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DER MARXISMUS DER STOTTERER


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Der Marxismus der Stotterer
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Auf dem Faden der Zeit

Der Marxismus der Stotterer

Die Entseuchung, der wir 90 % unserer bescheidenen Arbeit widmen, wird noch lange nach uns fortgeführt und erst in ferner Zukunft abgeschlossen werden: sie bekämpft die überall grassierende, allerorts und jederzeit gefährliche Epidemie des Revidierens, des Aktualisierens, des Ergänzens, des Erneuerns.

Es wäre unnütz und sogar schädlich, den bakteriologischen Bombenabwurf zu personalisieren, jemanden – ob nah oder fern – dafür verantwortlich zu machen. Es handelt sich vielmehr darum, das Virus auszumachen und dagegen das Antibiotikum anzuwenden, das in der Kontinuität der Linie, in dem Festhalten an den Prinzipien besteht; es handelt sich darum, zu 99,99 Prozent das starrköpfige Wiederkäuen des Katechismus dem Abenteuer der neuen wissenschaftlichen Entdeckung vorzuziehen – letzteres erfordert Adlerflügel, aber jede Mücke fühlt sich vom Schicksal dazu berufen.

Sollen sich diejenigen, die so eifrig bemüht sind abzuheben, ruhig ärgern, wenn wir sie kalten Blutes auf die bescheidene Höhe zurückholen, die uns zu erreichen heute möglich ist – uns, denen jeglicher Heroismus und jede Romantik verboten ist, die wir uns an die Ironie statt an die Lyrik halten und uns gezwungen sehen, hin und wieder die allzu Ungestümen mit den Worten zurückzurufen:
»Spielt nicht den Phaethon!«[1].

Während also viele der Stein der Weisen reizt, stellen wir sie auf dem Niveau des Einmaleins auf die Probe und prüfen nach, ob sie mit den Fingern rechnen können.

Wehe, wenn die, die sich für – wie man heute sagt – Sprecher der proletarischen Klassenbewegung halten und sich einbilden, die revolutionäre Theorie auszudrücken, nicht den entscheidenden Wendepunkt verdaut haben, an dem unsere Doktrin die herkömmlichen Lehren hinter sich gelassen hat.

Wehe all diesen, aber vor allem den Gruppen, die der äusserste linke Flügel der Bewegung sein und den Kampf gegen deren Degenerierung verkörpern wollen. Tausendundeinmal ist es den Opportunisten und Kollaborateuren allzu leicht gefallen, die »Linke« zu diffamieren, sie des Illusionismus, des Sektierertums, des formalen Radikalismus, des Unverständnisses der marxistischen Dialektik in ihrer Totalität zu bezichtigen.

Die Erwiderung und die Verteidigung der internationalen Linken bestanden und bestehen darin aufzuzeigen, dass die Zurückweisung von Zugeständnissen, Abmachungen und Manövern nicht einem Rückfall in die Mystik und Metaphysik des Kleinkindes geschuldet ist, das gleich den alten religiösen Glauben alle Türen mit dem Schlüssel einer einzigen Antithese zweier gegensätzlicher Prinzipien öffnet: Gut und Böse. Das Gute sei für uns das Proletariat, das Böse der Kapitalismus. Kein anderer Kompass – egal wo oder wann – könne zur Orientierung dienen; der Kapitalismus, das absolute Übel, sei immer ein und derselbe. Alles andere sei Quatsch! Viele Schlachten haben wir geschlagen, um zu zeigen, dass wir die Dinge nicht auf diese Art und Weise beurteilen und dass wir die »Dialektik der lebendigen Geschichte« sehr wohl begriffen haben, indem wir die Falschheit des post-leninistischen Opportunismus entlarvt und mit ausreichender Genauigkeit die Linie seines tatsächlichen Verlaufs von der Orthodoxie zur Abschwörung nachgezeichnet haben.

Wir gehören sicherlich nicht zu denen, die deshalb den Kopf hängen lassen, denn wir wissen, dass sich in jeder grossen geschichtlichen Phase die Termini der Antithesen verändern. Und wenn aufgrund jedes mystischen Glaubens das Gute nur Gutes hervorbringen kann und das Böse nur Böses, weil sonst die ewigen, dem Licht des Geistes innewohnenden Werte in sich zusammenfallen würden, so wird nach unserer Lehre der Kommunismus vom Kapitalismus gezeugt und kann nur durch ihn hervorgebracht werden: trotzdem, oder vielmehr gerade deshalb, muss er bekämpft und niedergeworfen werden. Die historischen Wendepunkte, in denen sich die Positionen radikal verändern, treten als Wirkungen materieller Bedingungen und Verhältnisse ein: der wachsame, idiotische Wille von Menschlein oder Grüppchen, die sich – aus lächerlicher Überzeugung von ihrer eigenen Wichtigkeit – selbst dazu ausersehen haben zu kontrollieren, dass nicht vom richtigen Weg abgebogen wird, kann dies mit Sicherheit nicht verhindern.

Gestern

Das »Kommunistische Manifest« ist in Italien erst spät verbreitet worden. Offensichtlich hatte Friedrich Engels in seinem Vorwort der italienischen Ausgabe vom 1. 2. 1893 die »allgemein verbreitete Ansicht« vor Augen, dass Italien und sein Proletariat spät dran seien. Eine derart hartnäckig verbreitete Meinung, dass sogar ein halbes Jahrhundert später noch die Rede davon war, ein zweites Risorgimento, ein zweites 1848 sei »zu machen«. Und Engels kommt noch einmal auf 1848 zurück, um daran zu erinnern, dass diese zeitgleich mit dem »Manifest« sich ereignende Revolution zwar keine sozialistische war, aber in Europa den Boden für sie vorbereitete.

Wir sind auf diese Epoche zurückgekommen, um zwei grosse Wahrheiten zu verstehen, die auf dem Niveau von 2 + 2 = 4 und 4 + 4 = 8 liegen, die man aber offensichtlich »noch mal üben« muss. Also:
»Das »Manifest« lässt der revolutionären Rolle, die der Kapitalismus in der Vergangenheit gespielt hat, volle Gerechtigkeit widerfahren. Die erste kapitalistische Nation war Italien«[2].

Das müssen wir gut durchkauen. Den Ausgang des feudalen Mittelalters und den Anbruch des modernen kapitalistischen Zeitalters legt Engels in die Zeit, nicht etwa eines Walter Audisios[3], sondern Dantes.

Wir haben schon mehrmals gesagt, dass das »Manifest« eine Apologie der Bourgeoisie ist. Und wir fügten hinzu, dass heute, nach dem II. Weltkrieg und der Involution der russischen Revolution, eine zweite Apologie zu schreiben ist. Nicht den Philosophien der Werte folgend, die in die bürgerliche Ideologie den für diese Klasse und ihre Epoche typischen unerbittlichen Ökonomismus und das Auf-seine-Rechnung-kommen projizieren. Wir haben die Apologie des Angeklagten auszuarbeiten, um zur Schlussfolgerung zu kommen, dass es an der Zeit ist, ihn zum Tode zu verurteilen. Um dies zu beweisen, müssten wir das ganze »Manifest« wiedergeben. Wir beschränken uns darauf, elf Worte ins Gedächtnis zu rufen:
»Die Bourgeoisie hat in der Geschichte eine höchst revolutionäre Rolle gespielt«[4].

Weisen wir auf eine Stelle weiter vorn hin: der wesentliche Grund, weshalb die vorbürgerlichen Produktionsverhältnisse in bestimmter Hinsicht – was die Bedürfnisse der herrschenden Klasse angeht – statisch waren, während die bürgerlichen Produktionsverhältnisse stürmisch-dynamisch sind, liegt darin, dass die engen Kreise der Bedürfnisbefriedigung, der in Produktion/Konsum autarken Inseln, aufgebrochen wurden. Hier eine oft ausgesprochene, alte und immer wieder neue These:
»An die Stelle der alten, durch Landeserzeugnisse befriedigten Bedürfnisse treten neue, welche die Produkte der entferntesten Länder und Klimate zu ihrer Befriedigung erheischen. An die Stelle der alten lokalen« (das sollte buchstabiert werden! L O K A L E N) »und nationalen Selbstgenügsamkeit und Abgeschlossenheit tritt ein allseitiger Verkehr«[5].

Das »Kapital« von Karl Marx (wer vor dem Geruch von Schimmel und Mumien zurückschreckt, soll sich mit neuen grossen Texten behelfen) enthält einen Paragraphen, den vierten des 1. Kapitels, der auf gut zehn Seiten das ganze Werk, den ganzen Stoff zusammenfasst: darunter verstehen wir das ganze geschriebene und nicht geschriebene Werk von Marx und – was die belletristischen Karrieristen verdriessen wird – des noch zu schreibenden. Der Paragraph heisst: »Der Fetischcharakter der Ware und sein Geheimnis«. Um ihn zu verstehen, reicht es aus, ein Arbeiter-Analphabet zu sein. Ein Intellektueller wird dazu mindestens fünfzig Jahre Grundschule brauchen.

Als Tagesordnungspunkt eines Parteitages, worüber sich diejenigen die Schädel zerbrechen, die ihm eine (räusper) »wirklich politische« Grundlage geben wollen, würden wir vorschlagen: Lektüre und Anwendung: 1. Abschnitt, 1. Kapitel, 4. Paragraph.

Marx hatte eine These vor sich, die schon von der klassischen politischen Ökonomie aufgestellt worden war. So bezeichnete er die Schule, die das Wesen der entstehenden kapitalistischen Produktion noch ganz unbefangen untersuchte, ohne dabei irgendeinen Aspekt zu verschleiern -
»im Gegensatz zur Vulgärökonomie, die sich nur innerhalb des scheinbaren Zusammenhangs herumtreibt [und] sich darauf beschränkt, die banalen und selbstgefälligen Vorstellungen der bürgerlichen Produktionsagenten von ihrer eignen besten Welt zu systematisieren, pedantisieren und als ewige Wahrheiten zu proklamieren«[6].

Die vulgäre Schule lebt heute noch fort, ihr sind die grossen Ökonomisten vom Schlage eines Sombart und eines Keynes zuzurechnen. Marx akzeptierte also eine These, eine Entdeckung der klassischen Ökonomie: der Tauschwert einer Ware ist durch die zu ihrer Herstellung notwendigen Arbeitszeit gegeben.

Die proletarische Wissenschaft nimmt diese These nach einer Seite hin an, nach der anderen weist sie nach, dass, wenn dieselbe implizit die unausgesprochene Überzeugung enthält:
»Solange sich die Welt dreht, wird es eine Welt sein, in der die Gegenstände, die die Menschen zur Bedürfnisbefriedigung gebrauchen, Warencharakter haben«,
dass dann diese »wissenschaftliche Wahrheit« zu einer willkürlichen, mystischen Behauptung wird, zu einem Fetisch, d. h. zu einer frommen Lüge, in nichts unterschieden von der, worauf die bürgerliche Wissenschaft angesichts den ihrer Epoche vorhergehenden Ideologien und Glauben herabgrinste (heute grinst sie nicht mehr so vornehm, aber auch das ist erwartet worden).

Folgen wir weiter einigen der eindrucksvollen Marxschen Passagen, nachdem wir unsererseits aus didaktischen Gründen das antizipiert haben, wohin Marx gelangen wollte. Die Gebrauchsgegenstände sind nicht immer Waren gewesen (heute sind es Waren, mit einem Preis und mit einem Tauschwert, der sich aus der in ihnen kristallisierten menschlichen Arbeitszeit ableitet) und werden nicht immer Waren bleiben: die vollständige Analyse der kapitalistischen industriellen Produktionsweise zeigt nicht nur, dass alle die Dinge, die unsere Lebensbedürfnisse befriedigen, nicht zwangsläufig Waren sein müssen (die zu ihrem Preis bzw. Wert bezahlt werden), sondern vor allem, dass sie es von einem bestimmten Moment an nicht mehr sein werden.

Schon aus der Grundschule kennen wir die »politische« (gut so?) Bedeutung jener Aussage, dass nämlich die kapitalistische Produktionsweise nicht ewig ist und mit dem Sieg der Arbeiterklasse zusammenbrechen wird. Sie wird dann zusammengebrochen sein, wenn es keine Waren und Tauschwerte mehr gibt, was heisst: keinen Warenaustausch der Konsumgüter und kein zirkulierendes Geld.

Noch genauer bedeutet diese Aussage: morgen kann es keine Ökonomie geben, die noch Waren produziert, aber nicht kapitalistisch ist. Vor dem Kapitalismus gab es Formen, in denen zum Teil Waren produziert wurden, aber der Kapitalismus ist die letzte Form, in der Waren produziert werden.

Als hartnäckige Gegner der Erneuerer zeigen wir, für diejenigen, die lesen können, dass es schon »geschrieben steht«.

Nehmen wir an, ich habe eine Kerze und brauche Licht. Ich zünde sie also an: in einigen Stunden ist sie verbraucht. Bis hierher gibt es nichts Geheimnisvolles, weder was die Kerze, noch was das Licht betrifft.
»Der mystische Charakter der Ware entspringt also nicht aus ihrem Gebrauchswert« (der Eigenschaft der Kerze, Licht zu spenden). »Er entspringt ebensowenig aus dem Inhalt der Wertbestimmungen« (soundsoviel Gramm Stearin)[7].

Woher also, fragt Marx, entspringt der rätselhafte Charakter, den der Konsumgegenstand hat, sobald er Warenform annimmt. Offensichtlich aus dieser Form selbst. Haltet nicht für banal, was tiefsinnig ist!

Die Wertform, also das sich festsetzende Verhältnis zwischen der Kerze und den, sagen wir, 50 Lire, die wir dafür zahlen, ist kein Verhältnis zwischen Dingen: eins zwischen dem Stearin und dem dreckigen republikanischen Papierschein; die Wertform verbirgt ein gesellschaftliches Verhältnis zwischen den an der Produktion beteiligten Menschen. Das Geldverhältnis in der Warenproduktion scheint ein einfacher Weg zu sein, die Kerze, die ich verbrauche, gegen z. B. Streichhölzer, die ich produziere, auszutauschen: es scheint ein Verhältnis zwischen Produkten zu sein. In Wirklichkeit ist es eins zwischen Produzenten, ein gesellschaftliches Verhältnis; noch genauer: eins zwischen gesellschaftlichen Klassen. Hier enthüllt Marx das Geheimnis des »Warenfetischs«.
»Das Geheimnisvolle der Warenform besteht also einfach darin, dass sie den Menschen die gesellschaftlichen Charaktere ihrer eignen Arbeit als gegenständliche Charaktere der Arbeitsprodukte selbst, als gesellschaftliche Natureigenschaften dieser Dinge zurückspiegelt« (doch sie sind es nicht), »daher auch das« (täuschende!) »gesellschaftliche Verhältnis der Produzenten zur Gesamtarbeit als ein ausser ihnen existierendes gesellschaftliches Verhältnis von Gegenständen. Durch dies Quidproquo werden die Arbeitsprodukte Waren, sinnlich übersinnliche oder gesellschaftliche Dinge«[8].

Marx will dieses »Kunststück« genauer erklären, aufgrund dessen die harmlose Kerze (im Unterschied zum Reisig, den der primitive Mensch in seiner Höhle durch Reibung zum Brennen brachte) einen Tauschwert annimmt und Ausdruck des Ausbeutungsverhältnisses zwischen dem Besitzer der Kerzenfabrik und seinen Arbeitern wird.

Er zieht einen Vergleich zum Lichteindruck eines Dinges auf die Netzhaut, der uns als Gegenstand ausserhalb des Auges, das ihn sieht, erscheint. Aber das vom Gegenstand auf das Auge geworfene Licht und der Lichteindruck auf den Sehnerv sind physische Realitäten, während die Wertform mit einer physischen Natur absolut nichts zu schaffen hat. Weder besteht sie im Stearin, noch im Licht, noch im Reiz meines optischen Nervs.
»Es ist nur das bestimmte gesellschaftliche Verhältnis der Menschen selbst – welches hier für sie die phantasmagorische Form eines Verhältnisses von Dingen annimmt«.

Um für dieses Phänomen eine Analogie zu finden,
»müssen wir in die Nebelregion der religiösen Welt flüchten«.
Wie in der Mystik
»scheinen die Produkte des menschlichen Kopfes mit eignem Leben begabte, untereinander und mit den Menschen in Verhältnis stehende selbständige Gestalten. So in der Warenwelt die Produkte der menschlichen Hand. Dies nenne ich den Fetischismus, der den Arbeitsprodukten anklebt, sobald sie als Waren produziert werden und der daher von der Warenproduktion unzertrennlich ist«[9].

Marx, nicht Literat, sondern Kämpfer, sieht bei jeder Zeile, die er schreibt, den Klassengegner vor sich. Er ist kein »Denker« und er monologisiert nicht, sondern dialogisiert mit seinem Feind. Ihr, Theoretiker der Bourgeoisie, habt geglaubt, die letzte Entwicklungsstufe erklommen zu haben, indem ihr die Fetische des Glaubens in die Göttlichkeit (die die Autorität jener Klasse rechtfertigten, an deren Stelle ihr getreten seid) aus den Köpfen der Menschen verscheucht habt. Ihr habt einen neuen und viel traurigeren Fetisch errichtet, und wir werden ihn seinerseits von euren Altären – den »comptoirs«[10]stossen, aus euren Tempeln – den Börsen – jagen.
»Es ist aber ebendiese fertige Form – die Geldform – der Warenwelt, welche den gesellschaftlichen Charakter der Privatarbeiten und daher die gesellschaftlichen Verhältnisse der Privatarbeiter sachlich verschleiert, statt sie zu offenbaren. (…) Derartige Formen bilden eben die Kategorien« (Grundbegriffe) »der bürgerlichen Ökonomie. Es sind gesellschaftlich gültige, also objektive Gedankenformen für die Produktionsverhältnisse dieser historisch bestimmten gesellschaftlichen Produktionsweise, der Warenproduktion«[11].

Sobald wir uns auf andere, nicht-warenproduzierenden Formen beziehen, verschwindet jeder Mystizismus.

Wir haben von Marx verlangt, uns den Übergangscharakter der Warenproduktion zu beweisen und uns die daran anknüpfende These zu bestätigen: die warenproduzierenden Formen traten in einer bestimmten historischen Etappe auf und erst wenn sie verschwunden sind, werden wir uns in der kommunistischen Etappe befinden. Mit einem Flügelschlag trägt Marx uns von Robinson Crusoe zur morgigen Gesellschaft. Es ist unsere übliche und klassische Methode: auf Grundlage der unzweifelhaften Tatsachen der Vergangenheit wird die Analyse der zukünftigen Entwicklung ausgearbeitet. Die blind Lesenden, die sagen, Marx habe sich an die zaghaft vorgehende Wissenschaft der kontemporären Tatsachen gehalten und den Kapitalismus seiner Zeit nur »photographiert« (ergo weiss wohl jeder kleine Dummkopf im Jahre 1952 mehr darüber), sollten sich lieber ihre triefenden Augen auswischen, dann sähen sie den verwirklichten Kommunismus auf Seite 90:
»Da die politische Ökonomie Robinsonaden liebt«,
fangen wir hier an, sagt Marx. Er, Robinson, hat
»verschiedenartige Bedürfnisse«
und befriedigt sie mittels der von ihm zusammengestellten Gegenstände: er hat Feder, Tinte, Hauptbuch aus dem Schiffbruch gerettet und macht die Bestandsaufnahme, aber… halten wir inne. Er führt keine doppelte Buchführung, weder bekommt noch zahlt er Geld und um ihn herum sind keinerlei Waren auszumachen.

Marx versetzt uns nun
»von Robinsons lichter Insel in das finstre europäische Mittelalter«[12].

Dieser Hieb gilt euch, Liquidatoren der feudalen Schatten zum Ruhm der neonleuchtenden heutigen Zivilisation. Ihr versteht bloss, dass Licht vom Licht und Dunkel vom Dunkel kommt:
»deum de deo, lumen de lumine«.
Wir erkennen als notwendig an, dass vom Licht des ersten grossherzigen Urkommunismus ohne Waren zum Schatten der feudalen Gesellschaft und zur stinkenden Kloake der bürgerlichen Zivilisation gegangen werden musste, damit sie hinter sich gelassen werden kann. Nichts ist für uns Fetisch, nicht einmal der Hass aufs Kapital.

Nun denn, im Mittelalter gab es noch keine verallgemeinerte Warenproduktion; die Vorrechte der herrschenden Klasse leiteten sich aus der persönlichen – offen durchschaubaren – Arbeitsableistung ab. Die gesellschaftliche Form der Arbeit ist auch ihre Naturalform, ihre Besonderheit, nicht, wie in der Warenproduktion, ihre Allgemeinheit. Versuchen wir, das zu verstehen. Ich stampfe für dich den Saft aus den Trauben, den du, nachdem du dich lang gemacht hast, genüsslich süffelst. Das ist jedenfalls weniger ekelhaft, als im Weinladen das vergiftete kapitalistische Zeug zu kaufen, dessen Gewinnspanne durch Zusatz von Wasser und Zucker maximiert wird.

Klare Verhältnisse also in der Nacht des Mittelalters. Zwar wird es durch die Lüge des Pfaffen beherrscht, aber:
»Der dem Pfaffen zu leistende Zehnten ist klarer als der Segen des Pfaffen«[13].

Der schmutzige Schwindel, das menschliche Sklavendasein als Äquivalenzverhältnis zwischen ausgetauschten Dingen darzustellen, wird erst der nachfolgenden modernen bürgerlichen Epoche angehören.

Kann es denn eine auf die Befriedigung der Grundbedürfnisse gerichtete menschliche Tätigkeit ohne diese moderne Lüge geben, jenseits des Fetisches, der Markt heisst? Marx bejaht dies und gibt das Beispiel in den drei Zeiten: Vergangenheit, Gegenwart, Zukunft.

Vergangenheit: Robinson als abstrakte Figur und bloss zur Analogie gebraucht, interessiert uns überhaupt nicht. Der Mensch ist für uns die Gattung, nicht die Person: dieses seltsame Wesen, allein und unfruchtbar, kennt offensichtlich nur Konsum- und keine Tauschgüter, und da er nicht im Garten Eden weilt (und überdies ohne Eva auskommen muss), verschafft er sich die Gebrauchsgüter durch seine Arbeit. Unser Beispiel für die Vergangenheit sind die urkommunistischen Gemeinwesen: in der Zeit zwischen dem »Manifest« und dem »Kapital« hat die positive archäologische Forschung festgestellt, dass ursprünglich nicht nur bestimmte, sondern alle Völker eine Organisation hatten, die auf der Arbeit aller und niemandes Eigentum beruhte. Das ist die:
»gemeinsame, d. h. unmittelbar vergesellschaftete Arbeit«.
Es ist diese naturwüchsige Form,
»welche uns an der Geschichtsschwelle aller Kulturvölker begegnet«[14].

Gegenwart:
»Ein näherliegendes Beispiel bildet die ländlich patriarchalische Industrie einer Bauernfamilie, die für den eignen Bedarf Korn, Vieh, Garn, Leinwand, Kleidungsstücke usw. produziert. Diese verschiednen Dinge treten der Familie als verschiedne Produkte ihrer Familienarbeit gegenüber, aber nicht sich selbst wechselseitig als Waren. Die verschiednen Arbeiten (…) sind in ihrer Naturalform gesellschaftliche Funktionen, weil Funktionen der Familie, die ihre eigne, naturwüchsige Teilung der Arbeit besitzt so gut wie die Warenproduktion. Geschlechts- und Altersunterschiede, wie die mit dem Wechsel der Jahreszeit wechselnden Naturbedingungen der Arbeit, regeln ihre Verteilung unter die Familie und die Arbeitszeit der einzelnen Familienmitglieder«[15].

Schon oft haben wir darauf hingewiesen, dass diese Inseln autonomer Organisation nicht nur in den rückständigen Kontinenten existieren, in die der Weltmarkt noch nicht eingedrungen ist, sondern auch in den bürgerlichen Ländern: 1914 rühmte sich eine kalabrische Grossgrundbesitzerin, nur fünf Centisimi im Jahr für Nähnadeln auszugeben und nichts anderes zu kaufen. Wären wir keine Dialektiker, würden wir in solchen Inseln unser »Ideal« erblicken. Wir halten es hingegen für nützlich, dass sie so schnell wie möglich – ob in Kalabrien oder Turkmenistan – vom Höllenkreis des Warenkapitals geschluckt werden.

Zukunft:
»Stellen wir uns endlich, zur Abwechslung« (der zur Vermeidung der utopistischen Manier angewandte bescheidene Ton lässt den oberflächlich Lesenden übersehen, dass es sich hier um das Programm der sozialen proletarischen Revolution handelt) »einen Verein freier« (im historischen Sinn bedeutet frei für uns: nicht-lohnabhängig) »Menschen vor, die mit gemeinschaftlichen Produktionsmitteln arbeiten und ihre vielen individuellen Arbeitskräfte selbstbewusst als eine gesellschaftliche Arbeitskraft verausgaben. (…) Das Gesamtprodukt des Vereins ist ein gesellschaftliches Produkt. Ein Teil dieses Produkts dient wieder als Produktionsmittel. Es bleibt gesellschaftlich. Aber ein anderer Teil wird als Lebensmittel von den Vereinsgliedern verzehrt. Es muss daher unter sie verteilt werden« (Achtung! Sucht die Spezifizierung: »zu gleichen Teilen«, ihr werdet sie nicht finden). »Die Art dieser Verteilung wird wechseln mit der besondren Art des gesellschaftlichen Produktionsorganismus selbst und der entsprechenden geschichtlichen Entwicklungshöhe der Produzenten«[16].

Um diesen »Stand der Dinge« (Welchen, oh Zensoren, welchen, oh Zerstreute? Na, den Kommunismus! Den »unmöglichen« Kommunismus!) als Negation der Warenproduktion ganz klar zu machen, zieht Marx den Vergleich zu einer der Verteilungsformen, jener nämlich, in der »der Anteil jedes Produzenten an den Lebensmitteln durch seine Arbeitszeit bestimmt« sei[17]. (Das wäre das untere Stadium des Kommunismus, wie Lenin es anhand der »Kritik des Gothaer Programms« – eine weitere grossartige »Einhämmerung« der Grundthesen – glänzend illustriert:) Eben hier, in der kommunistischen Organisation bleiben »die gesellschaftlichen Beziehungen der Menschen zu ihren Arbeiten und ihren Arbeitsprodukten durchsichtig einfach in der Produktion sowohl als in der Distribution«[18].

Im Schlussteil des Kapitels streift Marx die Ideologien, in denen sich die drei Epochen widerspiegeln: Vorwarenwirtschaft – Warenwirtschaft – nicht-warenproduzierende oder sozialistische Organisation.

Dem ersten, auf Despotismus und Sklaverei gegründeten, barbarischen und halbbarbarischen Stadium gehören die alten Natur- und Volksreligionen an.

Die Gesellschaft des universellen Marktes findet die ihr entsprechende Religionsform im Christentum, namentlich in seiner bürgerlichen Entwicklung mit der Reformation.

Erst im dritten kommunistischen Stadium wird das gesellschaftliche Leben den seine Gestalt verbergenden mystischen Nebelschleier zerreissen. Wie wir an anderer Stelle zitierten, gibt es ein Aber:
»Dazu ist jedoch eine materielle Grundlage der Gesellschaft erheischt oder eine Reihe materieller Existenzbedingungen, welche selbst wieder das naturwüchsige Produkt einer langen und qualvollen Entwicklungsgeschichte sind«[19].

Marx endet, indem er das (mit den abergläubischen Märchen auf einer Stufe stehende) »Bewusstsein von sich selbst« der bürgerlichen Epoche dem Spott preisgibt.

Er zitiert Bailey, wir könnten Einaudi[20] anführen. Der kapitalistische Gelehrte spricht so:
»›Wert‹ (Tauschwert) ›ist Eigenschaft der Dinge, Reichtum‹ (Gebrauchswert) ›des Menschen‹«[21].

So kann er wissenschaftlich folgern, dass es in eterno Waren geben wird und dass es in eterno Reiche geben wird (in der allerdümmsten Version: alle Menschen werden reich sein).

Wir, die wir mit der Revolution die Waren ebenso wie die Reichen ausmerzen werden, begnügen uns einstweilen damit, diesen angeblichen Gelehrten zu zeigen, dass es im Gegenteil die Dinge sind, die die Eigenschaft haben, für den Menschen nützlich zu sein, und dass es nur die Menschen und ihre jetzigen Beziehungen sind, die Warencharakter tragen, so dass der Tauschwert ein Attribut der Menschen ausdrückt, nämlich Ausbeuter oder Ausgebeuteter zu sein.

Je mehr die Konsultation der offiziellen Wissenschaft in Mode kommt, je mehr diese zum Schluss kommt, dass die kapitalistischen Verhältnisse unersetzlich und »naturgegeben« sind, desto mehr betrachten wir sie als vollständige Verarschung. Die Wissenschaft ist vom gleichen Kaliber wie die Idiotie, die Shakespeares »vis comica«[22] der possenhaften Figur des Dogberry in den Mund legte:
»Ein gut aussehender Mann zu sein ist eine Gabe der Umstände, aber lesen und schreiben zu können kommt von Natur«[23].

Heute

Während die Sache so einfach ist (aber das Einfache lässt sich schwer aneignen und das Komplexe ist in Reichweite des nächstbesten Kultur-Trödelladens), gibt es dann solche, die sagen, eine »neue Formel« sei vonnöten. Wozu? Um Russland zu erklären und die in Verlegenheit geratene marxistische Konstruktion, denn in Russland befinden sich die Produktionsmittel nicht mehr in Privateigentum, und doch unterscheidet sich der dortige Kapitalismus mittlerweile um keinen Deut vom westlichen! Die ganze internationale stalinistische Bande tut mit lauter Stimme kund, in Russland existiere der vollständige Sozialismus. Die nicht minder grosse kapitalistische Bande erklärt dasselbe, nämlich dass es dort Kommunismus gebe, denn der sei nichts anderes als die staatliche und zentrale Diktatur über alle Güter und alle Menschen (worüber man sich in dieser ach so »freien Welt« entsetzt).

Ihr, die ihr neue Formeln sucht, kommt ruhig näher und guckt euch die alten Formeln an. Ich fürchte, statt euch das Portal zu einem höheren Forschungsinstitut zu öffnen, wird es besser sein, euch in die »Klasse der Esel« zurückzuversetzen.

Es mag schon sein, dass Demosthenes[24] der grösste Redner wurde, indem er das angeborene Stottern durch das Hin- und Herrollen kleiner Steinchen im Mund überwand; aber wir warnen nachdrücklich vor den »cacagli« des Marxismus. Ihr versteht, dass »cacagli« im süditalienischen Dialekt Stotterer bedeutet. Der Gebrauch des Dialekts ist skandalös? Vielleicht für Stalin, der leugnet, dass die Nationalsprache ein vergängliches Klassenprodukt ist[25]. Indes ist der Dialekt den Denkäusserungen der beherrschten Klasse zuweilen näher. Dante förderte die Revolution, insofern die Bourgeoisie dem Latein der Prälaten und Gutsherrn das Vulgär-Toskanische entgegensetzte. In Russland lispelten die Aristokraten französisch und die proletarischen Revolutionäre diskutierten auf deutsch: der keiner der beiden Sprachen mächtige Stalin bringt durch seine Verherrlichung und Überbetonung der nationalen Sprache dieses Merkmal der Herausbildung der bürgerlichen Macht sehr gut zum Ausdruck.

Aber wenn ihr Angst habt, für »terroni«[26] gehalten zu werden, erinnert euch daran, dass Stenterello eine florentinische Gestalt ist[27]. So im Arno erfrischt, kehren wir an die Moskwa zurück.

Man braucht nicht zu zögern, Russland in eines der drei Stadien einzuordnen: Vorwarenproduktion, Warenproduktion oder Sozialismus. Zu Engels Zeit war das 1. Stadium nicht nur in den asiatischen Herrschaftsverhältnissen, sondern auch im Mir, dem ländlichen Gemeinwesen des europäischen Russlands, augenscheinlich. Ist es möglich, diesen primitiven, aus »abgeschotteten Inseln« bestehenden Kommunismus mit dem Kommunismus der gesamten, modern ausgerüsteten Gesellschaft zu verschweissen? Engels, der grosse und weise Diplomat der Revolution, erinnert in der Vorrede zur russischen Ausgabe des »Manifest« an das, was Marx 1882 gesagt hatte: vielleicht könne das russische Gemeineigentum am Boden zum Ausgangspunkt einer höheren sozialen Entwicklung werden, wenn die russische antifeudale Revolution das Signal für eine proletarische Revolution im Westen gebe[28]. Da es nicht so gekommen ist, oder das Signal nicht ausgereicht hat, musste Russland das Stadium der Warenproduktion durchlaufen – und durchläuft es. Der Zusammenbruch des zaristischen, feudalen Gerüstes hat jedenfalls dieses Ergebnis bewirkt: alle abgeschotteten Inseln im östlichen Europa und in Asien mittels einer beschleunigten Industrialisierung dieses zurückgebliebenen Gebietes mit der Welle der Warenproduktion fortzureissen.

Ein revolutionäres Ergebnis. Marx und Engels haben immer gedacht, dass ein zweites, nicht mehr bürgerliches, sondern proletarisches »1848« solange nicht siegreich sein könne, wie in Russland eine mächtige feudale Armee besteht. Diese konterrevolutionäre Situation ist seit 1917 beseitigt.

So wie sie denken auch wir, dass der revolutionäre Sieg des europäischen Proletariats die unerlässliche Basis ist, um in Russland die antifeudale in eine proletarische Revolution (die Linie Lenins) hinüberleiten zu können.

In der Situation des Jahres 1952 baut Russland nicht den Sozialismus auf, sondern den Kapitalismus, wie ihn nach 1848 Deutschland, Österreich, Italien aufbauten. England, die USA, Frankreich und andere Industrieländer bauen heute nicht mehr den Kapitalismus im Innern auf, sondern bewahren und verteidigen den Weltkapitalismus. Ihre Staatsmaschinerien arbeiten einzig und allein im konterrevolutionären Sinne. Ihre Artillerie ist einzig und allein gegen die Zukunft gerichtet, und nicht teils gegen die Vergangenheit und teils gegen die Zukunft.

In dieser Textreihe werden wir das Thema der warenproduzierenden Natur der ökonomischen Organisation abschliessen, wobei wir die Auflösung der autarken Inseln im einheitlichen Meer des allgemeinen Handels gründlich behandeln und die geschichtlichen Schlussfolgerungen aus der Tatsache ziehen werden, dass in bestimmten Ländern der Prozess im Gange ist, und auf dem Gebiet anderer Länder »keine ökonomischen Inseln mehr bestehen«. Wir werden zeigen, dass diese Unterscheidung bei Marx zu finden ist, dort, wo er die Geschichte des Übergangs von der parzellierten zur assoziierten Arbeit entwickelt, die die notwendige Grundlage der proletarischen Revolution und der kommunistischen gesellschaftlichen Organisation ist.

Man hat angekündigt, in 2 bis 3 Jahren könne Russland mit anderen Ländern einen Warenaustausch mit einem Jahreswert von 40 Milliarden Rubel erzielen. In Dollar ausgedrückt sind das 10 Milliarden.

Die Propaganda der atlantischen Länder will glauben machen, dies seien nur Märchen: wenn man 40 Milliarden veranschlage, dann bloss, um bei den Wählern in Wolkenkuckucksheim Eindruck zu schinden, damit sie auch ja den »kominformistischen« Bürgermeister wählen.

Wir würden von den westlichen Wirtschaftswissenschaftlern lieber erklärt bekommen, wie denn die nach Moskau gereisten Industriekapitäne allesamt zwar nicht, wie die »Unitá« es romantisch ausdrückt, »Verlobte am Fenster«, aber Verlobte von »Potemkin«[29] sein können, also Leute, die man auf den Arm nehmen kann. Doch wäre es besser, sie würden über andere Phänomene diskutieren, wie z. B. über die stalinistische Entscheidung Trumans, die Eisenhüttenindustrie zu requirieren und die Preise und Löhne staatlich festzusetzen, wobei eine Gewinnspanne von 18 Dollar pro Tonne Stahl besteht – oder über die Gründung einer internationalen Finanzierungsgesellschaft für die Wirtschaftsentwicklung seitens der Kapitalisten, die die Aufgabe hat, sich dem Eingriff der Regierungen in ihre Geschäfte zu widersetzen.

Die heutige Entwicklung des Kapitalismus im Sinne der »Profitplanung« ist nicht nur von der marxistischen Lehre erwartet worden, sondern es wird darin auch ganz deutlich, dass es in dieser Entwicklung keine Spur von Sozialismus gibt, so sehr auch die ihm dialektisch entgegengesetzte bürgerliche Ökonomie eben diese dirigistische Politik für »Sozialismus« halten mag. Vilfredo Pareto[30] z. B. versteht unter Sozialismus nicht das, was wir sagen, also Organisation ohne Markt und Betrieb; statt dessen erkenne man den Sozialismus an den willkürlichen Interventionen moralischer und rechtlicher Faktoren in das natürliche ökonomische Geschehen (während der Marxismus das Gegenteil vertritt, nämlich die Intervention der Ökonomie bei der Gestaltung des moralischen und rechtlichen Werkzeuges!). Jedenfalls ist Pareto konsequent, wenn er sagt:
»Die sozialistischen Systeme« (wie er sie versteht) »unterscheiden sich nicht von den verschiedenen protektionistischen Systemen«.
Letztere stellen, fügt er hinzu, im eigentliche Sinne den Sozialismus der Unternehmer und Kapitalisten dar. Diesen »Sozialismus«, den Pareto vor über einem halben Jahrhundert ausgemacht hat, überlassen wir gerne Truman, genauso wie Stalin. Noch nie war so deutlich wie heutzutage, dass der sowjetische Sozialismus der Sozialismus der Industriekapitäne ist.
»Aber in Russland hat man sie beseitigt!«
Nun, dann holt man sie heute wohl wieder.

40 Milliarden Rubel sind eine Grösse, die das Doppelte der englischen und das Sechsfache der italienischen Importe ausmacht – sie kommt den amerikanischen Importen gleich. Es ist eine Grösse, die der Arbeit von 26 Millionen Arbeitern entspricht, etwa aller oder doch fast aller russischen in die Produktion – nein, nicht abgeschotteter Inseln – hineingerissener Lohnempfänger; eine Grösse also, die sicher dem Arbeitsquantum der gesamten Bevölkerung eines entwickelten Land nahekommt, wobei von einer Einwohnerzahl halb so gross wie die in der UdSSR auszugehen ist. Wenn also auch nur die Hälfte der (nicht durch vor-warenproduzierende oder asiatische Konsumtion absorbierten) Arbeitsmühen dieses Volkes der – in Weltmarktpreisen ausgedrückten – Arbeit in kapitalistischen Ländern gleichkommt, bedarf es keiner weiteren Angaben, um die russische Wirtschaft als kapitalistisch zu kennzeichnen.

Welchen Zweifel kann es darüber geben, dass man im vollentwickelten Stadium der Warenproduktion schwimmt, wenn die ideologische Projektion in einer vollständigen Herrschaft der Volksreligiösität besteht, die von der Staatsmacht gefördert und benutzt wird?

Den Dialog des Tausches zwischen der russischen Ware und dem sie bezahlenden Dollar, und der amerikanischen Ware und dem sie bezahlenden Rubel, müssen wir wohl kaum von seinem »Fetischcharakter« befreien. Die Dinge sprechen nicht, die Waren auch nicht; aber dort, wo Waren produziert werden (die einen nicht anders als die anderen), ist dies Verhältnis in Wirklichkeit das der Ausbeutung des Lohnarbeiters.

Durch nichts wird widerlegt, dass der Tausch heutzutage offenkundig und sinnlich wahrnehmbar in Kraft ist. Während des Krieges, von 1941 – 45, hat der Austausch in verschiedenerlei Formen funktioniert: Waffen und Munition aus dem Westen gegen industrielle und »militärische« Arbeitsanstrengungen des Ostens. Heute entwickeln die jeweiligen Industrien die Kapitalakkumulation entweder in Richtung Aufrüstung für einen imperialistischen Krieg (Truman: die Requirierung der Eisenhütten und die Militarisierung der Streikenden wird mit der »nationalen Sicherheit« begründet), oder in Richtung der gegenseitigen Bedarfsbefriedigung im internationalen Warenaustausch.

Um etwas Neues über Russland zu sagen, nutzt uns das Wissen darüber gar nichts, dass auf Stalins Tisch Kaviar aufgetragen wird und der Arbeiter auf seiner Bank Hirsebrei isst. So was könnte mit einem Kommunismus des unteren Stadiums durchaus vereinbar sein. lm oberen Stadium wird der Kaviar allen gegeben… und der Hirsebrei den durchgefallenen Schülern, die es noch reizt, den Professor zu spielen.

Uns interessiert hier nur die Frage, ob wir für Kaviar und Hirse Rubel in den Taschen und – nach Feststellung des Wechselkurses – Dollars oder Lire haben müssen.

Dies beantwortet, birgt der Fetischcharakter der Hirse oder des Kaviars kein Geheimnis mehr für uns – ebensowenig wie der saudumme Fetischcharakter des »Neuen«.

Notes:
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  1. Phaethon (griech.): Sohn des Sonnengottes Helios. Phaethon bat darum, einen Tag den Sonnenwagen lenken zu dürfen. Da er zu schwach war, die feurigen Sonnenrosse zu zügeln, kam er der Erde zu nahe und steckte sie teilweise in Brand – weshalb ihn Zeus mit einem Blitz erschlug. [⤒]

  2. Engels – Vorwort zur italienischen Ausgabe des »Manifests«, MEW 22, S. 366. [⤒]

  3. W. Audisio: Mitglied der PCI, leitete mit anderen die Exekution Mussolinis. [⤒]

  4. Marx/Engels»Manifest der kommunistischen Partei«, MEW 4, S. 464. [⤒]

  5. Marx/Engels»Manifest der kommunistischen Partei«, MEW 4, S. 466. [⤒]

  6. Marx»Das Kapital«, Bd. I, MEW 23, S. 95. [⤒]

  7. Marx»Das Kapital«, Bd. I, MEW 23, S. 85. [⤒]

  8. Marx»Das Kapital«, Bd. I, MEW 23, S. 86. [⤒]

  9. Marx»Das Kapital«, Bd. I, MEW 23, S. 86/87. [⤒]

  10. comptoirs: eine Anspielung auf die ursprüngliche Bedeutung des Wortes »Bank« (der »lange Tisch des Geldwechslers«). Der »Altar« der Bourgeoisie ist der Tisch, an dem das Geld die Hände wechselt. [⤒]

  11. Marx»Das Kapital«, Bd. I, MEW 23, S. 87. [⤒]

  12. Marx»Das Kapital«, Bd. I, MEW 23, S. 91. [⤒]

  13. Marx»Das Kapital«, Bd. I, MEW 23, S. 91. [⤒]

  14. Marx»Das Kapital«, Bd. I, MEW 23, S. 92. [⤒]

  15. Marx»Das Kapital«, Bd. I, MEW 23, S. 92. [⤒]

  16. Marx»Das Kapital«, Bd. I, MEW 23, S. 92/93. [⤒]

  17. Marx»Das Kapital«, Bd. I, MEW 23, S. 93. [⤒]

  18. Marx»Das Kapital«, Bd. I, MEW 23, S. 93. [⤒]

  19. Marx»Das Kapital«, Bd. I, MEW 23, S. 94. [⤒]

  20. Einaudi: Politiker und Finanzwissenschaftler, 1874 – 1961. [⤒]

  21. Marx»Das Kapital«, Bd. I, MEW 23, S. 97. [⤒]

  22. vis comica: Kraft der Komik. [⤒]

  23. Marx»Das Kapital«, Bd. I, MEW 23, S. 98. [⤒]

  24. Demosthenes: 384 »v. u. Z.« im Kampf gegen Phillippos II. von Makedonien, versuchte Demosthenes, der seinen physisch bedingten Sprachfehler durch Zungen- und Atemgymnastik überwand, die kriegsmüden Athener von der »Notwendigkeit des Kampfes« zu überzeugen. Seine Reden wurden wegen ihrer Leidenschaftlichkeit berühmt. [⤒]

  25. Siehe: »Fattori di razza e nazione nella teoria marxista«; il p.c., Nr. 16–20, 1953 (Stalin e la linguistica). [⤒]

  26. terroni: abfällig für Süditaliener. [⤒]

  27. Stenterello: Figur aus einer florentinischen Komödie. Siehe: »Partirà Stenterello?«; B.c., Nr. 3, 1951. Der Text behandelt die Frage des Defätismus.
    »Die ›Ehre, das Vaterland zu verteidigen‹, war in der Antike eine Klassenehre: nicht der römische Sklave zog in den Krieg, sondern sein Herr. Ebenso wie im Mittelalter nicht der Leibeigene, sondern sein Herr loszog. Der bürgerliche Staat aber lässt nicht die Bourgeoisie in den Krieg ziehen – was ganz nützlich wäre –, sondern als ›Repräsentant des ganzen Volkes‹ schickt er alle Bürger los. Alles hat also seine Richtigkeit. Nur wenn der Staat die heiligen Menschenrechte verletzt, ist es erlaubt, gegen ihn zu kämpfen (wie gegen den Faschismus…), um wieder zu den normalen Rechten und demokratischen Spielregeln zurückzukehren«.
    Diese »Philosophie« wird hier als »Republik des Stenterello« bezeichnet, meint also: legale demokratische Republik. [⤒]

  28. Siehe: MEW 19, S. 295/96 und MEW39, S. 36 ff. [⤒]

  29. Potemkin, der Verlobte Katharinas II. von Russland, liess Dörfer aus Pappmaschee aufbauen, um sie nicht mit den elendigen Bedingungen, in denen die bäuerlichen Massen lebten, zu belästigen. Der Ausdruck »Verlobte am Fenster« bezieht sich darauf, dass Katharina II. ihre Besichtigung vom Zugfenster aus vornahm. [⤒]

  30. Vilfredo Pareto (1848 – 1923), Ökonom, Wohlfahrtstheoretiker. [⤒]


Source: »Battaglia comunista«, № 8, 17. 4. 1952, »Il marxismo dei cacagli«. [Übersetzung: Kollektiv H, Bearbeitung: sinistra.net 2002], (orth. Korr.: sinistra.net 10. 2002)

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