Die Anarchie? Der Sozialismus? Nein, nur die Rettung eben derselben bürgerlichen Demokratie, die den Erfolg des Faschismus vorbereitete. Niedrigen Zielen entsprechen niedrige Mittel.

Das ist die wirkliche Stellung der Figuren auf dem politischen Schachbrett der Welt!

Der Stalinismus – ein Produkt der alten Gesellschaft

Russland machte den grandiosesten Sprung vorwärts in der Geschichte, einen Sprung, in dem die fortschrittlichen Kräfte des Landes ihren Ausdruck fanden. In der gegenwärtigen Reaktion, deren Schwung dem der Revolution proportional ist, nimmt die Rückständigkeit ihre Rache. Der Stalinismus verkörpert diese Reaktion. Die Barbarei der alten russischen Gesellschaft auf neuen sozialen Grundlagen erscheint um so ekelhafter, als sie gezwungen ist sich hinter einer in der Geschichte beispiellosen Heuchelei zu verstecken.

Die Liberalen und Sozialdemokraten des Westens, die die russische Revolution gezwungen hatte an ihren vermoderten Ideen zu zweifeln, bekamen nunmehr neuen Mut. Das moralische Krebsgeschwür der stalinistischen Bürokratie schien ihnen eine Wiederherstellung des Liberalismus zu sein. Stereotype Sprüchlein werden ans Tageslicht gezogen: »Jede Diktatur enthält den Keim ihrer eigenen Entartung«, »nur die Demokratie garantiert die Entwicklung der Persönlichkeit«, und so weiter. Vom theoretischen Standpunkt gesehen verblüfft einen die Gegenüberstellung von Demokratie und Diktatur, die im gegebenen Fall eine Verurteilung des Sozialismus zu Gunsten der bürgerlichen Demokratie einschliesst, durch ihren Grad an Unwissenheit und Gewissenlosigkeit. Die Schande des Stalinismus, eine historische Realität, wird der Demokratie, einer supra-historischen Abstraktion, gegenübergestellt. Jedoch besitzt die Demokratie ebenfalls ihre Geschichte, in der es nicht an Schändlichkeiten fehlt. Um die Sowjetbürokratie zu charakterisieren, haben wir die Bezeichnungen Thermidor und Bonapartismus der Geschichte der bürgerlichen Demokratie entlehnt, weil – mögen die verspäteten liberalen Doktrinäre dies zur Kenntnis nehmen, – die Demokratie keineswegs auf demokratischem Weg zur Welt gekommen ist. Nur ein vulgärer Geist kann sich damit begnügen, auf dem Thema herumzukauen, dass der Bonapartismus »der natürliche Sprössling« des Jakobinertums war, die historische Strafe für die Verletzung der Demokratie und ähnliches mehr. Ohne die jakobinische Vergeltung am Feudalismus wäre die Entstehung der bürgerlichen Demokratie absolut undenkbar. Die Konstruktion eines Gegensatzes zwischen den konkreten historischen Etappen des Jakobinertums, des Thermidors und Bonapartismus und der idealisierten Abstraktion der »Demokratie« ist ebenso fehlerhaft wie die Konstruktion eines Gegensatzes zwischen den Geburtswehen und dem lebendigen Kind.

Der Stalinismus ist seinerseits keine Abstraktion der »Diktatur«, sondern die ungeheure bürokratische Reaktion gegen die proletarische Diktatur in einem rückständigen und isolierten Land. Die Oktoberrevolution vernichtete die Privilegien, führte Krieg gegen die soziale Ungleichheit, ersetzte die Bürokratie durch die Selbstverwaltung der Arbeiter, schaffte die Geheimdiplomatie ab, erstrebte die völlige Durchsichtigkeit aller sozialen Verhältnisse. Der Stalinismus führte die widerwärtigsten Privilegien wieder ein, verlieh der Ungleichheit einen provokatorischen Charakter, erstickte die Selbsttätigkeit der Massen in einem Polizeiabsolutismus, machte aus der Verwaltung ein Monopol für die Kremloligarchie und erneuerte den Machtfetischismus in einer Art und Weise, wie es sich die absolute Monarchie nicht hätte träumen lassen.

Die soziale Reaktion ist, wo immer sie auftritt, gezwungen, ihre wahren Ziele zu verstecken. Je schärfer der Übergang von der Revolution zur Reaktion, je abhängiger die Reaktion von den Traditionen der Revolution, d. h. je grösser ihre Furcht vor den Massen – desto mehr ist sie gezwungen, im Kampf gegen die Vertreter der Revolution zu Lüge und Fälschung zu greifen. Die stalinistischen Justizmorde sind kein Ergebnis der bolschewistischen »Amoral«. Wie alle bedeutenden Ereignisse in der Geschichte sind sie ein Produkt des konkreten sozialen Kampfes, und zwar des perfidesten und erbittertsten von allen: des Kampfes einer neuen Aristokratie gegen die Massen, die sie zur Macht brachten.

Es erfordert wirklich eine bodenlose intellektuelle und moralische Stumpfheit, die reaktionäre Polizeimoral des Stalinismus mit der revolutionären Moral der Bolschewiken zu identifizieren. Die Partei Lenins hat seit langem aufgehört zu existieren – sie wurde zwischen inneren Schwierigkeiten und dem Weltimperialismus zerrieben. An ihrer Stelle erhob sich die stalinistische Bürokratie, dieser Übertragungsmechanismus des Imperialismus. Die Bürokratie ersetzte im Weltmassstab den Klassenkampf durch die Klassenzusammenarbeit, den Internationalismus durch den Sozialpatriotismus. Um die herrschende Partei den Aufgaben der Reaktion anzupassen, »erneuerte« die Bürokratie ihre Zusammensetzung, indem sie Revolutionäre hinrichtete und Karrieristen rekrutierte.

Jede Reaktion erneuert, nährt und kräftigt diejenigen Elemente der historischen Vergangenheit, denen die Revolution einen Streich versetzte, ohne sie endgültig überwinden zu können. Die Methoden des Stalinismus treiben alle jene Methoden der Lüge, Brutalität und Gemeinheit, die den Herrschaftsmechanismus einer jeden Klassengesellschaft, unter Einschluss auch der Demokratie, darstellen, zu ihrer höchsten Spannung, zur Kulmination und dadurch zur Absurdität. Der Stalinismus ist nichts als eine Sammlung aller Ungeheuerlichkeiten des historischen Staates, dessen boshafteste Karikatur und abscheulichste Grimasse. Wenn die Vertreter der alten Gesellschaft dem Krebsgeschwür des Stalinismus puritanisch eine sterilisierte demokratische Abstraktion gegenüberstellen, können wir ihnen, wie der gesamten alten Gesellschaft, mit vollem Recht empfehlen, sich in dem verzerrten Spiegel des Sowjetthermidors selbst zu bewundern. Zwar übertrifft die GPU in der Nacktheit ihrer Verbrechen bei weitem alle anderen Herrschaftsformen. Aber das erklärt sich aus dem ungeheuern Ausmass der Ereignisse, die das vom verfallenden Weltimperialismus umgebene Russland erschüttern.

Unter den Liberalen und Radikalen gibt es eine Reihe von Leuten, die sich die Methode der materialistischen Interpretation der Ereignisse angeeignet haben und sich selbst für Marxisten halten. Dies hindert sie jedoch nicht daran, bürgerliche Journalisten, Professoren oder Politiker zu bleiben. Ein Bolschewik, der die materialistische Methode nicht auch in der Sphäre der Moral anwendet, ist natürlich unvorstellbar. Aber diese Methode dient ihm nicht allein zur Interpretation der Ereignisse, sondern in erster Linie zur Schaffung der revolutionären Partei des Proletariats. Ohne völlige Unabhängigkeit von der Bourgeoisie und ihrer Moral ist diese Aufgabe unmöglich zu erfüllen. Jedoch regiert gegenwärtig die bürgerliche öffentliche Meinung in vollem Ausmass über die offizielle Arbeiterbewegung, von William Green in den Vereinigten Staaten über Léon Blum und Maurice Thorez in Frankreich bis zu García Oliver in Spanien. In dieser Tatsache findet der reaktionäre Charakter der gegenwärtigen Periode seinen schärfsten Ausdruck.

Ein revolutionärer Marxist kann eine historische Mission nicht beginnen, ohne moralisch mit der bürgerlichen öffentlichen Meinung und deren Agenturen im Proletariat gebrochen zu haben. Hierzu ist moralischer Mut eines ganz anderen Kalibers erforderlich, als in Versammlungen den Mund aufzureissen und »Nieder mit Hitler!«, »Nieder mit Franco!« zu schreien. Eben dieser entschlossene, völlig durchdachte, unbeugsame Bruch der Bolschewiken mit der konservativen Moralphilosophie versetzt den demokratischen Phrasendreschern, Salonpropheten und Kaffeehaushelden einen tödlichen Schreck. Hieraus leiten sich ihre Klagen über die »Amoral« der Bolschewiken ab.

Dass diese Leute bürgerliche Moral mit Moral »im allgemeinen« identifizieren, kann vielleicht am besten auf dem äussersten linken Flügel der Kleinbourgeoisie, bei den zentristischen Parteien des sogenannten Londoner Büros, nachgewiesen werden. Da diese Organisation das Programm der proletarischen Revolution »anerkennt«, scheinen unsere Differenzen mit ihr auf den ersten Blick zweitrangiger Natur. in Wirklichkeit ist ihre »Anerkennung« wertlos, weil sie sie zu nichts verpflichtet. Sie »anerkennen« die proletarische Revolution, wie die Kantianer den kategorischen Imperativ anerkennen, d. h. als ein heiliges Prinzip, das jedoch im täglichen Leben unanwendbar ist. In der Sphäre der praktischen Politik vereinigen sie sich mit den schlimmsten Feinden der Revolution (Reformisten und Stalinisten) zum Kampf gegen uns. Ihr ganzes Denken ist mit Doppelzüngigkeit und Lüge durchtränkt. Wenn sich die Zentristen im allgemeinen nicht zu grösseren Verbrechen aufschwingen, so nur, weil sie ewig auf den Seitenwegen der Politik verbleiben: sie sind sozusagen kleine Taschendiebe der Geschichte. Eben deshalb fühlen sie sich berufen, die Arbeiterbewegung mit einer neuen Moral zu regenerieren.

Auf dem äussersten linken Flügel dieser »linken« Brüderschaft steht eine kleine und politisch völlig bedeutungslose Gruppe deutscher Emigranten, die das Blatt »Neuer Weg« herausgeben. Lasst uns tiefer hinabsteigen und diesen »revolutionären« Anklägern der bolschewistischen »Amoral« lauschen. in einem zweideutigen und halb lobenden Ton erklärt der »Neue Weg«, dass sich die Bolschewiken von den anderen Parteien durch ihren Verzicht auf Heuchelei vorteilhaft unterscheiden – sie bekennen sich offen zu dem Prinzip, das andere nur schweigend anwenden, nämlich »Der Zweck heiligt die Mittel«. Aber nach der Überzeugung des »Neuen Weg« ist dieser »bürgerliche« Satz mit einer »gesunden sozialistischen Bewegung« unvereinbar
»Die Lüge und Schlimmeres sind keine erlaubten Kampfmittel, wie Lenin noch annahm«.
Das Wort »noch« bedeutet augenscheinlich, dass Lenin seine Irrtümer nur deshalb nicht überwand, weil er die Entdeckung des »Neuen Weg« nicht mehr erlebte.

In der Formulierung: »Lüge und Schlimmeres« bedeutet »Schlimmeres« offenbar Gewalt, Mord und so weiter, da unter gleichen Bedingungen Gewalt schlimmer ist als Lüge, und Mord – die extremste Form der Gewalt. Wir kommen also zu dem Schluss, dass Lüge, Gewalt und Mord mit einer »gesunden sozialistischen Bewegung« unvereinbar sind. Was ist jedoch unsere Beziehung zur Revolution? Der Bürgerkrieg ist der grausamste aller Kriege. Er ist unter den heutigen Bedingungen der Technik nicht nur ohne Gewalt gegen Unbeteiligte, sondern selbst ohne Mord an Greisen und Kindern unvorstellbar. Muss man an Spanien erinnern? Die einzig mögliche Antwort der »Freunde« des republikanischen Spanien lautet: Bürgerkrieg ist besser als faschistische Sklaverei. Aber diese vollkommen richtige Antwort bedeutet nur, dass der Zweck (Demokratie oder Sozialismus) unter gewissen Bedingungen solche Mittel wie Gewalt und Mord heiligt. Von Lügen gar nicht zu reden! Ein Krieg ohne Lügen ist ebenso unvorstellbar wie eine Maschine ohne Öl. Um die Cortessitzung (1. Februar 1938) vor faschistischen Bomben zu schützen, belog die Barcelonaer Regierung sogar mehrmals vorsätzlich die Journalisten und ihre eigene Bevölkerung. Hätte sie überhaupt anders handeln können? Wer das Ziel Sieg über Franco akzeptiert, muss auch das Mittel akzeptieren: den Bürgerkrieg mit seinem Gefolge von Schrecken und Verbrechen.

Aber nichtsdestoweniger sind doch Lüge und Gewalt »an sich« zu verurteilen? Selbstverständlich: ebenso wie die Klassengesellschaft, die sie erzeugt. Eine Gesellschaft ohne soziale Widersprüche wird natürlich eine Gesellschaft ohne Lüge und Gewalt sein. Doch kann man zu dieser Gesellschaft nicht anders eine Brücke schlagen, als unter Anwendung von revolutionären, d. h. gewaltsamen Mitteln. Die Revolution ist selbst ein Produkt der Klassengesellschaft und trägt notwendigerweise deren Züge. Vom Standpunkt der »ewigen Wahrheiten« ist die Revolution natürlich »unmoralisch«. Aber das besagt nur, dass die idealistische Moral konterrevolutionär ist, d. h. im Dienst der Ausbeuter steht.

»Der Bürgerkrieg«, wird der verdutzte Philosoph vielleicht antworten, »ist aber eine beklagenswerte Ausnahme. In Friedenszeiten sollte jedoch eine gesunde sozialistische Bewegung ohne Gewalt und Lügen auskommen können«. Eine derartige Antwort stellt jedoch nur eine pathetische Ausflucht dar. Es gibt keine unüberschreitbare Grenzlinie zwischen »friedlichem« Klassenkampf und Revolution. Jeder Streik enthält alle Elemente des Bürgerkriegs im Keim. Jede Seite versucht, den Gegner durch eine übertriebene Darstellung ihrer Kampfentschlossenheit und ihrer materiellen Hilfsquellen zu beeindrucken. Durch ihre Presse, Agenten und Spione tun die Kapitalisten ihr Möglichstes, die Streikenden einzuschüchtern und zu demoralisieren. Die Streikwachen der Arbeiter sind ihrerseits gezwungen, wo Überzeugung nicht hilft, zur Gewalt zu greifen. So sind »Lüge und Schlimmeres« vom Klassenkampf, selbst in seiner elementarsten Form, nicht zu trennen. Dem bleibt hinzuzufügen, dass selbst die Begriffe von Wahrheit und Lüge aus sozialen Widersprüchen geboren wurden.

Die Revolution und die Einrichtung der Geisel

Stalin verhaftet und erschiesst die Kinder seiner Gegner, nachdem diese Gegner auf Grund falscher Anklagen hingerichtet worden sind. Diejenigen Sowjetdiplomaten, die sich einen Ausdruck des Zweifels an der Unfehlbarkeit Jagodas oder Jeschows erlaubten, zwingt Stalin, aus dem Ausland zurückzukehren, indem er ihre Familien als Geiseln nimmt. Die Moralisten des »Neuen Weg« halten es für notwendig und an der Zeit, uns bei dieser Gelegenheit an die Tatsache zu erinnern, dass Trotzki im Jahre 1919 »ebenfalls« ein Gesetz über Geiseln einführte. Aber hier müssen wir wörtlich zitieren:
»Die Haftbarmachung unschuldiger Angehöriger durch Stalin ist eine abscheuliche Barbarei. Sie bleibt es aber auch, wenn sie von Trotzki dekretiert ist (1919).«
Da haben wir die idealistische Moral in ihrer ganzen Schönheit! Ihre Kriterien sind so falsch wie die Normen der bürgerlichen Demokratie – in beiden Fällen wird Gleichheit dort vorausgesetzt, wo es in Wirklichkeit nicht die Spur davon gibt.

Wir wollen hier nicht auf der Tatsache bestehen, dass das Dekret von 1919 kaum zu einer einzigen Hinrichtung von Angehörigen jener Offiziere führte, deren Verrat nicht nur den Verlust unzähliger Menschenleben verursachte, sondern die Revolution selbst mit direkter Vernichtung bedrohte. Das ist letzten Endes nicht die Frage. Wenn die Revolution von Anfang an weniger überflüssige Grossmut entfaltet hätte, wären Hunderttausende von Menschenleben gespart worden. So oder so trage ich die volle Verantwortung für das Dekret von 1919. Es war eine notwendige Massnahme im Kampf gegen die Unterdrücker. Nur im historischen Inhalt des Kampfes liegt die Rechtfertigung des Dekrets wie im allgemeinen die Rechtfertigung des Bürgerkriegs, der ebenfalls nicht ohne Berechtigung eine »abscheuliche Barbarei« genannt werden kann.

Wir überlassen es einem Emil Ludwig oder seinesgleichen, das Portrait Abraham Lincolns mit rosigen Flügelchen an den Schultern zu zeichnen. Lincolns Bedeutung liegt darin, dass er vor den schärfsten Mitteln nicht zurückschreckte, sobald er sie zur Erreichung des grossen historischen Ziels, das der jungen Nation von der Entwicklung gesteckt wurde, notwendig erachtete. Die Frage geht nicht einmal darum, welches der beiden kriegführenden Lager die grösste Zahl von Opfern erlitt oder verursachte. Die Geschichte hat verschiedene Massstäbe für die Grausamkeit der Nordtruppen und der Südtruppen im Bürgerkrieg. Mögen verächtliche Eunuchen uns nicht erzählen, der Sklavenbesitzer, der durch List und Gewalt den Sklaven in Ketten hält, und der Sklave, der durch List oder Gewalt die Ketten zerbricht, seien vor dem Gericht der Moral gleich!

Nachdem die Pariser Kommune in Blut ertränkt worden war und das reaktionäre Gesindel der ganzen Welt deren Banner in den Kot der Schmähungen und Verleumdungen zog, passten sich nicht wenige demokratische Philister der Reaktion an und beschimpften die Kommunarden wegen der Erschiessung von 64 Geiseln mit dem Pariser Erzbischof an der Spitze. Marx zögerte keinen Augenblick, diese Bluttat der Kommune zu verteidigen, in einer Adresse des Generalrats der Ersten Internationale, in deren Zeilen man echte brodelnde Lava verspürt, ruft uns Marx zuerst ins Gedächtnis, dass die Bourgeoisie im Kampfe sowohl gegen die Kolonialvölker wie gegen die eigenen arbeitenden Massen Geiseln genommen hat, danach erinnert er an die systematische Erschiessung der gefangenen Kommunekämpfer durch die wahnsinnige Reaktion und fährt fort
»… der Kommune blieb nichts übrig, zum Schutz des Lebens dieser Gefangenen, als zur preussischen Sitte des Geiselngreifens ihre Zuflucht zu nehmen. Das Leben der Geiseln war aber und abermals verwirkt durch das anhaltende Erschiessen von Gefangenen durch die Versailler. Wie konnte man ihrer noch länger schonen nach dem Blutbade, womit Mac-Mahons Prätorianer ihren Einmarsch in Paris feierten? Sollte auch das letzte Gegengewicht gegen die rücksichtslose Wildheit der Bourgeoisieregierungen – die Ergreifung von Geiseln – zum blossen Gespött werden.«[7]
So verteidigte Marx die Hinrichtung der Geiseln, trotzdem hinter seinem Rücken im Generalrat nicht wenige Fenner Brockways, Norman Thomas und sonstige Otto Bauers sassen. Aber die Empörung des Weltproletariats gegen die Greuel der Versailler war so frisch, dass die reaktionären Moralpfuscher vorzogen zu schweigen und für sie günstigere Zeiten abzuwarten, die leider allzubald eintreffen sollten. Erst nach dem endgültigen Triumph der Reaktion richteten die kleinbürgerlichen Moralisten zusammen mit den Gewerkschaftsbürokraten und den anarchistischen Phrasenhelden die Erste Internationale zu Grunde.

Als die Oktoberrevolution sich an einer Front von 8000 Kilometern gegen die vereinten Kräfte des Imperialismus verteidigte, folgten die Arbeiter der ganzen Welt dem Verlauf des Kampfes mit solch heisser Sympathie, dass es mit grossem Risiko verbunden war, »die abscheuliche Barbarei« des Geiselngreifens vor ihrem Forum anzuprangern. Die völlige Entartung der Sowjetunion und der Sieg der Reaktion in einer Reihe von Ländern mussten eintreffen ehe die Moralisten aus ihren Ritzen hervorkrochen… um Stalin zu helfen. Denn wenn es wahr ist, dass die Repressalien zum Schutz der Privilegien der neuen Aristokratie den gleichen moralischen Wert besitzen wie die revolutionären Massnahmen des Befreiungskampfes, dann ist Stalin vollkommen gerechtfertigt, wenn… ja wenn nicht die proletarische Revolution selbst vollkommen gerichtet ist.

Dabei sind die Herren Moralisten, die Beispiele für Unmoral in der Geschichte der russischen Revolution suchen, gleichzeitig gezwungen, ihre Augen vor der Tatsache zu verschliessen, dass auch die spanische Revolution zum Geiselngreifen ihre Zuflucht nahm, wenigstens solange sie eine echte Massenrevolution war. Wenn die Herren Ankläger es nicht wagen, die spanischen Arbeiter wegen ihrer »abscheulichen Barbarei« anzugreifen, so nur, weil der Boden der Pyrenäenhalbinsel noch zu heiss für sie ist. Es ist unvergleichlich bequemer, auf 1919 zurückzugehen. Das ist bereits Geschichte: die alten Leute haben vergessen, und die jungen haben noch nicht gelernt. Aus dem gleichen Grunde kehren Philister verschiedener Schattierungen mit solcher Hartnäckigkeit zu Kronstadt und Machno zurück: hier ist ein offener Abzug für Moralausdünstungen.

»Kaffernmoral«

Man muss den Moralisten schon darin beipflichten, dass die Geschichte grausame Wege wählt. Aber welche Konklusion für die praktische Arbeit ist daraus zu ziehen? Leo Tolstoi empfahl, dass wir die gesellschaftlichen Konventionen verachten und uns selbst vervollkommnen sollten. Mahatma Gandhi rät uns, Ziegenmilch zu trinken. Die »revolutionären« Moralisten des »Neuen Weg« sind leider von ähnlichen Rezepten nicht weit entfernt.
»Wir müssen loskommen von jener Kaffernmoral«, predigen sie, »für die Unrecht nur ist, was der Feind tut«.
Ein ausgezeichneter Rat: »Wir müssen loskommen…«. Tolstoi empfahl ausserdem, dass wir von den Sünden des Fleisches loskommen sollten. Nach der Statistik zu urteilen, scheint jedoch diese Empfehlung nicht von Erfolg gekrönt zu sein. Unsere zentristischen Mannequins haben es fertig gebracht, sich zu einer Moral über den Klassen im Rahmen der Klassengesellschaften zu erheben. Aber schon seit fast 2000 Jahren steht geschrieben: »Liebet Eure Feinde«, »Biete auch die andere Backe dar…«. Und doch ist selbst der heilige römische Vater bis jetzt vom Hass gegen seine Feinde noch nicht »losgekommen«. Wahrhaftig, Satan, der Feind der Menschheit, ist mächtig!

Wer die Handlungen der Ausbeuter und der Ausgebeuteten mit verschiedenen Kriterien misst, steht nach Ansicht dieser bemitleidenswerten Mannequins auf dem Niveau der »Kaffernmoral«. Zuallererst ziemt sich solch verächtlicher Hinweis auf die Kaffern wohl kaum für die Feder eines »Sozialisten«. Ist die Moral der Kaffern wirklich so schlecht? Hören wir, was die Encyclopaedia Britannica darüber sagt:
»In ihren politischen und sozialen Beziehungen entfalten sie viel Takt und grosse Intelligenz; sie sind bemerkenswert tapfer, kriegerisch und gastfreundlich und waren ehrlich und rechtschaffen, bis sie durch Kontakt mit den Weissen misstrauisch, rachsüchtig und diebisch wurden und ausserdem die meisten europäischen Laster erwarben.«
Man kommt unvermeidlich zu dem Schluss, dass die weissen Missionare, die Prediger der ewigen Moral, an der Korrumpierung der Kaffern Teil haben.

Wenn wir dem Kaffernsklaven erzählten, wie sich die Arbeiter auf einem Teil unseres Planeten erhoben und ihre Ausbeuter überrumpelten, würde ihm das sehr gefallen. Andererseits würde es ihn sehr bekümmern zu entdecken, dass es den Unterdrückern gelang, die Unterdrückten zu hintergehen. Ein Kaffer, der nicht von weissen Missionaren bis ins Mark demoralisiert worden ist, wird niemals ein und dieselben abstrakten Moralvorschriften auf Unterdrücker und Unterdrückte anwenden. Doch wird er unschwer begreifen, wenn man ihm erklärt, dass es die Funktion dieser abstrakten Vorschriften ist, die Unterdrückten an der Erhebung gegen ihre Unterdrücker zu hindern.

Welch lehrreiches Zusammentreffen: Um die Bolschewiki zu verleumden, müssen die Missionare des »Neuen Weg« gleichzeitig die Kaffern verleumden; überdies folgt die Verleumdung in beiden Fällen der offiziellen bürgerlichen Linie: gegen die Revolutionäre und gegen die farbigen Rassen. Nein, wir ziehen die Kaffern allen Missionaren, sowohl geistlichen wie weltlichen, vor!

Wir müssen jedoch das Bewusstsein der Moralisten des »Neuen Weg« und ähnlicher Sackgassenpolitiker nicht überschätzen. Die Absichten dieser Leute sind gar nicht so schlecht. Aber ihren Absichten zum Trotz dienen sie als Hebel im Mechanismus der Reaktion. In einer Periode wie der heutigen, wo die kleinbürgerlichen Parteien, die sich an die liberale Bourgeoisie oder deren Schatten (Volksfrontpolitik) anklammern, das Proletariat paralysieren und dem Faschismus den Weg bereiten (Spanien, Frankreich…), werden die Bolschewiken, d. h. die revolutionären Marxisten, in den Augen der bürgerlichen öffentlichen Meinung besonders verhasst. Fast der gesamtpolitische Druck unserer Zeit geht von rechts nach links. Letzten Endes trägt eine winzige revolutionäre Minderheit das ganze Gewicht der Reaktion auf ihren Schultern. Diese Minderheit heisst Vierte Internationale[8]. Voila l’ennemi! Das ist der Feind!

Im Mechanismus der Reaktion nimmt der Stalinismus viele führende Positionen ein. Alle Gruppen der bürgerlichen Gesellschaft, einschliesslich der Anarchisten, bedienen sich seiner im Kampf gegen die proletarische Revolution. Gleichzeitig versuchen die kleinbürgerlichen Demokraten, das Odium für die Verbrechen ihrer Moskauer Verbündeten wenigstens zu 50 % auf die unversöhnliche revolutionäre Minderheit abzuwälzen. Hierin liegt der Sinn des neuen Modesatzes: »Trotzkismus und Stalinismus sind ein und dasselbe.« Die Gegner der Bolschewiken und der Kaffern helfen auf diese Weise der Reaktion, die Partei der Revolution zu verleumden.

Der »amoralische« Lenin

Die russischen »Sozialrevolutionäre« sind von jeher die moralischen Individuen gewesen: im Grunde waren es lauter Ethiker. Das hinderte sie jedoch nicht daran, zur Zeit der Revolution die russischen Bauern zu betrügen. Im Pariser Organ Kerenskis, dieses wahrhaft ethischen Sozialisten, der Stalins Vorläufer in der Fabrikation falscher Anklagen gegen die Bolschewiken war, schreibt ein anderer alter Sozialrevolutionär, Zenzinow:
»Lenin lehrte bekanntlich, dass die Kommunisten zur Erreichung der von ihnen gewünschten Zwecke zu allen möglichen Listen und Kniffen und zur Verheimlichung der Wahrheit Zuflucht nehmen könnten und bisweilen müssten…«.
Daraus ergibt sich die rituelle Schlussfolgerung: Der Stalinismus ist der natürliche Sprössling des Leninismus.

Unglücklicherweise ist der ethische Ankläger nicht einmal im Stand, ehrlich zu zitieren. Lenin sagte:
»Man muss es verstehen… zu allen möglichen Listen, Kniffen, illegalen Methoden, zur Verschweigung, Verheimlichung der Wahrheit bereit zu sein, um nur in die Gewerkschaften einzudringen, in ihnen zu bleiben und dort um jeden Preis kommunistische Arbeit zu leisten.«[9]
Die Notwendigkeit für Listen und Kniffe ergibt sich nach Lenins Erläuterung aus der Tatsache, dass die reformistische Bürokratie die Arbeiter an das Kapital verrät, die Revolutionäre hetzt und verfolgt und sogar die bürgerliche Polizei gegen sie in Anspruch nimmt. »Kniffe« und »Verheimlichung der Wahrheit« sind in solchem Fall rechtmässige Waffen der Notwehr gegen die perfide reformistische Bürokratie.

Die Partei unseres Zenzinow leistete einst illegale Arbeit gegen den Zarismus und später – gegen die Bolschewiken. In beiden Fällen griff sie zu Listen, Kniffen, falschen Pässen und anderen Formen der »Verheimlichung der Wahrheit«. Alle diese Mittel wurden nicht nur als ethisch, sondern auch als heroisch angesehen, weil sie den politischen Zielen der Kleinbourgeoisie entsprachen. Aber die Situation ändert sich sofort, sobald die proletarischen Revolutionäre gezwungen sind, zu konspirativen Massnahmen gegen die kleinbürgerliche Demokratie überzugehen. Wie wir sehen, hat der Schlüssel zur Moral dieser Herren Klassencharakter!

Der »amoralische« Lenin rät offen in der Presse, gegen verräterische Führer militärische List anzuwenden. Und der moralische Zenzinow streicht böswillig Anfang und Ende vom Zitat, um den Leser zu betrügen: der ethische Ankläger erweist sich wie gewöhnlich als kleiner Schwindler. Nicht umsonst liebte Lenin zu wiederholen: es ist sehr schwer, einen gewissenhaften Gegner zu finden!

Ein Arbeiter, der vor dem Kapitalisten die »Wahrheit« über die Pläne der Streikenden nicht verbirgt, ist ein gewöhnlicher Verräter, der Verachtung und Boykott verdient. Der Soldat, der dem Feind die »Wahrheit« offenbart, wird als Spion verurteilt. Kerenski versuchte, den Bolschewiken anklägerisch zu unterschieben, sie hätten Ludendorffs Generalstab die »Wahrheit« mitgeteilt. Es scheint, dass selbst die »heilige Wahrheit« kein Ziel an sich ist. Über ihr stehen gebieterische Kriterien, die, wie die Analyse zeigt, Klassencharakter tragen.

Ein Kampf auf Leben und Tod ist undenkbar ohne militärische List, d. h. ohne Lüge und Betrug. Dürfen denn die deutschen Arbeiter nicht Hitlers Polizei betrügen? Oder ist vielleicht die Haltung der russischen Bolschewiken »unmoralisch«, wenn sie die GPU täuschen? Jeder fromme Bürger applaudiert der Geschicklichkeit der Polizei, wenn es ihr durch Anwendung von List gelingt, einen gefährlichen Verbrecher zu fassen. Und im Kampf für den Sturz der imperialistischen Verbrecher sollte die Anwendung von List verboten sein?

Norman Thomas spricht über »jene sonderbare kommunistische Amoral, für die nur die Partei und deren Macht zählen«. Dabei wirft Norman Thomas die heutige Komintern, d. h. die Verschwörung der Kremlbürokratie gegen die Arbeiterklasse, mit der bolschewistischen Partei, die die Verschwörung der fortgeschrittenen Arbeiter gegen die Bourgeoisie verkörperte, auf einen Haufen. Diese durch und durch unehrliche Nebeneinanderstellung haben wir bereits oben genügend entlarvt. Der Stalinismus versteckt sich nur hinter dem Kult der Partei; in Wirklichkeit zertrümmert er die Partei und tritt sie in den Kot. Es stimmt jedoch, dass für einen Bolschewiken die Partei alles bedeutet. Das überrascht den Salonsozialisten Thomas, denn er verwirft eine solche Beziehung zwischen Revolutionär und Revolution, weil er selbst nur ein Bürger mit einem sozialistischen »Ideal« ist. In den Augen von Thomas und seinesgleichen ist die Partei nur ein zweitrangiges Instrument für Wahlkombinationen und ähnliche Zwecke, nicht mehr. Sein persönliches Leben, seine Interessen, Bindungen und Moralkriterien liegen ausserhalb der Partei. Mit feindseliger Verwunderung blickt er auf den Bolschewiken herab, für den die Partei eine Waffe ist zur revolutionären Umgestaltung der Gesellschaft, einschliesslich ihrer Moral. Für einen revolutionären Marxisten kann es zwischen der persönlichen Moral und den Interessen der Partei keinen Widerspruch geben, da in seinem Bewusstsein die Partei die höchsten Aufgaben und Ziele der Menschheit verkörpert. Es wäre naiv, anzunehmen, Thomas habe eine höhere Auffassung der Moral als die Marxisten. Er hat nur eine niedrige Konzeption der Partei.

»Alles, was entsteht, ist wert, dass es zu Grunde geht«, sagt der Dialektiker Goethe. Der Untergang der bolschewistischen Partei – eine Episode in der Weltreaktion – schmälert jedoch nicht ihre welthistorische Bedeutung. in der Periode ihres revolutionären Aufstiegs, d. h. als sie wirklich die proletarische Avantgarde repräsentierte, war sie die ehrlichste Partei in der Geschichte. Natürlich täuschte sie den Klassenfeind, wo immer sie konnte; auf der anderen Seite sagte sie den Arbeitern die Wahrheit, die ganze Wahrheit, und nichts als die Wahrheit. Nur dank dem gewann sie das Vertrauen der Arbeiter in einem Masse, wie nie zuvor eine andere Partei in der Welt.

Die Kommis der herrschenden Klasse nennen die Organisatoren dieser Partei »amoralisch«. In den Augen der bewussten Arbeiter trägt dieser Vorwurf den Charakter eines Kompliments. Er bedeutet: Lenin weigerte sich, die Moralvorschriften anzuerkennen, die die Sklavenhalter für ihre Sklaven aufgestellt haben, ohne sich selbst jemals danach zu richten; er forderte das Proletariat auf, den Klassenkampf auch auf die Sphäre der Moral auszudehnen. Wer sich den vom Feinde aufgestellten Vorschriften unterwirft, kann niemals diesen Feind besiegen!

Lenins »Amoral«, d. h. seine Verwerfung einer Moral über den Klassen, hinderte ihn nicht, sein ganzes Leben hindurch ein und demselben Ideal treu zu bleiben, sein ganzes Sein der Sache der Unterdrückten zu widmen, auf dem Gebiet der Ideen die grösste Gewissenhaftigkeit und auf dem der Tat die grösste Furchtlosigkeit zu entfalten, sich dem »gewöhnlichen« Arbeiter, der schutzlosen Frau, dem Kinde gegenüber ohne die geringste Spur von Überheblichkeit zu verhalten. Leuchtet es nicht ein, dass »Amoral« im gegebenen Fall nur ein Synonym für eine höhere menschliche Moral ist?

Eine lehrreiche Episode

Hier ist es am Platze, eine Episode zu berichten, die trotz ihrer bescheidenen Dimensionen den Unterschied zwischen ihrer Moral und der unsrigen gar nicht so schlecht illustriert, im Jahre 1935 entwickelte ich in einem Brief an meine belgischen Freunde die Auffassung, dass der Versuch einer jungen revolutionären Partei, »ihre eigenen« Gewerkschaften zu gründen, Selbstmord gleichkommt. Man muss die Arbeiter da aufsuchen, wo sie sind. Aber dann muss man durch seine Beiträge einen opportunistischen Apparat am Leben erhalten? »Natürlich«, erwiderte ich, »um das Recht zu erwerben, die Reformisten zu bekämpfen, muss man ihnen zeitweilig einen Beitrag zahlen«. Aber die Reformisten werden uns nicht erlauben, sie zu bekämpfen? »Das ist richtig«, erwiderte ich, »der Kampf erfordert konspirative Massnahmen. Die Reformisten sind die politische Polizei der Bourgeoisie innerhalb der Arbeiterklasse. Wir müssen ohne ihre Erlaubnis und gegen ihr Verbot handeln…«. Bei einer zufälligen Haussuchung im Hause des Genossen D., wenn ich nicht irre, im Zusammenhang mit der Angelegenheit der Waffenlieferungen an die spanischen Arbeiter, beschlagnahmte die belgische Polizei meinen Brief. Nach wenigen Tagen wurde er veröffentlicht. Die Presse Vanderveldes, de Mans und Spaaks schleuderte natürlich ihre Blitze gegen meinen »Machiavellismus« und »Jesuitismus«. Und wer sind diese Ankläger? Vandervelde, Präsident der Zweiten Internationale im Laufe vieler Jahre, ist seit langem ein zuverlässiger Diener des belgischen Kapitals. De Man, der in einer Reihe schwerer Wälzer den Sozialismus mit einer idealistischen Moral veredelte und der Religion den Hof machte, ergriff die erste beste Gelegenheit, um die Arbeiter zu verraten und ein gewöhnlicher bürgerlicher Minister zu werden. Spaaks Fall ist noch reizender. Vor anderthalb Jahren gehörte dieser Herr zur linkssozialistischen Opposition und besuchte mich in Frankreich, um mit mir die Methoden des Kampfes gegen die Bürokratie Vanderveldes zu beraten. Ich vertrat die gleichen Auffassungen, die später mein Brief enthielt. Doch ein Jahr nach seinem Besuch zog Spaak die Rosen den Dornen vor. Er verriet seine Genossen von der Opposition und wurde einer der zynischsten Minister des belgischen Kapitals. In den Gewerkschaften und in ihrer eigenen Partei erstickten diese Herren jede kritische Stimme, bestechen und korrumpieren systematisch die fortgeschrittenen Arbeiter und schliessen ebenso systematisch die widerspenstigen aus. Sie unterscheiden sich von der GPU nur dadurch, dass sie bisher noch kein Blut vergossen haben – als gute Patrioten sparen sie das Arbeiterblut für den kommenden imperialistischen Krieg auf. Es ist klar: nur eine Ausgeburt des Teufels, ein moralisches Scheusal, ein »Kaffer«, ein Bolschewik kann den Arbeitern raten, im Kampf gegen diese Herren die Regeln der Konspiration zu beobachten!

Vom Standpunkt des belgischen Gesetzes enthielt mein Brief natürlich nichts Strafwürdiges. Die »demokratische« Polizei hatte die Pflicht, dem Adressaten den Brief mit einer Entschuldigung zurückzugeben. Die Sozialistische Partei hatte die Pflicht, gegen die Haussuchung zu protestieren, die von der Sorge um die Interessen des Generals Franco diktiert war. Aber die Herren Sozialisten scheuten sich nicht, sich der Dienste der unkorrekten Polizei zu bedienen – sonst wäre ihnen ja schon eine glückliche Gelegenheit entgangen, die Überlegenheit ihrer Moral über die Amoral der Bolschewiken ein weiteres Mal zur Schau zu stellen. Jede Einzelheit in dieser Episode ist symbolisch. Die belgischen Sozialdemokraten schütteten die Kübel ihrer Empörung gerade dann über mich aus, als ihre norwegischen Gesinnungsgenossen meine Frau und mich hinter Schloss und Riegel sperrten, um unsere Verteidigung gegen die Anklagen der GPU zu verhindern. Die norwegische Regierung wusste sehr gut, dass die Moskauer Anklagen falsch waren: so schrieb es die offiziöse sozialdemokratische Zeitung in den ersten Tagen offen. Aber Moskau rührte die norwegischen Schiffsreeder und Fischgrosshändler an ihrer Brieftasche – und die Herren Sozialdemokraten krochen sofort auf allen Vieren. Der Führer der Partei, Martin Tranmael, ist nicht nur eine Autorität in Fragen der Moral, sondern offenbar ein rechtschaffener Mensch: er trinkt nicht, raucht nicht, geniesst kein Fleisch und badet im Winter in einem Eisloch. Das hinderte ihn nicht, nachdem er uns auf Befehl der GPU hatte verhaften lassen, mich in den Spalten seiner Zeitung durch einen norwegischen Agenten der GPU, eines gewissen Jakob Friis – einen Kerl ohne Ehre und Gewissen – zu verleumden. Doch genug…

Die Moral dieser Herrschaften besteht aus konventionellen Rezepten und Redensarten, hinter denen sie ihre Interessen, Appetite und Ängste verstecken. Die Mehrzahl von ihnen ist aus Ehrgeiz oder Gewinnsucht zu jeder Niedrigkeit, wie Verleumdung der Überzeugung, Treulosigkeit und Verrat, bereit. In der hohen Sphäre persönlicher Interessen heiligt der Zweck jedes Mittel. Eben deshalb verlangen sie einen besonderen Moralkodex, dauerhaft und dazu elastisch wie ein guter Hosenträger. Sie verabscheuen jeden, der ihre Berufsgeheimnisse vor den Massen entlarvt. In »friedlichen« Zeiten drücken sie – im Gassenton oder in »philosophischer« Sprache – ihren Hass in Verleumdungen aus. In Zeiten scharfer sozialer Konflikte – wie gegenwärtig in Spanien – ermorden diese Moralisten Hand in Hand mit der GPU die Revolutionäre. Um sich vor sich selbst zu rechtfertigen, wiederholen sie: »Trotzkismus und Stalinismus sind ein und dasselbe«.

Die dialektische Wechselbeziehung zwischen Ziel und Mittel

Ein Mittel ist nur durch das mit ihm verfolgte Ziel zu rechtfertigen. Aber das Ziel bedarf seinerseits der Rechtfertigung. Vom marxistischen Standpunkt, der die historischen Interessen des Proletariats zum Ausdruck bringt, ist das Ziel gerechtfertigt, wenn es dazu führt, die Macht des Menschen über die Natur zu vermehren und die Macht des Menschen über den Menschen zu vernichten.

»Das bedeutet also, dass zur Erreichung dieses Ziels alles erlaubt ist?« wird der Philister sarkastisch fragen – und er beweist damit, dass er nichts begriffen hat. Erlaubt ist, so antworten wir, was wirklich zur Befreiung der Menschheit führt. Da dieses Ziel nur durch Revolution erreicht werden kann, trägt die Befreiungsmoral des Proletariats notwendigerweise revolutionären Charakter. Sie tritt nicht nur jedem religiösen Dogma, sondern auch allen idealistischen Fetischen, diesen philosophischen Gendarmen der herrschenden Klasse unversöhnlich entgegen. Ihre Regeln leiten sich aus den Entwicklungsgesetzen der Gesellschaft ab, also in erster Linie aus dem Klassenkampf, dem obersten aller Gesetze.

»Alles gut und schön«, wird der Moralist hartnäckig erwidern, »aber bedeutet das nun, dass im Kampf gegen die Kapitalisten alle Mittel erlaubt sind: Lüge, Schwindel, Verrat, Mord und so weiter?« Erlaubt und obligatorisch sind jene Mittel, und nur jene Mittel, so antworten wir, die das revolutionäre Proletariat einen, seine Herzen mit unversöhnlicher Feindschaft gegen die Unterdrückung erfüllen, die es lehren, die offizielle Moral und ihre demokratischen Nachbeter zu verachten, es mit dem Bewusstsein seiner eigenen historischen Mission erfüllen, seinen Mut und seinen Opfergeist im Kampf heben. Eben daraus ergibt sich, dass nicht alle Mittel erlaubt sind. Wenn wir sagen, das Ziel heiligt die Mittel, so ergibt sich für uns daraus die Schlussfolgerung, dass das grosse revolutionäre Ziel solche niedrigen Mittel und Wege verwirft, die einen Teil des Proletariats gegen andere Teile aufhetzen, oder die Arbeiter ohne ihr eigenes Zutun glücklich machen wollen, oder das Selbstvertrauen der Massen und den Glauben an ihre Organisation senken und durch den Führerkult ersetzen. In erster Linie und absolut unversöhnlich verwirft die revolutionäre Moral Knechtseligkeit gegenüber der Bourgeoisie und Hochmut gegenüber den Arbeitern, d. h. jene Eigenschaften, mit denen die kleinbürgerlichen Pedanten und Moralisten durch und durch getränkt sind.

Diese Kriterien geben natürlich keine fix und fertige Antwort auf die Frage, was in jedem einzelnen Fall erlaubt ist und was nicht. Solche automatischen Antworten kann es auch gar nicht geben. Die Probleme der revolutionären Moral sind mit den Problemen der revolutionären Strategie und Taktik verbunden. Die korrekte Antwort auf diese Frage gibt die lebendige Erfahrung der Bewegung im Licht der Theorie.

Der dialektische Materialist kennt keinen Dualismus zwischen Ziel und Mittel. Das Ziel ergibt sich naturnotwendig aus dem historischen Prozess. Die Mittel sind dem Ziel organisch untergeordnet. Das unmittelbare Ziel wird zum Mittel für ein entfernteres Ziel. In seinem Drama »Franz von Sickingen« legt Ferdinand Lassalle einem der Heiden folgende Worte in den Mund:
»Das Ziel nicht zeige, zeige auch den Weg.
Denn so verwachsen ist hienieden Weg und Ziel,
Dass eines sich stets ändert mit dem andern
Und andrer Weg auch andres Ziel erzeugt.«

Lassalles Verse sind keineswegs vollkommen. Schlimmer noch ist die Tatsache, dass Lassalle selbst in der praktischen Politik von oben ausgedrückter Regel abwich – es genügt, daran zu erinnern, dass er sich selbst auf geheime Abmachungen mit Bismarck einliess! Aber die dialektische Wechselbeziehung zwischen Mittel und Ziel ist in oben zitierten Sätzen ganz richtig zum Ausdruck gebracht. Man muss Weizensamen säen, um Weizenähren zu ernten.

Ist zum Beispiel vom Standpunkt der »reinen Moral« individueller Terror erlaubt oder verboten? In dieser abstrakten Form existiert die Frage für uns überhaupt nicht. Die konservativen Schweizer Bürger bezeugen noch heute dem Terroristen Wilhelm Tell ihr offizielles Lob. Unsere Sympathien sind voll und ganz auf der Seite der irischen, russischen, polnischen und indischen Nationalisten in ihrem Kampf gegen nationale und politische Unterdrückung. Der ermordete Kirow, ein roher Satrap, erweckt keinerlei Sympathie. Unsere Beziehung zum Mörder bleibt nur deshalb neutral, weil wir die Motive, die ihn leiteten, nicht kennen. Wenn bekannt werden würde, dass Nikolajew bewusst für die von Kirow begangene Schändung der Arbeiterrechte Vergeltung übte, wären unsere Sympathien völlig auf Seiten des Mörders. Jedoch ist nicht die Frage der subjektiven Motive, sondern die der objektiven Zweckmässigkeit für uns entscheidend. Führt das gegebene Mittel wirklich zum Ziel? Was den individuellen Terror betrifft, bezeugen sowohl Theorie wie Erfahrung, dass dies nicht der Fall ist. Dem Terroristen sagen wir: es ist unmöglich, die Massen zu ersetzen, nur in der Massenbewegung kannst du für deinen Heroismus einen zweckmässigen Ausdruck finden. Unter den Bedingungen des Bürgerkriegs hört jedoch die Ermordung individueller Unterdrücker auf, ein Akt individuellen Terrors zu sein. Nehmen wir einmal an, ein Revolutionär würde General Franco und seinen Stab in die Luft sprengen, so würde dies selbst von Seiten der demokratischen Eunuchen wohl kaum moralische Entrüstung hervorrufen. Unter den Bedingungen des Bürgerkriegs wäre ein solcher Akt politisch vollkommen zweckmässig. So erweisen sich selbst in der schärfsten Frage – dem Mord des Menschen durch den Menschen – die moralischen Absoluta als untauglich. Die moralischen Wertungen ergeben sich zusammen mit den politischen aus den inneren Notwendigkeiten des Kampfes.

Die Befreiung der Arbeiter kann nur das Werk der Arbeiter selbst sein. Deshalb gibt es kein grösseres Verbrechen, als die Massen zu täuschen, Niederlagen für Siege und Freunde für Feinde auszugeben, Arbeiterführer zu bestechen, Legenden zu fabrizieren, falsche Prozesse zu montieren, in einem Wort: zu tun, was die Stalinisten tun. Diese Mittel können nur einem Ziel dienen: die Herrschaft einer Clique zu verlängern, die von der Geschichte bereits verurteilt ist. Aber sie können nicht dazu dienen, die Massen zu befreien. Deshalb führt die Vierte Internationale gegen Stalin Kampf auf Leben und Tod[10].

Die Massen sind natürlich keineswegs unfehlbar. Idealisierung der Massen liegt uns fern. Wir haben sie unter verschiedenen Bedingungen, in verschiedenen Epochen und ausserdem in den schwersten politischen Erschütterungen gesehen. Wir haben ihre starken und schwachen Seiten kennen gelernt. Ihre starken Seiten: Entschlossenheit, Opfergeist, Heroismus, haben immer in Zeiten revolutionären Aufschwungs ihren klarsten Ausdruck gefunden. In dieser Periode standen die Bolschewiken an der Spitze der Massen. Danach begann ein anderes Kapitel der Geschichte, das die schwachen Seiten der Unterdrückten an die Oberfläche spülte: Ungleichartigkeit, Mangel an Kultur, ein zu beschränkter Gesichtskreis. Die Massen erschlafften nach der Spannung, wurden enttäuscht, verloren ihr Selbstvertrauen – und machten der neuen Aristokratie den Weg frei. In dieser Epoche fanden sich die Bolschewiken (»Trotzkisten«) von den Massen isoliert. Wir haben praktisch zwei solch grosse historische Zyklen erlebt: 1897–1905, Jahre der Flut; 1907–1913 Jahre der Ebbe; 1917–1923, die Periode eines in der Geschichte beispiellosen Aufschwungs, schliesslich eine neue Periode der Reaktion, die heute noch nicht zu Ende ist. In diesen gewaltigen Ereignissen lernten die »Trotzkisten« den Rhythmus der Geschichte, d. h. die Dialektik des Klassenkampfes. Sie lernten auch, und, wie es scheint, bis zu einem gewissen Grade mit Erfolg, wie sie ihre subjektiven Pläne und Programme diesem objektiven Rhythmus unterzuordnen haben. Sie lernten, nicht an der Tatsache zu verzweifeln, dass die Gesetze der Geschichte weder von ihrem persönlichen Geschmack abhängen, noch ihren Moralkriterien untergeordnet sind. Sie lernten, ihre persönlichen Wünsche den Gesetzen der Geschichte unterzuordnen. Sie lernten, sich auch von den mächtigsten Feinden nicht schrecken zu lassen, wenn deren Macht im Widerspruch zu den Gesetzen der historischen Entwicklung steht. Sie verstehen es, gegen den Strom zu schwimmen in der tiefen Gewissheit, dass die neue historische Flut sie an das andere Ufer tragen wird. Nicht alle werden dieses Ufer erreichen, viele werden ertrinken. Aber an dieser Bewegung mit offenen Augen und angespanntem Willen teilnehmen – nur das kann einem denkenden Wesen die höchste moralische Befriedigung gewähren.

Coyoacan D. F. am 16. Februar 1938

Leo D. Trotzki

(Dem Andenken Leo Sedows gewidmet)

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PS: Ich schrieb diese Zeilen in jenen Tagen, als mein Sohn, ohne dass ich davon wusste, mit dem Tode rang. Seinem Angedenken widme ich diese kleine Arbeit, die, so hoffe ich, seine Zustimmung gefunden hätte. Leo Sedow war ein echter Revolutionär und verachtete die Pharisäer. L. T.

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Notes:
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Alle folgenden Anmerkungen sind nicht Bestandteil des Originaltextes sondern stammen aus der redaktionellen Bearbeitung von sinistra.net. [september 2000]

  1. Diese Fragestellung hat sich heute gänzlich erledigt. Die Demokratie ist weder Kampfziel noch Kampfmittel des revolutionären Proletariats. In der modernen industriellen Zweiklassengesellschaft ist sie alleiniges Mittel zur mehr oder weniger versteckten Ausübung der bürgerlichen Diktatur, zur Absicherung der gesellschaftlichen Herrschaft des Kapitals und ist nur noch politisches Kampfmittel der Bourgeoisie, um Klassenkollaboration zu ihren alleinigen Zwecken zu erreichen. Revolutionärer Klassenkampf heisst, jegliche Herrschaftsformen des Kapitals zu überwinden, und nicht die Bourgeoisie um die Einhaltung demokratischer Spielregeln anzubetteln, wie es leider heute die meisten der »Trotzkisten« betreiben. Einer starken, selbständigen Arbeiterklasse gegenüber hat der bürgerliche Demokratismus noch stets sein wahres Gesicht gezeigt. [⤒]

  2. Gerade die Italienische Linke hat nachgewiesen, dass zwar die faschistischen Staaten den 2. Weltkrieg verloren haben, der Faschismus ihn aber gewonnen hat, wenn auch versteckt unter der demokratischen Maske, Faschismus und Demokratie sozusagen zu einem System verschmolzen sind: zur »totalitären Demokratie«, oder, wie es Willy Brandt beschönigend nannte, zur »wehrhaften Demokratie«. [⤒]

  3. Hier hält Trotzki natürlich an seiner falschen Auffassung fest, die damalige Sowjetunion sei ein »degenerierter Arbeiterstaat«, in dem eine ominöse »Bürokratie« die Herrschaft ausüben würde. In Wirklichkeit hatte schon zum damaligen Zeitpunkt die stalinistische Konterrevolution den »Kapitalismus Nr.2« in der Sowjetunion errichtet, dessen Träger mangels individueller Kapitalisten – sie waren durch die Oktoberrevolution aus dem Land gefegt worden – zunächst der Staatsapparat wurde. Vgl. hierzu die zahlreichen Arbeiten unserer Partei, etwa »Der Marxismus und Russland«, »Warum Russland nicht sozialistisch ist« oder auch »Struttura economica e sociale della Russia d’oggi« (»Wirtschafts- und Gesellschaftsstruktur des heutigen Russlands«, 1955–57), eines der Hauptarbeiten zu diesem Thema. [⤒]

  4. siehe dazu die vorherige Anmerkung.[⤒]

  5. Themis war die griechische Göttin der Gerechtigkeit.[⤒]

  6. Auch die »Trotzkisten«, und Trotzki selbst, begriffen nicht, dass der spanische Bürgerkrieg längst nicht die Perspektiven des roten Oktobers in sich trug, sondern der Auftakt zum Zweiten Weltkrieg war. Die Verteidigung der bürgerlichen spanischen Republik gegen die Faschisten versetzte nur der schon völlig durch die Stalinisierung desorganisierten Arbeiterbewegung den Todesstoss und begünstigte die Integration der Überbleibsel der Arbeiterbewegung in die kommenden Kriegsfronten. Die revolutionären Kommunisten blieben dem spanischen Vorkrieg fern, denn eine Teilnahme an ihm bedeutete bereits die Unterordnung der Arbeiter unter eine ihnen fremde Sache (Verteidigung einer bürgerlichen Herrschaftsform gegenüber einer anderen). Vier Mitglieder der sogenannten »Auslandsfraktion« der Italienischen Linken, die sich der trotzkistischen POUM angeschlossen hatten, wurden daraufhin – und nach vergeblichen Versuchen sie davon abzuhalten – aus der Fraktion verstossen. [⤒]

  7. Karl Marx, »Der Bürgerkrieg in Frankreich. Adresse des Generalrats der Internationalen Arbeiterassoziation« (April/Mai 1871), MEW, Band 17, Dietz-Verlag Berlin 1964, S. 359.[⤒]

  8. Trotzki verschweigt hier natürlich, dass es ausserhalb der »Vierten Internationale« noch andere gab, die mindestens ebenso die ganze Wucht der Repression erlitten. Die Italienische Linke hatte eine Beteiligung an der »Vierten Internationale« abgelehnt, da sie dieses Projekt als künstlich und verfrüht ansah. Für unsere Strömung stand eine Bilanz der vergangenen Ereignisse in Russland auf der Tagesordnung. Erst wenn die Revolutionäre verstanden hatten, was wirklich in Russland wie mit der Arbeiterbewegung geschehen war, war an ein Neubeginn und Neuaufbau der Partei zu denken. [⤒]

  9. Lenin, »Der ›linke Radikalismus‹, die Kinderkrankheit im Kommunismus«, Kapitel VI: »Sollen Revolutionäre in den reaktionären Gewerkschaften arbeiten?« in: Lenin, Werke, Bd.31, S.40 heisst der gleiche Passus folgendermassen:
    »Man muss all dem widerstehen können, muss zu jedwedem Opfer entschlossen sein und sogar – wenn es sein muss – alle möglichen Schliche, Listen und illegalen Methoden anwenden, die Wahrheit verschweigen und verheimlichen, nur um in die Gewerkschaften hineinzukommen, in ihnen zu bleiben und in ihnen um jeden Preis kommunistische Arbeit zu leisten.«
    Dem Übersetzer, der Hamburger IKDler Horst Klement – der vermutlich selbst wenig später, im Sommer 1938, ein Opfer der GPU wurde – lag wohl eine andere Fassung des Artikels vor. [⤒]

  10. Trotzkis »Erben«, die modernen »Trotzkisten« treiben es da schon viel bunter. Angesichts des Endes der Ära des »realen Sozialismus« und ihrer eigenen Perspektivlosigkeit schlossen sich einige der sich auf die »Vierte Internationale« berufenden Gruppen gar mit ebenso desorientiert und heimatlos gewordenen stalinistischen Gruppen zusammen.
    Zur ganzen Frage des »Trotzkismus« – dem gegenüber man Trotzki selbst, den Revolutionär, trotz manch falscher Analyse, verteidigen muss – sei auf unsere Artikelserie »Le trotskisme« verwiesen. [⤒]


Source: »Unser Wort«, Halbmonatszeitschrift der IKD, Paris, Oktober 1938

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