Marxismus und Klassenkampf
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INNENANSICHTEN AUS DER UKRAINE


Content:

Innenansichten aus der Ukraine
Unser Interview mit Genossen der »Arbeiterfront der Ukraine (ML)«
Allgemeine Bedingungen
Stimmung in der Bevölkerung
Arbeitsgesetze
Westliche Unterstützung
Wiederaufbau
Schwierigkeiten kommunistischer Betätigung
Beziehungen zu Gruppen im Ausland
Anmerkungen
Source


Innenansichten aus der Ukraine

Trotz einiger Mängel veröffentlichen wir im Folgenden ein Interview, welches Genossen der italienischen Plattform »Il pungolo rosso« mit Genossen der »Arbeiterfront der Ukraine« (RFU) geführt haben. Im Interview wird leider der Teil der Ukraine ausgeklammert, der zur Zeit von den Streitkräften der Russländischen Föderation besetzt ist – und sogar formell als russländisches Territorium der Föderation einverleibt wurde. Die Innenansicht beschränkt sich also auf das Gebiet, das noch de facto der Selenskyj-Regierung unterstellt ist. Dass es auch dort eine eher tendenziell pro-russisch eingestellte Minderheit gibt, gerade bei denen, die eine gewisse »Sowjetnostalgie« aufweisen, kommt auch nicht zur Sprache. Das mag mehr an den Interviewern als an den Interviewten gelegen haben. Wie dem auch sei, das Stimmungsbild, welches die Genossen geben, trifft wohl auf die Mehrheit der Bevölkerung in den bisher unbesetzten Teilen der Ukraine zu.

Unsere nicht unerheblichen theoretischen Divergenzen zur RFU, die sich als Marxisten-Leninisten verstehen, was also eine gewisse Nähe zur stalinistischen Deformation der revolutionären Theorie ausdrückt – und daher genau betrachtet nur versatzweise marxistisch bzw. leninistisch ist – lassen wir hier beiseite, denn das Wesentlichste in dieser Kriegszeit ist die uns verbindende defätistische Position und die klare Aussage, dass das Proletariat in diesem erneuten imperialistischen Gemetzel keiner Seite den Vorzug gibt sondern sich auf die revolutionäre Überwindung des menschenverachtenden kapitalistischen Systems beiderseits der offenen und kaschierten Fronten – also auch hierzulande – konzentrieren und vorbereiten muss. Es ist klar, dass es sich dabei um eine langfristige Arbeit und Strategie handelt, denn bei den gegenwärtigen Zuständen ist an eine konkrete Verwirklichung einer proletarischen Revolution leider nirgends zu denken.

Auch ist unklar inwieweit die interviewten Genossen für die gesamte Gruppe sprechen oder teilweise ihre individuellen Ansichten wiedergeben. So ist zum Beispiel fraglich, ob der im Interview auftauchende partielle »Rückfall in den Feudalismus« theoretisch begründet oder nur als – schlechtes – Analogon angesprochen wird. Eine irgendwie geartete Rückkehr zum Feudalismus, auch partiell, wird es in der Ukraine nicht geben, sondern nur eventuell »neue« bzw. ungewohnte Formen von kapitalistischen Abhängigkeits- und Ausbeutungsverhältnissen. Aber überlassen wir nun den Genossen das Wort… (Die Zwischenüberschriften und Anmerkungen sind von uns, M&K)

Unser Interview mit Genossen der »Arbeiterfront der Ukraine (ML)«

Einleitung von »Il pungolo rosso«

Vor einigen Wochen haben wir den Genossen der »Arbeiterfront der Ukraine« einige Fragen gestellt, um angesichts des schrecklichen Mangels an verlässlichen Nachrichten »von innen heraus« besser zu verstehen, was in der Ukraine auf sozialer Ebene und in den verschiedenen Gesellschaftsschichten passiert.

Im Folgenden geben wir die Übersetzung ihrer interessanten Antworten wieder, die eine Situation widerspiegeln, in der die Ausrichtung auf die Kriegspropaganda der Selenskyj-Regierung und ein ebenso starkes und unüberlegtes Vertrauen in die US-amerikanische und europäische »Hilfe« immer noch stark vorherrscht, sogar in den verschiedenen Sektoren der Arbeiterklasse – obwohl wir unter den Soldaten und den am meisten unterdrückten Arbeitern kleine Stimmungsschwankungen in eine ganz andere Richtung feststellen können.

Die Analyse der ukrainischen Genossen zeigt dagegen, wie kompliziert und wie wertvoll es ist, so wie sie es tun, eine Position der Anprangerung des antiproletarischen und imperialistischen Charakters des Krieges auch auf ukrainischer Seite aufrechtzuerhalten – in dem Masse, wie die Ukraine von Kiew inzwischen tatsächlich ein Land in Trümmern ist, das vollständig in die Hände der westlichen Grossmächte, ihrer Finanzinstitute und ihres Grosskapitals gefallen ist. Das bringt uns dazu, uns ihnen nahe zu fühlen, und verpflichtet uns, die Konfrontation mit ihnen über die Gegenwart und die Aussichten des gemeinsamen Kampfes fortzusetzen, trotz des unterschiedlichen Urteils über die UdSSR.

In Wirklichkeit läuft der Kampf gegen den russischen Imperialismus ohne ein klares Klassenurteil über die »besonderen Militäroperationen«, die die UdSSR nach dem Zweiten Weltkrieg zum Beispiel in den Ländern Osteuropas (Berlin 1953, Budapest 1956, Prag 1968) durchgeführt hat, Gefahr, unter dem Banner jener Nostalgie für die »sowjetische« Vergangenheit zu stehen, die die ukrainischen Genossen in einigen Sektoren der Arbeiterschaft sehen, anstatt auf der Grundlage einer materialistischen Kritik der gesellschaftlichen Verhältnisse, die den friedlichen Übergang von der UdSSR zum heutigen Russland ermöglicht haben. Was dem sozialistischen Charakter der UdSSR zugeschrieben wird, war in der Tat im Allgemeinen mit dem Entwicklungsstand der kapitalistischen Produktionsweise verbunden und in zweiter Linie mit der Existenz einer geringeren Kluft in der Kapitalkonzentration zwischen der ukrainischen Region und dem Rest des »sowjetischen« Staates.

Trotzdem halten wir die Ausrichtung, den zwischenimperialistischen Charakter des andauernden Krieges auf ukrainischem Boden anzuprangern, die diese Genossen auszeichnet, für bewundernswert, und wir halten sie für eine wertvolle Voraussetzung für eine fruchtbare Auseinandersetzung auch über die bestehenden Unterschiede hinweg. (Red. »Il pungolo rosso«)

Allgemeine Bedingungen

1. Welche Bilanz lässt sich 15 Monate nach Beginn der russischen Invasion über den Krieg in Bezug auf Zerstörung, Tote und Auswanderung ziehen?

Zunächst wollen wir erklären, wie es um die nationale Bourgeoisie bestellt ist, die hier gemeinhin als »die Oligarchen« bezeichnet wird. Trotz eines gewissen Vermögenszuwachses, der bei einigen Vertretern dieser Klasse zu beobachten war, sind ihre Gesamtverluste seit Kriegsbeginn grösser als dieser Zuwachs, der übrigens hauptsächlich aus dem Ausland und nicht aus dem Inland stammt.

Vor dem Hintergrund des Krieges hat der Staat weiterhin unrentable Vermögenswerte verstaatlicht, indem er ihren ehemaligen Eigentümern eine Entschädigung zahlte, die jedoch nicht alle ihre Verluste ausgleichen kann. Aber früher oder später werden diese Vermögenswerte wieder zur Privatisierung zur Verfügung stehen, und höchstwahrscheinlich werden sie nicht an nationale oder lokale Kapitalisten gehen.

Es ist auch erwähnenswert, dass unsere nationalistischen Patrioten behaupten, dass die Nachkriegs-Ukraine ein schnelles Wirtschaftswachstum erleben wird, das mit der Entwicklung des Agrarsektors verbunden ist. Sie nennen es bescheiden nichts weniger als »Agro-Empire«. So könnte der alte Traum des Kaisers und seines berühmten Schülers endlich Wirklichkeit werden. Schliesslich haben sie versucht, die Ukraine in gewisser Weise zu einem Schaf Europas zu machen, das geschoren werden soll. Aber diese Patrioten sagen uns nicht, dass die Entwicklung des Agrarsektors von ausländischen Investitionen von Unternehmen wie Bayer aus Deutschland kommen wird. Und nicht von den jungen Atlanten [?], die von den unabhängigen Landwirten vertreten werden, oder gar von den nationalen Agrarkomplexen, die angesichts der Verringerung der Anbauflächen und der Schwierigkeiten beim Export vor grossen Problemen stehen. Hinzu kommt, dass vor kurzem eine Auktion für ukrainisches Land begonnen hat, das unter Preis verkauft wird, obwohl der Zugang zu der Auktion, zumindest im Moment, ukrainischen Bürgern verwehrt ist. Das wirft die Frage auf: »Wofür kämpfen unsere Landsleute eigentlich? Beschützen sie wirklich die Welt vor dem russischen Imperialismus, indem sie sich auf die Seite von Freiheit und Demokratie stellen?« Schliesslich ist es ganz offensichtlich, dass ausländische Unternehmen von dem Ziel angetrieben werden, Kapital zu exportieren, und ganz sicher nicht von dem Wunsch, den ukrainischen Arbeitnehmer wohlwollende und kostenlose Hilfe zu leisten.

Vor dem Krieg war neben dem Agrarsektor auch die Metallurgie in der Ukraine gut entwickelt. Viele Unternehmen, die die moderne Ukraine seit den Tagen der UdSSR geerbt und in den letzten 30 Jahren des freien Marktes überlebt haben, wurden durch die ständigen Bombardierungen durch die Russische Föderation teilweise oder ganz zerstört. Natürlich ist auch ausländisches Kapital daran interessiert, in diesen Sektor zu investieren; viele Unternehmen wurden einfach aufgelöst und in die EU gebracht. Und das zu Vorzugstarifen, so dass der Staat fast nichts an Steuern erhielt.

Es sollte auch erwähnt werden, dass es auf dem Territorium der Ukraine recht reiche Gasvorkommen gibt, obwohl die notwendigen Voraussetzungen für die Gasförderung und -verarbeitung derzeit nicht gegeben sind. Aber amerikanische und britische Unternehmen wie Shell, Chevron, Exxon Mobil und Halliburton sind an diesen Feldern interessiert. Konflikte zwischen diesen Konzernen und denen des russischen Öl- und Gassektors um das Recht, Ressourcen auf dem Territorium der Ukraine zu fördern, gab es schon lange vor Beginn des Krieges, sogar vor dem sogenannten Maidan (dem Putsch von 2013–2014), der eindeutig dazu beigetragen hat, den Kurs der ukrainischen Bourgeoisie zugunsten des pro-westlichen Kapitals zu ändern. Obwohl Russland seit Beginn des Krieges ziemlich grosse Gebiete im Osten der Ukraine besetzen konnte, die am reichsten an Rohstoffen sind und Schwerindustriekomplexe enthalten, ist dies ein viel kleineres Stück Territorium, als man anfangs erhoffte. Ausserdem ist angesichts des aktuellen militärischen Verlaufs immer noch unklar, ob die russische Armee in der Lage sein wird, die Gebiete, die sie derzeit unter Kontrolle hat, zu halten.

Es ist nicht einmal der Rede wert, wie unsere Regierung zur »Verbesserung des Investitionsklimas« beiträgt, indem sie verschiedene Massnahmen einführt, die ausländischen Unternehmen vereinfachte rechtliche Verfahren und wirtschaftliche Vorteile bieten, die mit Sicherheit auf die Schultern der Arbeitnehmer abgewälzt werden.

Abschliessend ist anzumerken, dass sich die Verluste, die der Ukraine während der Invasion entstanden sind, nach Schätzungen der Weltbank bis zum 27. April 2023 auf 411 Milliarden USD belaufen. Nach der [eventuellen] Befreiung der besetzten Gebiete könnte sich dieser Betrag jedoch verdoppeln. Nach Angaben der Europäischen Bank für Wiederaufbau und Entwicklung müsste die ukrainische Wirtschaft fünf Jahre in Folge um mindestens 14 % wachsen, um die Vorkriegsindikatoren zu erreichen. Wie du dich vielleicht erinnerst, ist dies genau die Zahl, mit der das BIP der UdSSR nach dem Zweiten Weltkrieg gewachsen ist. Obwohl die UdSSR ein riesiger sozialistischer Staat war und obwohl das BIP nicht der beste Indikator ist, um die Effektivität der Wirtschaft eines sozialistischen Staates zu beurteilen.

Nun kurz zu den ukrainischen Flüchtlingen. Nach Angaben der Vereinten Nationen halten sich derzeit etwa 8 Millionen ukrainische Flüchtlinge in Europa auf. Etwa 3 Millionen von ihnen haben die Grenzen von Belarus und Russland überquert. Dabei ist zu berücksichtigen, dass unser Land in den letzten 30 Jahren, seit dem Zusammenbruch der UdSSR, durch den natürlichen Bevölkerungsrückgang etwa 12 Millionen Menschen verloren hat. Zum Zeitpunkt des Kriegsausbruchs lag die Gesamtzahl der Menschen im Land also bei etwa 40 Millionen. Jetzt leben noch etwa 30 Millionen Menschen in der Ukraine, wenn man all diejenigen einbezieht, die während des Krieges ausgewandert und gestorben sind. Nicht nur die Gesamtbevölkerung hat sich quasi doppelt so schnell verringert, auch die Bevölkerung im erwerbsfähigen Alter ist zurückgegangen, und die Ukraine ist mit dem Phänomen der Überalterung konfrontiert.

Stimmung in der Bevölkerung

2. Wie hat sich in diesen 15 Monaten die Stimmung von Arbeitern, Bauern und jungen Menschen gegenüber dem Krieg verändert? Gibt es Anzeichen von Kriegsmüdigkeit oder Anti-Kriegs-Protesten, oder ist die antirussische, nationalistische Stimmung immer noch hegemonial?

Viele Menschen unterstützen den Staat weiterhin in diesem Krieg, allerdings mit unterschiedlichen Beweggründen. Um sie zu verstehen, ist es notwendig, die Veränderungen in der Botschaft der öffentlichen Verlautbarungen während des Krieges nachzuvollziehen.

Zu Beginn des Krieges herrschte Panik, sowohl unter den Beamten und anderen Mitgliedern des Staatsapparats als auch unter den einfachen Bürgern. Viele wussten nicht, wohin sie gehen und was sie erwarten sollten. Doch die [staatliche] Propagandamaschinerie hat sich schnell zusammengerissen, organisierte einen ununterbrochenen Fernsehmarathon und begann, nationalistische und chauvinistische Inhalte in die Bevölkerung zu pumpen, was zusammen mit den Explosionen der Geschosse in ihrer Nähe seine Wirkung zeigte.

Um die Menschen bei der Stange zu halten [gemäss der Regierung], wurden ausserdem die Saboteur-Phobie und die Rekrutierung in die lokale Miliz gut organisiert. Diese zweite Aktion war auch notwendig, um die Stadtgarnisonen zu unterstützen.

Seit dem Sommer [2022], als diese Berichte die Bevölkerung zu ermüden begannen und diese bereits aufgehört hatte, durch die Strassen zu rennen, um Informationen über jede verdächtige Aktion ihrer Nachbarn zu sammeln, begann der Fanfarenzug der zivilisierten und demokratischen Welt, vertreten durch die Vereinigten Staaten und Europa. Mit dieser Unterstützung kam auch die erste Militärhilfe, begleitet von Meldungen über die zweifelhafte Qualität der militärischen Unterstützung durch die »zivilisierte Welt«.

Man muss bedenken, dass wir uns in den letzten 30 Jahren daran gewöhnt haben, dass es genügt, die Korruption zu besiegen, die falschen Beamten und Kapitalisten zu beseitigen und effiziente westliche Geschäftsleute einzuladen, [um es besser zu haben]. Lasst uns unsere Vergangenheit und Gegenwart entkommunisieren, auch die russische Unterdrückung loswerden, und dann wird das Leben gut und angenehm sein.

Vor dem Hintergrund verschiedener Skandale im Zusammenhang mit den oben genannten Themen haben sich nach und nach auch Phänomene wie die Befreiung der Regionen Kiew und Charkow sowie die Rückeroberung von Cherson ereignet. Das hat sicherlich die Hoffnung unserer Landsleute gestärkt, dass dieser Krieg bald zu Ende ist und die Ukraine in ihrem alten Glanz erhalten bleibt.

Es ist eine interessante Tatsache, dass man den Krieg umso mehr unterstützt, je weiter man von der Frontlinie entfernt ist, d. h. je weniger man von der Teilnahme am Krieg bedroht ist.

Auch die älteren unterstützen grösstenteils die pro-ukrainische Position, aber in den letzten 30 Jahren haben sie das Vertrauen in die Handlungen unserer Behörden völlig verloren und sind zu dem Schluss gekommen, dass wir uns nie von der Schuld, die der Krieg auf uns geladen hat, und der Zerstörung, die er verursacht hat, befreien können und dass es ohnehin nicht das Ziel der westlichen Länder ist, die Ukraine wieder so herzustellen, wie sie vor dem Krieg war, sondern ihr die letzten Lebenssäfte auszupressen.

Die Menschen, die zumindest einen Teil ihres bewussten Lebens in der UdSSR verbracht haben, erinnern sich zunehmend an diese Zeit, wenn auch mit einigen Zweifeln. Trotz der erfolgreichen Arbeit unserer Behörden und der Propaganda, die darauf abzielt, Abscheu vor dieser Zeit zu schüren, gibt es in der Bevölkerung Gefühle, kleine Beobachtungen (die eher auf Intuitionen als auf einem nüchternen Verständnis des Kommunismus als Wissenschaft beruhen), die sie zu der Annahme führen, dass in unserem Land etwas nicht stimmt. Und dass die Dinge heute noch falscher sind als zu Zeiten der UdSSR. Zum Beispiel erinnern sich die Menschen trotz all des Blödsinns über Gulags, Hungersnöte und Armut immer noch an die Gleichheit, die es damals gab. Und sie denken, dass die Gleichheit aller Arbeiter vielleicht gar nicht so schlecht war. Doch ihre Zeit ist bereits Vergangenheit, es sind ihre Kinder und Enkelkinder, die sich am politischen Kampf beteiligen müssen. Deshalb richten sich unsere Propaganda- und Schulungsaktivitäten in erster Linie und ganz besonders an junge Menschen.

Was die jungen Leute betrifft, so lassen sich ihre Meinungen vor allem nach ihrem Wohlstand unterscheiden. Wir reden hier nicht von den Kindern der Beamten und der reichsten Leute im Land; es gibt eine kleine Schicht der Arbeiteraristokratie, die aufgrund ihrer Nähe zum Grosskapital dessen Interessen unterstützt und sich um die Kapitalisten schart und dadurch kriegsbefürwortende Stimmungen unterstützt. Es gibt eine Masse von Arbeitnehmern, die der Regierungspropaganda auf den Leim gegangen sind und die Fortsetzung des Krieges bis zum Sieg unterstützen. Dies hängt jedoch grösstenteils von der wirtschaftlichen Basis des Arbeiters selbst ab, denn je höher die Lohntüte und je weniger der Arbeitsplatz vom Staat oder dem Binnenmarkt abhängt, desto mehr wird dieser Arbeiter darauf erpicht sein, das siegreiche Ende dieses Krieges zu sehen, was immer es auch kosten mag, zumindest solange es sein Lebensumfeld nicht direkt beeinträchtigt. Doch die Realität des Krieges öffnet dieser Gruppe von Arbeitnehmern zunehmend die Augen für die wahren Verhältnisse. Die Seeleute befanden sich zum Beispiel in einer Situation, in der sie einfach nicht arbeiten konnten. Eine Zeit lang war es praktisch unmöglich, die Ukraine zu verlassen, das ging nur durch die Bestechung eines Grenzbeamten oder Militärkommissars. Deshalb starteten die Matrosen von Odessa sogar eine Demonstration, die jedoch ziemlich schnell mit dem Eintreffen der Sicherheitsdienste und Militärkommissare beendet wurde. Die Anstifter dieser Demonstration wurden eine Zeit lang inhaftiert; später wurden sie nur gegen Zahlung einer hohen Kaution freigelassen.

Trotz dieser Angriffe auf ihr elementares Recht auf Arbeit halten die Seeleute weiterhin an regierungsfreundlichen Positionen fest. Wir haben versucht, mit den Vertretern der Seeleuteorganisation in Kontakt zu treten, indem wir sie zu einem Interview einluden; zunächst stimmten sie zu, aber dann wurden sie offenbar auf die Positionen unserer Organisation aufmerksam und ignorierten unsere Einladung. Es ist jedoch nicht ganz klar, ob dies aus ideologischen Gründen geschah oder aus Angst, hinter Gittern zu landen. Bedenke, dass wir für die Verbreitung kommunistischer Propaganda mit fünf bis zehn Jahren Gefängnis bestraft werden können.

Auch Arbeitnehmer mit niedrigem Einkommen unterstützen überwiegend die staatliche Politik. Allerdings müssen sie sich viel mehr (als andere) um die Versorgung mit Wohnraum und Lebensmitteln kümmern, wofür sie einen Job brauchen, was angesichts der Arbeitslosigkeit sehr problematisch ist. Deshalb sind sie für unsere Regierung eher willige Mitläufer, was im Prinzip ganz gut für die Regierung ist. In vielerlei Hinsicht ist ihre Situation immer noch nicht so schlimm wie in anderen Ländern, denn während der Sowjetzeit wurde den meisten Familien kostenloser Wohnraum zur Verfügung gestellt (auf Staatskosten).

Jetzt können wir uns denjenigen zuwenden, die ihre Heimat vorübergehend oder dauerhaft verloren haben, den Flüchtlingen. Sie sind in der Regel viel aggressiver gegenüber der Russischen Föderation und sogar gegenüber normalen russischen Bürgern, weil die Feindseligkeiten auf ihrem Land, in ihrer Stadt oder ihrem Dorf stattgefunden haben. Dabei wollen viele von ihnen nicht den Sieg um jeden Preis, sondern nur Frieden auf ihrem eigenen Territorium, damit sie endlich nach Hause zurückkehren können. Denn die Bedingungen für die Binnenflüchtlinge sind sehr beklagenswert. Sie müssen sich meist selbst um Unterkunft, Essen und Arbeit kümmern. Selbst wenn es staatliche Hilfe gibt, ist diese lächerlich unzureichend.

Offensichtlich befindet sich das Klassenbewusstsein des ukrainischen Proletariats in diesem Stadium noch auf einem recht niedrigen Niveau. Die Mehrheit der Arbeiter erkennt weder die Ursachen noch die Folgen dieses Krieges. Sie haben nur die beiden Seiten des Konflikts im Kopf, die gute und die schlechte, und entscheiden sich für eine der beiden Seiten.

Was die Soldaten angeht, muss man sagen, dass es zu Beginn des Krieges eine grosse Anzahl ideologisch motivierter Freiwilliger gab. Vor allem unter denen, die die ATO[1] durchlaufen haben. Im Moment hat dieser ideologische Eifer jedoch etwas nachgelassen, trotz der Bemühungen der politischen Ausbilder an der Front, die nur dazu beitragen, chauvinistischen und nationalistischen Hass zu schüren. Die Abschwächung des anfänglichen ideologischen Eifers ist vor allem auf folgende Faktoren zurückzuführen:
– Grund Nr. 1 ist die schlechte Ausrüstung. Es ist sehr schwierig, mit dem zu kämpfen, was der Staat zur Verfügung stellt. Deshalb sind die Soldaten gezwungen, Spenden für gute Ausrüstung von Familie, Freunden oder Kollegen zu sammeln.
– Grund Nr. 2 ist die grosse Zahl der Rekruten. Das Mobilisierungsverfahren hat jeden getroffen und in vielen Gebieten geschieht es wahllos. In den Städten kann das buchstäblich passieren: Ein Auto kommt an, aus dem Menschen in Militäruniformen aussteigen und mehrere Passanten ins Auto schubsen. Eine solche Haltung führt dazu, dass auch kinderreiche Väter und Menschen, die aus gesundheitlichen Gründen nicht für den Militärdienst vorgesehen sind, in der Frontlinie landen. Und das wirkt sich letztlich nicht nur auf die Kampffähigkeit der Truppe aus, sondern auch auf ihre Moral.
– Grund Nr. 3 ist, dass ein grosser Teil der derzeitigen Soldaten nicht aus ideologischen Gründen, sondern wegen des Geldes in den Krieg gezogen ist. Angesichts der hohen Arbeitslosigkeit wird der Dienst in den ukrainischen Streitkräften viel besser bezahlt als ein Durchschnittsgehalt. Deshalb haben viele Arbeitslose oder Menschen mit geringem Einkommen beschlossen, sich als Soldaten zu versuchen.
– Grund Nr. 4 ist die Unordnung in den hohen Kommandos. Korruption und Unwissenheit über militärische Taktiken kommen auch in der militärischen Führung vor; es ist eine sehr häufige Situation, wenn es Befehle gibt, die politisch motiviert, aber nicht taktisch sind. Es ist klar, dass dies die Soldaten wütend macht. An der Front kommt es immer wieder zu Desertionen, vor allem in den heissesten Gebieten. Kürzlich haben [Soldaten] einen ranghohen Offizier erschossen, der einen Befehl gegeben hatte, der einem Selbstmord gleichkam, und die Information wurde sogar an das Netzwerk weitergegeben. Die Situation ist noch nicht ganz klar, aber solche Situationen könnten in Zukunft auftreten. Je länger der Krieg andauert, desto mehr Fälle von Desertion und Hinrichtung von Offizieren wird es geben.

Aus den oben genannten Gründen sind die Streitkräfte der Ukraine immer noch ideologisch gegen die Russische Föderation eingestellt, aber sie sind auch gegen ihre derzeitige Führung eingestellt. Es ist jedoch wichtig zu verstehen, dass es ihnen nicht um die Machtübergabe an das Volk geht, sondern nur um die Ablösung der falschen Kapitalisten durch die richtigen. Bisher wurde die Frage der Machtübergabe bis zum Ende des Krieges aufgeschoben, aber jetzt können wir mit Sicherheit sagen, dass die Soldaten sich nicht als die Armee von Selenskyj und seiner Regierung sehen, sondern eher eine kleinbürgerliche Haltung einnehmen: Sie schützen »ihr« Land, das in Wirklichkeit nie ihnen gehörte und auch nie gehören wird, solange die Bourgeoisie in der Ukraine an der Macht ist.

Wir möchten auch gesondert über die Bauern sprechen. Ihre Lage hat sich seit der Gründung der bürgerlichen Ukraine, die die Kollektivwirtschaft und damit die meisten sozialen Aufstiegsmöglichkeiten der Dorfbewohner zerstört hat, ziemlich verschlechtert. Vor allem die älteren Menschen blieben in den Dörfern, während die jungen Leute in die Städte gingen, um Geld zu verdienen. Die jungen Leute, die geblieben sind, haben einfach nicht die Möglichkeit, ihre Heimat zu verlassen. Deshalb rekrutieren die Militärkommissare in den Dörfern mit verstärkten Anstrengungen. Die Bauern stellen jedoch keine politische Kraft mehr dar und können diesem Druck nicht allein widerstehen. Und die Botschaft ihrer Dramen hat die Städte noch nicht erreicht.

Arbeitsgesetze

3. Wie wurde das neue Arbeitsgesetz, das Tarifverträge für die meisten ukrainischen Unternehmen aushöhlt, von den Beschäftigten aufgenommen?

Bevor wir diese Frage beantworten, möchten wir einen kurzen Rückblick auf die Offensiven unserer Regierung gegen die Arbeitnehmerrechte seit Beginn des Krieges geben.

Werfen wir zunächst einen Blick auf die Staatseinnahmen, die jedem Arbeitnehmer auf der Tasche liegen werden. Vor dem Krieg war die Haupteinnahmequelle des Staates die Körperschaftssteuer, die sich auf 18–20 % belief. Mit Beginn des Krieges sank dieser Prozentsatz jedoch auf 10 %.

Dann kamen die arbeitnehmerfeindlichen Gesetze. Das erste von ihnen erlaubte die Entlassung von Arbeitnehmern während des Krieges, wenn das Unternehmen durch die Kriegsereignisse geschädigt wurde. Das nächste Gesetz verstärkte die Auswirkungen des ersten und erlaubte es den Chefs, Arbeitnehmer auch in Friedenszeiten zu entlassen, ohne dafür Gründe angeben zu müssen und ohne sich mit der Gewerkschaftsorganisation abzustimmen.

Es ist besonders amüsant zu beobachten, wie unsere Regierung versucht, sich formell von der sowjetischen Vergangenheit und der Vergangenheit, als die Ukraine Teil des russischen Reiches war, zu trennen. Dabei nähert sie sich aber immer mehr dem eigentlichen Wirtschaftsstaat des Reiches an (wir bewegen uns jetzt tatsächlich auf den Feudalismus zu). Man darf nicht vergessen, dass das russische Reich von Produkten mit geringer Wertschöpfung, vor allem von landwirtschaftlichen Erzeugnissen, abhängig war und sich stark auf Massnahmen gegen die Rechte der Arbeitnehmer stützte. Wie das ausgegangen ist, wissen wir alle sehr gut. Aber derzeit ist eine solche Transformation für die Ukraine mehr als nur ein Traum.

Zurück zu den arbeitnehmerfeindlichen Massnahmen. Die Regierung hat auch ein Gesetz zur Kontrolle von Freiberuflern verabschiedet. Diese werden immer abhängiger vom Arbeitgeber und sind damit einer tieferen Proletarisierung ausgesetzt als zuvor.

Kommen wir nun zu den indirekten Massnahmen gegen die Arbeiter in der Ukraine.

Erstens gibt es ein Gesetz, das die Stadtplanung auf das Ministerium und private Unternehmen überträgt. Auf diese Weise wird der Lobbyismus in diesem Bereich praktisch legalisiert.

Zweitens gibt es einen absurden Gesetzentwurf zur Bekämpfung der so genannten »russischen Welt«, der ein Verbot der Verwendung von Werken russischer Autoren und sogar von Werken, die einfach nur auf Russisch geschrieben sind, vorsieht. Es ist klar, dass unsere wissenschaftliche Gemeinschaft ratlos ist, denn viele bahnbrechende Werke aus der Sowjetzeit, die von ukrainischen Autoren oder in Zusammenarbeit mit ihnen entstanden sind, wurden damals nicht ins Ukrainische übersetzt.

Drittens gibt es ein Gesetz, das die Strafen für das Verlassen des Schlachtfeldes verschärft, obwohl noch nicht klar ist, wie genau das funktionieren wird. Aber es bildet immer noch die Voraussetzung für die Anwendung von Terror gegen aufständische Soldaten.

Werfen wir nun einen Blick darauf, wie die Arbeiterbewegung im letzten Jahr auf diese Angriffe des Kapitals reagiert hat.

Am aktivsten waren die staatlich beschäftigten Arbeitnehmer in Sektoren, die durch »natürliche Monopole« gekennzeichnet sind, wie z. B. die Eisenbahn und die städtischen elektrifizierten Verkehrsbetriebe. Die Eisenbahner brachten ihre Unzufriedenheit über die niedrigen Löhne angesichts steigender Unternehmensgewinne zum Ausdruck und drohten mit einem Streik »nach italienischem Vorbild«. Am Ende wurden die Forderungen der Arbeiter erfüllt.

Es gab auch andere Demonstrationen von Arbeitnehmern in Unternehmen unterschiedlicher Bedeutung, die jedoch nicht so erfolgreich endeten. In einigen Fällen gelang es den Beschäftigten, ihre Schulden zurückzuzahlen und wieder arbeiten zu dürfen, während sie in anderen Fällen vom Sicherheitsdienst der Ukraine und Militärkommissaren mit Einberufungsscheinen aufgesucht wurden.

Trotz der aktuellen Situation im Land ist der Klassenkampf nicht verschwunden, sondern zeigt einen wachsenden Trend. Auch wenn dieses Wachstum in absoluten Zahlen unbedeutend ist, ist es nur eine Frage der Zeit, ob die Arbeiter beginnen werden, nicht nur für den Schutz der alten, sondern auch für neue Rechte zu kämpfen. Und je länger der Krieg andauert, desto eher wird dies geschehen.

Unsere Antwort mag einfach klingen: Für die ukrainischen Arbeitnehmer ist die Lage tatsächlich ziemlich schwierig. Nachdem sie ihre Arbeit verloren haben, besteht die einzige Möglichkeit, ihre Familien anständig zu ernähren, darin, den Militärdienst abzuleisten. Und angesichts einer Arbeitslosigkeit von 30 % ist die Reserve, auf die die Armee zurückgreifen kann, immer noch gross. Wir können also sagen, dass die Kapitalisten die Reservearmee der Lohnarbeit in eine echte Armee verwandelt haben. Wie sich das in Zukunft für sie auswirken wird – die Zeit wird es zeigen.

Westliche Unterstützung

4. Was halten Arbeiter, Bauern und junge Menschen von der »Hilfe« der westlichen imperialistischen Mächte? Glauben sie wirklich das Märchen, dass es sich um »selbstlose Hilfe« für die »Freiheit« und »Selbstbestimmung« der Ukraine handelt?

Mit Sicherheit können wir sagen: Ja, sie glauben es. Die von der Staatspropaganda getäuschten Arbeiter glauben wirklich, dass die ukrainische Wirtschaft nach dem Krieg einen Aufschwung erleben wird, der sich mit Sicherheit auf das Leben der einfachen Arbeiter auswirken wird. Natürlich wird es Auswirkungen geben, aber höchstwahrscheinlich nicht die, die viele erwarten.

Die Reaktion auf die Unterstützung der westlichen Länder ist sehr positiv, wenn auch nicht ohne Nuancen, die wir bereits in der Antwort auf die Frage nach der Stimmung in der Bevölkerung während des Krieges erörtert haben.

Um es kurz zu machen: Die meisten Menschen glauben, dass die westlichen Länder der Ukraine trotz aller Kredite auch grosse Investitionen anbieten werden, um ihre Wirtschaft wieder aufzubauen. Sie finden es toll, wenn die Ukraine als »Kornkammer Europas« bezeichnet wird, vor allem, wenn dies nicht nur von staatlichen Kanälen, sondern auch von unabhängigen Quellen berichtet wird. Vor diesem Hintergrund glauben sie wirklich, dass die Ukraine in die EU und die NATO integriert wird und dass diese Integration ihr Leben leichter machen wird.

Wenn wir uns jedoch die Vereinbarungen ansehen, die zwischen unserer Regierung und dem IWF unterzeichnet wurden, wird schnell klar, dass die Motivation der westlichen Länder nicht darin besteht, die »Freiheit« und »Selbstbestimmung« der Ukraine zu unterstützen – ihre Motivation ist vielmehr rein imperialistischer Natur. Aber wenn die Menschen das jetzt, etwa nach dem Ende des Krieges, nicht begreifen, wenn es nicht zum Dritten Weltkrieg kommt, wird unsere jetzige Regierung mit ihrer eigenen politischen Krise fertig werden müssen. Die einzige Frage ist, ob die Menschen noch genug Geduld haben werden, ob die Arbeiter zu ernsthaften Aktionen bereit sind und eine Organisation haben, die sie zum Vormarsch gegen den Imperialismus führt. Denn wie wir sehen können, politisieren, erziehen und bewaffnen die Kapitalisten selbst die arbeitenden Massen, die, wenn sie ihre eigenen Interessen erkennen, dazu aufgerufen sind, die Macht der Kapitalisten zu stürzen.

Wiederaufbau

5. In Italien und Westeuropa wird seit Wochen jeden Tag über den Wiederaufbau der Ukraine gesprochen und es wurden zwischenstaatliche Treffen abgehalten, um sich darauf »vorzubereiten«: Welche Auswirkungen haben diese Nachrichten in der Ukraine?

Was die internationale Hilfe angeht, ist die Situation ziemlich lächerlich. Du musst verstehen, dass Lachen in diesem Fall eher ein Mittel der Selbstverteidigung ist, zumindest für uns; und auch für diejenigen, die verstehen, was wirklich vor sich geht.

Im Moment sind die USA der grösste Sponsor des ukrainischen Widerstands, zumindest was die absoluten Zahlen angeht. Im Sommer läuft ihr Hilfsbudget aus, in dessen Rahmen sie unseren Behörden während des Jahres Geld zur Verfügung gestellt haben; wir haben jedoch keinen Zweifel daran, dass sie das neue Budget genehmigen werden. Es ist für sie von Vorteil, einen langen Krieg zu unterstützen.

Wenn du dir die Hilfe für die Ukraine im Verhältnis zum BIP ansiehst, stehen die baltischen Staaten und Polen an erster Stelle. Diese Länder werden nicht von ihrem Gerechtigkeitsdrang angetrieben, sondern von objektiven wirtschaftlichen Interessen. So horten sie für sich selbst Vorteile bei Exporten und Importen, wie z. B. Rohstoffe, Waren und billige, wenn auch recht gut ausgebildete, Arbeitskräfte.

Wenn wir auf das Geld [internationale Hilfe] zurückkommen, ist das nur ein weiterer Weg für unsere Regierung, sich die Taschen zu füllen. Selbst Geld, das direkt in militärische Ausrüstung oder humanitäre Hilfe fliesst, wird gestohlen und verkauft. Das geschieht sowohl auf lokaler als auch auf regionaler Ebene. Wir sind Zeugen einer Art Korruptionspyramide. Du hast vielleicht schon gehört, dass die ausländischen Partner der Regierung, die diese Hilfe leisten, sehr oft die Einhaltung strenger statistischer Verfahren bei der Berechnung der Hilfe verlangen. Ihre Forderungen sind jedoch nichts weiter als eine Formalität.

Neben militärischer und humanitärer Hilfe sprechen Propagandisten auch gerne von Garantien für den Wiederaufbau nach Kriegsende. Ursprünglich war sogar von einer Art Marshall-plan 2.0 die Rede. Doch nach mehreren erfolglosen Versuchen, bei denen sie zwar viele Millionen, aber sicher nicht die nötigen Milliarden zusammenbekommen haben, haben unsere Behörden das Thema zu den Akten gelegt. Und seit dem Ende des letzten Sommers haben sie versucht, darüber zu schweigen.

Anstelle eines weiteren Marshall-plans kam eine Initiative zum regionalen Wiederaufbau des Landes. Die Grundidee war, dass jedes Geberland die Verantwortung für den Wiederaufbau einer bestimmten der zerstörten Regionen übernehmen sollte. Als diese Initiative ins Leben gerufen wurde, begannen unsere Minister und andere Behörden, die Grenzen der Ukraine noch öfter zu verlassen, um sich mit jemandem zu treffen, der diesem Aufruf folgt. Zu einem bestimmten Zeitpunkt stimmte auch Südafrika nach dem Ende des Krieges einer ähnlichen Aktivität zu. Aber nicht alles ist so rosig, wie es vielleicht scheint. Wir wissen, dass wir in einer imperialistischen Welt leben. Jedes dieser Länder ist bestrebt, die Interessen seiner Grosskonzerne zu fördern. Folglich versprechen sich [die »Geberländer«, die sich zum künftigen Wiederaufbau verpflichten] von solchen Massnahmen viel mehr, als sie im Gegenzug geben.

Wir als Marxisten müssen verstehen, dass selbst im Stadium des Monopolkapitalismus dieselben Monopole nicht in der Lage sind, die Anarchie der Produktion zu überwinden. Daher die Feindseligkeit zwischen den verschiedenen Ländern, schon in dem Stadium, in dem diese Initiative noch weit von der Umsetzung entfernt ist, noch vor der Planungsphase dieses Wiederaufbaus. Deutschland hat sich zum Beispiel kürzlich geweigert, sich an dem Projekt zu beteiligen. Die genauen Gründe sind nicht bekannt, aber offenbar wurden seine Interessen nicht ausreichend berücksichtigt. Wird Deutschland in Zukunft zu diesem Abkommen zurückkehren? Das ist sehr wahrscheinlich, denn es ist einer der einflussreichsten Verbündeten unserer Regierung in diesem Krieg. Und es ist ziemlich vorhersehbar, dass am Ende des Krieges die USA, Grossbritannien und Deutschland die einzigen drei Länder sein werden, die bei diesem Unterfangen übrig bleiben.

Zweifellos arbeitet die staatliche Propagandamaschine in unserem Land recht effektiv. Selbst ein Jahr später gelingt es ihr meist, den Arbeitern nicht nur die Zuversicht auf einen kompromisslosen Sieg zu vermitteln, der erst vollständig sein wird, wenn die ukrainischen Grenzen von 1991 wiederhergestellt sind. Die Menschen glauben auch weiterhin die Geschichten über die kostenlose Unterstützung durch unsere demokratischen Partner. Leider verstehen unsere Landsleute nicht, dass der Preis für diese Unterstützung noch mehr versklavende Ausbeutung und höchstwahrscheinlich die Teilnahme an einem neuen Krieg sein wird. Aber wenn es so weit ist, werden sie nicht nur unter den »gelbblauen« Flaggen paradieren, sondern hinter denen mit den Emblemen von Shell, McDonald’s und Krupp.

Schwierigkeiten kommunistischer Betätigung

6. Du gehörtest zu den wenigen, die sich gegen die Selenskyj-Regierung und den Krieg gestellt haben, weil dieser Krieg gegen die Interessen des russischen und ukrainischen Proletariats gerichtet ist. Wir können uns vorstellen, auf welche Schwierigkeiten du gestossen bist. Willst du darüber sprechen? Hast du den Eindruck, dass du jetzt noch mehr isoliert bist als im Februar letzten Jahres oder im Gegenteil, dass deine Position an Boden gewonnen hat? Bist du von staatlichen Repressionen betroffen?

Ja, wir haben in der Tat eine Anti-Kriegs-Haltung eingenommen, und das nicht nur, weil in diesem Krieg nur einfache Bürger, Arbeiter, Arme und Studenten sterben und leiden, während Mitglieder der sogenannten Elite der Ukraine, die bestimmte finanzielle Vorteile aus dem Krieg ziehen, indem sie damit ihre wirtschaftlichen und politischen Interessen verteidigen, sich selbst retten, indem sie einfache Bürger in den Krieg schicken, die oft gegen ihren Willen getötet werden. Es gibt zahlreiche Geschichten über Zwangsmobilisierungen und das »Einfangen« von Rekruten auf den Strassen der ukrainischen Städte, die eher einer Entführung als einer Rekrutierung ähneln. Bedenke die Intensivierung der nationalistischen Propaganda, die Verstärkung der Tendenzen zur Faschisierung und Militarisierung, sehr gefährliche Auswirkungen des Krieges. Ausserdem sind zahlreiche militärische Formationen (der radikalen Rechten) aufgetaucht, die nicht von den offiziellen Behörden kontrolliert werden, so dass es zu einem Abgleiten in die mittelalterliche Ordnung der feudalen Zersplitterung gekommen ist. All dies bietet ein günstiges Terrain, um die »Schrauben« gegen das Proletariat anzuziehen, und zwar nicht nur auf der Ebene der offiziellen staatlichen und gesetzgeberischen Aktivitäten (siehe die Verschärfung der Arbeitsgesetzgebung, das Verbot von Massendemonstrationen, Streiks usw.), sondern auch auf lokaler Ebene (bewaffnete Einheiten werden mit dem komplizenhaften Schweigen des Staates eingesetzt, um die Arbeiter und die lokale Bevölkerung einzuschüchtern), vor allem in Gebieten, die an die »Frontlinie« grenzen.

Im Allgemeinen versuchen die herrschenden Kreise unter dem Vorwand der »externen Aggression«, ihre Machtposition mit allen ihnen zur Verfügung stehenden Mitteln so weit wie möglich zu festigen. Die russische Aggression hat es ermöglicht, den Informationsraum zu »sterilisieren« und alle oppositionellen Elemente auszuschalten. Dies erschwert uns die Propaganda für linke Ideen und Internationalismus erheblich, da riesige Medienressourcen, die von den Behörden kontrolliert werden und den Oligarchen treu ergeben sind, die Medien rund um die Uhr einer Gehirnwäsche unterziehen und rechte Ansichten propagieren (oft nicht ohne Erfolg).

Was den Druck auf unsere Organisation angeht, so müssen wir seit dem Beginn der aktiven Feindseligkeiten natürlich viel vorsichtiger arbeiten, obwohl dies den Vektor unserer Arbeit nicht beeinflusst und unsere ideologische Position in keiner Weise verändert hat. Tatsache ist, dass die Propaganda für den Kommunismus sowie kommunistische Parteien in der Ukraine seit langem verboten sind. Schon das Tragen eines T-Shirts mit Hammer und Sichel oder eines Porträts von Lenin kann eine Gefängnisstrafe nach sich ziehen. Viele Aktivisten wurden nicht nur von der Polizei verfolgt, sondern auch von rechtsradikalen Kräften unter Druck gesetzt. Die Tätigkeit von linken Organisationen in der Ukraine ist mit enormen Risiken verbunden. Und einige unserer Genossen sind in das Visier der Ordnungskräfte geraten.

Es ist vielleicht erwähnenswert, dass es den staatlichen Druck auf die linke Bewegung nicht nur in der Ukraine gibt: In Russland wiederholen sich alle oben beschriebenen Prozesse mit erstaunlicher Präzision. Der einzige Unterschied ist, dass sich die russischen Behörden in den richtigen Momenten hinter der roten Fahne und den Errungenschaften der UdSSR verstecken und an die Erinnerung und Nostalgie der Menschen appellieren, während auf der anderen Seite totale Kritik und sogar Terror gegen die Aktivisten und Organisationen der wahren Linken ausgeübt wird (in Russland gibt es eine »kommunistische Partei«, die vollkommen loyal zu den Behörden ist – es lohnt sich nicht einmal, über sie zu sprechen). Und solche Aktionen schaden dem Ansehen des Marxismus und Internationalismus im postsowjetischen Raum vielleicht noch mehr.

Beziehungen zu Gruppen im Ausland

7. Habt ihr kooperative Beziehungen zu Gruppen russischer Genossen aufgebaut, die gegen den Krieg Partei ergriffen haben? Und wenn ja, würdest du uns gerne etwas darüber erzählen?

Um ehrlich zu sein, haben wir bei der Auswahl unserer politischen Genossen von Anfang an eine sehr prinzipielle Haltung eingenommen. Unsere Organisation sucht nicht den Kontakt zu linken Kräften oder solchen, die sich selbst als solche positionieren, um des Kontakts willen. Ausserdem gibt es im Informationsraum immer mehr Kräfte, die die Stimmung der Massen ausnutzen und sich hinter linken Paraphrasen verstecken, aber nur nach aussen hin links sind. Tatsächlich haben viele linke Organisationen auf beiden Seiten des Konflikts (und darüber hinaus) mit dem Beginn der so genannten besonderen Militäroperation ihr pseudolinkes Wesen gezeigt, indem sie ihre Regierung unterstützten und die Arbeiter dazu aufriefen, ihre nationale Bourgeoisie in der Krise zu unterstützen, anstatt diese Krise im Kampf gegen sie zu nutzen und ihr Klassenwesen durch eine Antikriegs- und internationalistische Haltung zu entlarven. Einige der linken Meinungsführer haben die Bequemlichkeit staatlicher Unterstützung und Geld dem selbstlosen Kampf für das Glück der Arbeiter vorgezogen.

Das ist eine Schande und eine Schmach, und mit solchen Organisationen und Einzelpersonen sind wir sicher nicht auf demselben Weg.

Was diejenigen angeht, mit denen wir zusammenarbeiten, beschränken wir uns natürlich nicht ausschliesslich auf Russland. Dennoch steht uns die »Russländische Arbeitsfront« am nächsten, und wir arbeiten in verschiedenen Bereichen auch mit den weissrussischen Genossen von »KrasnoBY«, den kasachischen Genossen von »Krasnaja Jurta« und anderen zusammen. Wir tauschen intensiv Informationen aus, teilen unsere Erfahrungen bei der Organisation von marxistischen Kollektiven, Lesegruppen, der Erstellung von Multimedia-Inhalten und pflegen gute persönliche Beziehungen. Generell ist es schwer, sich die kommunistische Bewegung ohne internationale Zusammenarbeit und gegenseitige Unterstützung auf internationaler Ebene vorzustellen, denn dies ist eines ihrer charakteristischen Merkmale. Und wir sind immer offen für Kontakte, nicht nur zwischen russischsprachigen Ländern, sondern auch in Europa, Amerika und generell auf der ganzen Welt.

Anmerkungen:
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  1. ATO = »Anti-Terror-Operation«, so lautete der offizielle Name der »speziellen Militäroperation« der Ukraine gegen die aufständische eigene Bevölkerung in der Ostukraine von 2014 bis 2022. (M&K)[⤒]


Source: »Nostra intervista ai compagni del Fronte dei lavoratori dell’Ucraina (m-l)«, »Il pungolo rosso«, luglio 2023.
Übersetzt aus dem Italienischen von M&K 2023.

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